Zum Tode des marxistischen Historikers Pierre Broué (1926-2005)

Nach einem jahrelangen Kampf gegen den Krebs hat der neunundsiebzigjährige marxistische Historiker Pierre Broué sein letztes Gefecht verloren. Er starb in der ersten Stunde des 27. Juli in Grenoble, Frankreich.

Pierre Broué war nicht nur in Frankreich, sondern auch auf internationaler Ebene anerkannt als einer der besten europäischen Historiker und Biographen der Revolutionen bzw. der Revolutionäre/Revolutionärinnen des 20. Jahrhunderts. Zu seinen Arbeiten gehört eine monumentale Biographie von Trotzki, bei deren Abfassung er sich auch auf die inzwischen geöffneten Archive der Harvard-Universität stützen konnte und eine Geschichte der Komintern. Er schrieb zwei Bücher über die Spanische Revolution usw. Von speziellem Interesse für deutschsprachige Leser und Leserinnen ist eine umfangreiche Geschichte der Deutsche Revolution 1918-1923. Dieses hochinteressante Werk hat bisher leider keinen deutschen Verlag gefunden.

Broué hat auch einen besonderen Beitrag dazu geleistet, daß alte Revolutionäre nicht in Vergessenheit gerieten. Er verfaßte zwei schöne Biographien über Christian Rakovsky, Trotzkis Freund und Kampfgefährten in der Linken Opposition, der im Gulag ermordet wurde, und Leon Sedov, Trotzkis Sohn. Beide Männer haben wichtige Beiträge zur Verteidigung des Marxismus und im Kampf gegen seinen Niedergang in der UdSSR durch Stalins mörderische Bürokratie geliefert.

1978 hat Broué zusammen mit einigen Mitarbeitern das ILT (Institut Léon Trotsky) gegründet. Dieses Institut hat mehr als 70 Nummern seiner Schriftenreihe "Les Cahiers Léon Trotsky" herausgegeben. Diese Hefte enthalten Beiträge zur Geschichte der Linken Opposition in der Sowjetunion sowie in vielen anderen Ländern, Studien über revolutionäre Ereignisse des letzen Jahrhunderts sowie Studien über die Beiträge, die die revolutionären Marxisten und Marxistinnen geliefert haben. Leider hat sich das Institut aus finanziellen Gründe gezwungen gesehen, der Herausgabe dieser Schriftenreihe einzustellen. Dasselbe passierte auch mit der Ausgabe von Trotzkis Gesammelten Werken in französischer Sprache, von der aber doch 27 Bände herausgegeben werden konnten. Damit hat Pierre Broué der Arbeiterklasse und der trotzkistischen Bewegung einen unschätzbaren Dienst erwiesen.

Nebenbei sei angemerkt, daß, leider, die drei wichtigsten sich auf den Trotzkismus berufenden Parteien in Frankreich keinen finanziellen oder materiellen Beitrag zum Projekt des Instituts Léon Trotsky mehr liefern wollten oder konnten.

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Broué den Jugendverband der französischen Kommunistischen Partei verlassen, um sich der trotzkistischen Bewegung anzuschließen. Jahrelang war er neben seiner Berufstätigkeit erst als Lehrer, später als Professor, ein führendes Mitglied der Organisation Communiste Internationaliste, (heute: Parti des Travailleurs), wahrscheinlich bei vielen Lesern besser bekannt als die "Lambertisten". Im Mai 1989 war die Reihe an ihm, aus der OCI ausgeschlossen zu werden.

In den letzten Jahren seines Lebens, seit der Implosion des Stalinismus in der UdSSR und Osteuropa, hatte Broué aufgehört, sich selber als Trotzkist zu bezeichnen. Er begnügte sich damit, sich als Marxist zu sehen, aber ohne seiner eigenen politischen Vergangenheit oder der trotzkistischen Weltbewegung den Rücken zu kehren. Trotz der politischen Fehler, die er in und mit der OCI gemacht hat, trotz anderer Interpretationen und Schlußfolgerungen, die man aus den von ihm analysierten Ereignissen oder von ihm beleuchteten Personen im Einzelnen ziehen kann, kann man seinen enormen Beitrag zur revolutionären Geschichtsschreibung des 20. Jahrhundert sowie zu der der trotzkistischen Weltbewegung nicht hoch genug einschätzen. Es ist zu wünschen, daß seine Arbeiten weiter publiziert und übersetzt werden.

Es ist zu hoffen daß das ILT nach diesem schweren Verlust seine Arbeiten fortsetzen kann. Seine unsektiererische Haltung und seine Offenheit sollte uns und speziell der neuen Generation junger Revolutionäre und Revolutionärinnen als Beispiel dienen. Heute ist es wichtiger denn je zuvor, alle politische Fragen der Vergangenheit und der Gegenwart zu diskutieren - im Geiste der großen Tradition der marxistischen Bewegung seit ihrer Entstehung.

In diesen schweren Stunden sind unsere Gedanken bei Broués Familie und Freunden, denen wir unseres tiefes Mitgefühl übermitteln.

Marcel Souzain

Brüssel, 31.07.2005