Wählt Bourgeois!

Karl Marx, Friedrich Engels: Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u.a. (vom 17./ 18. September 1879)

Wer bestimmt die Linie der Partei und ihrer Medien? Nach dem Sozialistengesetz von 1878 gründet die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ein neues Organ, das ab September 1879 in der Schweiz erscheint: Der Sozialdemokrat. Redakteur wird Karl Hirsch.

Der sieht sich einer Züricher Kommission unterstellt und wehrt sich. Wilhelm Liebknecht (Leipzig) wiegelt ab. Marx und Engels (London) schaffen mit ihrem Zirkularbrief vom 17./18. September 1879 ideologische Klarheit. Die drei Mitglieder der Züricher Kommission waren Karl Höchberg, Eduard Bernstein und Karl Schramm

Der Zirkularbrief wurde erstmals 1931 in der Zeitschrift "Die Kommunistische Internationale" veröffentlicht. jW bringt einen stark gekürzten Auszug. In Gänze nachzulesen ist die Delikatesse in: MEW, Bd. 19, S. 150-166


Lieber Bebel! (...) Inzwischen ist uns das Höchbergsche "Jahrbuch" zugekommen und enthält einen Artikel: "Rückblicke auf die sozialistische Bewegung in Deutschland", der, wie Höchberg selbst mir gesagt, verfaßt ist grade von den drei Mitgliedern der Züricher Kommission. Hier haben wir ihre authentische Kritik der bisherigen Bewegung und damit ihr authentisches Programm für die Haltung des neuen Organs, soweit diese von ihnen abhängt.

Gleich von vornherein heißt es: (...) Die Lassallesche Partei "zog vor, sich in einseitigster Weise als Arbeiterpartei zu gerieren". Die Herren, die das schreiben, sind selbst Mitglieder einer Partei, die sich in einseitigster Weise als Arbeiterpartei geriert, sie bekleiden jetzt Amt und Würden in ihr. Es liegt hier eine absolute Unverträglichkeit vor. Meinen sie, was sie schreiben, so müssen sie aus der Partei austreten, mindestens Amt und Würden niederlegen. Tun sie es nicht, so gestehn sie damit ein, daß sie ihre amtliche Stellung zu benutzen gedenken, um den proletarischen Charakter der Partei zu bekämpfen. Die Partei also verrät sich selbst, wenn sie sie in Amt und Würden läßt.

Die sozialdemokratische Partei soll also nach Ansicht dieser Herren keine einseitige Arbeiterpartei sein, sondern eine allseitige Partei "aller von wahrer Menschenliebe erfüllten Männer". Vor allem soll sie dies beweisen, indem sie die rohen Proletarierleidenschaften ablegt und sich "zur Bildung eines guten Geschmacks" und "zur Erlernung des guten Tons" (S. 85) unter die Leitung von gebildeten philanthropischen Bourgeois stellt. Dann wird auch das "verlumpte Auftreten" mancher Führer einem wohlehrbaren "bürgerlichen Auftreten" weichen. (...) Dann auch werden sich "zahlreiche Anhänger aus den Kreisen der gebildeten und besitzenden Klassen einfinden. Diese aber müssen erst gewonnen werden, wenn die ... betriebne Agitation greifbare Erfolge erreichen soll".

Der deutsche Sozialismus hat "zuviel Wert auf die Gewinnung der Massen gelegt und dabei versäumt, in den sog. oberen Schichten der Gesellschaft energische (!) Propaganda zu machen". Denn "noch fehlt es der Partei an Männern, welche dieselbe im Reichstag zu vertreten geeignet sind". (...) Wählt also Bourgeois!

Kurz, die Arbeiterklasse aus sich selbst ist unfähig, sich zu befreien. Dazu muß sie unter die Leitung "gebildeter und besitzender" Bourgeois treten, die allein "Gelegenheit und Zeit haben", sich mit dem vertraut zu machen, was den Arbeitern frommt. Und zweitens ist die Bourgeoisie beileibe nicht zu bekämpfen, sondern durch energische Propaganda - zu gewinnen. Wenn man aber die oberen Schichten der Gesellschaft oder nur ihre wohlmeinenden Elemente gewinnen will, so darf man sie beileibe nicht erschrecken. Und da glauben die drei Züricher, eine beruhigende Entdeckung gemacht zu haben: "Die Partei zeigt grade jetzt unter dem Druck des Sozialistengesetzes, daß sie nicht gewillt ist, den Weg der gewaltsamen, blutigen Revolution zu gehn, sondern entschlossen ist, den Weg der Gesetzlichkeit, d.h. der Reform zu beschreiten."

Also, wenn die 500 000 - 600 000 sozialdemokratischen Wähler, 1/10 bis 1/8 der gesamten Wählerschaft, dazu zerstreut über das ganze weite Land, so vernünftig sind, nicht mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, und einer gegen zehn eine "blutige Revolution" zu versuchen, so beweist das, daß sie sich auch für alle Zukunft verbieten, ein gewaltiges auswärtiges Ereignis, eine dadurch hervorgerufene plötzliche revolutionäre Aufwallung, ja einen in daraus entstandner Kollission erfochtnen Sieg des Volks zu benutzen! Wenn Berlin wieder einmal so ungebildet sein sollte, einen 18. März zu machen, so müssen die Sozialdemokraten, statt als "barrikadensüchtige Lumpe" (S. 88) am Kampf teilzunehmen, vielmehr den "Weg der Gesetzlichkeit beschreiten", abwiegeln, die Barrikaden wegräumen und nötigenfalls mit dem herrlichen Kriegsheer gegen die einseitigen, rohen, ungebildeten Massen marschieren. (.)

Es kommt noch besser. "Je ruhiger, sachlicher, überlegter sie" (die Partei) "also in ihrer Kritik der bestehenden Zustände und in ihren Vorschlägen zur Abänderung derselben auftritt, um so weniger kann der jetzt" (bei Einführung des Sozialistengesetzes) gelungene Schachzug wiederholt werden, mit dem die bewußte Reaktion das Bürgertum durch die Furcht vor dem roten Gespenst ins Bockshorn gejagt hat." (S. 88.)

Um der Bourgeoisie die letzte Spur von Angst zu benehmen, soll ihr klar und bündig bewiesen werden, daß das rote Gespenst wirklich nur ein Gespenst ist, nicht existiert. Was aber ist das Geheimnis des roten Gespensts, wenn nicht die Angst der Bourgeoisie vor dem unausbleiblichen Kampf auf Tod und Leben zwischen ihr und dem Proletariat? Die Angst vor der unabwendbaren Entscheidung des modernen Klassenkampfs? Man schaffe den Klassenkampf ab, und die Bourgeoisie und "alle unabhängigen Menschen" werden "sich nicht scheuen, mit den Proletariern Hand in Hand zu gehn"! Und wer dann geprellt, wären eben die Proletarier.

Möge also die Partei durch de- und wehmütiges Auftreten beweisen, daß sie die "Ungehörigkeiten und Ausschreitungen" ein für allemal abgelegt hat, die den Anlaß zum Sozialistengesetz gaben. (...) Und ferner ist die Partei "nicht ganz ohne Schuld an dem Zustandekommen des Oktobergesetzes, denn sie hat den Haß der Bourgeoisie in unnötiger Weise vermehrt".

Da haben Sie das Programm der drei Zensoren von Zürich. Es läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. (...) Die sozialdemokratische Partei soll keine Arbeiterpartei sein, sie soll nicht den Haß der Bourgeoisie oder überhaupt irgend jemandes auf sich laden; sie soll vor allem unter der Bourgeoisie energische Propaganda machen; statt auf weitgehende, die Bourgeois abschreckende und doch in unsrer Generation unerreichbare Ziele Gewicht zu legen, soll sie lieber ihre ganze Kraft und Energie auf diejenigen kleinbürgerlichen Flickreformen verwenden, die der alten Gesellschaftsordnung neue Stützen verleihen (...). Es sind dieselben Leute, die unter dem Schein rastloser Geschäftigkeit nicht nur selbst nichts tun, sondern auch zu hindern suchen, daß überhaupt etwas geschieht als - schwatzen. (...)

Es ist eine im Gang der Entwicklung begründete, unvermeidliche Erscheinung, daß auch Leute aus der bisher herrschenden Klasse sich dem kämpfenden Proletariat anschließen und ihm Bildungselemente zuführen. Das haben wir schon im "Manifest" klar ausgesprochen. Es ist aber hierbei zweierlei zu bemerken:

Erstens müssen diese Leute, um der proletarischen Bewegung zu nutzen, auch wirkliche Bildungselemente mitbringen. Dies ist aber bei der großen Mehrzahl der deutschen bürgerlichen Konvertiten nicht der Fall. (...) Statt dessen Versuche, die sozialistischen oberflächlich angeeigneten Gedanken in Einklang zu bringen mit den verschiedensten theoretischen Standpunkten, die die Herren von der Universität oder sonstwoher mitgebracht und von denen einer noch verworrener war als der andre, dank dem Verwesungsprozeß, in dem sich die Reste der deutschen Philosophie heute befinden. (.)

Zweitens. Wenn solche Leute aus anderen Klassen sich der proletarischen Bewegung anschließen, so ist die erste Forderung, daß sie keine Reste von bürgerlichen, kleinbürgerlichen etc. Vorurteilen mitbringen, sondern sich die proletarische Anschauungsweise unumwunden aneignen. Jene Herren aber, wie nachgewiesen, stecken über und über voll bürgerlicher und kleinbürgerlicher Vorstellungen. In einem so kleinbürgerlichen Land wie Deutschland haben diese Vorstellungen sicher ihre Berechtigung. Aber nur außerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. (...) In einer Arbeiterpartei sind sie ein fälschendes Element. Sind Gründe da, sie vorderhand darin zu dulden, so besteht die Verpflichtung, sie nur zu dulden, ihnen keinen Einfluß auf Parteileitung zu gestatten, sich bewußt zu bleiben, daß der Bruch mit ihnen nur eine Frage der Zeit ist. Diese Zeit scheint übrigens gekommen. Wie die Partei die Verfasser dieses Artikels noch länger in ihrer Mitte dulden kann, erscheint uns unbegreiflich. Gerät aber solchen Leuten gar die Parteileitung mehr oder weniger in die Hand, so wird die Partei einfach entmannt, und mit der proletarischen Schneid ist's am End.