August Thalheimer: Strategie und Taktik der Kommunistischen Internationale.

Was sind Übergangslosungen?

Dieser Teil scheint mir der schwächste des ganzen Entwurfs. Er ist zugleich der wichtigste für diejenigen Sektionen der Kommunistischen Internationale, die noch vor der Aufgabe stehen, die Mehrheit der Arbeiterklasse für die Grundsätze und Ziele des Kommunismus zu gewinnen, also die organisatorischen und ideologischen Vorbedingungen rur den Kampf um die proletarische Diktatur zu schaffen.

Diese Aufgabe steht immer noch vor so wichtigen Sektionen der Kommunistischen Internationale wie der deutschen, französischen, englischen, italienischen, polnischen, tschechoslowakischen usw.

Ich habe hier Sektionen der Kommunistischen Internationale genannt, die bereits Massenparteien sind. Einige Sektionen der Kommunistischen Internationale sind noch nicht einmal auf dieser Stufe angelangt. Es sind noch keine Massenparteien, sondern erst kleine Gruppen, mit kleinem Umkreis, in deren Tätigkeit die Propaganda vorwiegt.

Andere Sektionen mögen noch im allerersten Cirkelstadium sein.

Die Grenzen sind hier natürlich nicht starr, sondern fließend. Trotzdem scheint es uns nützlich, diese Einteilung zu treffen.

In diesem Abschnitt wird die nicht genügende Mitarbeit der nicht-russischen Sektionen an dem Programmentwurf am meisten fühlbar. Die taktischen und strategischen Erfahrungen der einzelnen Sektionen sind viel reicher, vielseitiger, bestimmter, als es in diesem Abschnitt erscheint.

Natürlich kann das Programm der Internationale in diesem Abschnitt keine bloße Nebeneinanderstellung, keine bloße Addition der Erfahrungen der einzelnen Sektionen sein. Es soll die allgemeinen Gesichtspunkte darstellen, die sich aus diesen taktischen Erfahrungen ergeben. Dies entspricht auch dem bekannten Beschluß des IV. Kongresses, an dem Lenin in entscheidender Weise beteiligt war. Es entspricht nebenbei auch der Auffassung, die ich dort vertreten habe. Ich hätte das nicht für der Erwähnung wert gehalten, wenn nicht einige Genossen den Versuch gemacht hätten, die von mir dort (im Auftrag und in Übereinstimmung mit der KPD.) vertretenen Auffassungen zu entstellen. Ein Vergleich mit den Texten der Referate, wie der vom IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale gefaßten Resolution, genügt hier, um die Sache vollkommen klar zu stellen. Wenn nötig, kann das nachgeholt werden. Ich bin augenblicklich nicht im Besitz der nötigen Texte.

Es wäre sicher auch für die Ausarbeitung dieses Abschnittes von Vorteil gewesen, wenn die wichtigsten Sektionen der Komintern den Auftrag erfüllt hätten, den ihnen vor Jahren die Exekutive der Kommunistischen Internationale auftrug: nämlich Aktionsprogramme für ihre Länder aus- zuarbeiten. Soweit mit bekannt ist, liegt ein ausgearbeiteter Entwurf eines Aktionsprogrammes für eine lange Frist nur von Seiten der italienischen Sektion vor. Sie zeigt auch in diesem Punkt eine über den Durchschnitt der übrigen Sektionen hinausgehende Reife.

In unserer deutschen Sektion gab es bekanntlich ein Hin und Her von Meinungen darüber, ob ein Aktionsprogramm für längere Sicht mit den Grundsätzen der Kommunistischen Internationale vereinbar sei oder nicht. Es wurde hier die Ansicht vertreten, ein Aktionsprogramm dürfe nur Teil- oder Tagesforderungen (mit einem bekannten älteren Ausdruck: Minimalforderungen) enthalten, so daß es innerhalb von 24 Stunden ausgewechselt werden könne.

Ich halte diese Ansicht für falsch. Sie stimmt nicht überein mit der vorgenannten Forderung der Exekutive an die einzelnen Sektionen, ihre Aktionsprogramme auszuarbeiten. Sie hat gewiß nicht eine bloße Zusammenstellung von Teilforderungen und Tageslosungen gemeint. Denn diese müssen allerdings in sehr kurzen Fristen, oft von einem Tag zum andern wechseln. Sie entziehen sich daher einer konkreten Fixierung für längere Fristen. Diese Ansicht widerspricht weiter der Tatsache des Aktionsprogrammes der italienischen Sektion. Sie widerspricht weiter den Beschlüssen des Ill. Kongresses, an dem Lenin in entscheidender Weise mitwirkte. Und sie widerspricht schließlich der Auffassung und der Praxis von Marx und Engels.

Die Ansicht entspricht dagegen dem Erfurter Programm. Sie ist ein Rückfall in einen überholten Abschnitt der Arbeiterbewegung.

Wir kommen damit zur Frage der Übergangslosungen im allgemeinen, und zu der Frage, ob Übergangslosungen in nicht akut revolutionären Situationen propagiert werden dürfen.

Einige Genossen haben mich, wie ich gerüchteweise vernommen habe, eines furchtbaren theoretischen Mißverständnisses des Sinnes der Übergangslosungen von Marx und Engels beschuldigt. Nach der Meinung von Marx und Engels dürften diese nur in akut revolutionärer Situation, in der revolutionären Umwälzung selber, propagiert werden.

Weiter: mit Übergangslosungen im Sinne von Marx und Engels seien gemeint solche Losungen, die nur nach Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse verwirklicht werden können. Der schwere theoretische Fehler ist hier durchaus auf Seiten der Genossen, die die oben umschriebene Auffassung erwähnen.

Im Kommunistischen Manifest sprechen Marx und Engels von »despotischen Eingriffen in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die ökonomisch unhaltbar und unzureichend erscheinen, die aber im Laufe der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind «. Welchen Übergang sollen diese Forderungen oder Maßregeln bewerkstelligen? Den von der kapitalistischen zur sozialistischen Produktionsweise. Welche Kraft soll diesen Übergang bewerkstelligen? Die Arbeiterklasse, die sich "zur herrschenden Klasse erhoben", die die "politische Herrschaft" erobert, die die "Demokratie erkämpft" hat. Unter Demokratie ohne Beisatz verstehen hier Marx und Engels noch die demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern. Die jakobinische revolutionäre Demokratie und nicht die parlamentarische liberale. Der Begriff der proletarischen Diktatur ist von ihnen erst auf Grund der Erfahrungen der Kommune näher bestimmt worden, daß er die Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmaschine bedeutet.

Welche Forderungen oder Maßregeln werden hier von Marx und Engels zur Durchsetzung nach Eroberung der Macht aufgestellt? Das Kommunistische Manifest sagt darüber:

"Diese Maßregeln werden natürlich je nach den verschiedenen Ländern verschieden sein." Für die fortgeschrittensten Länder werden jedoch die folgenden ziemlich allgemein in Anwendung kommen können:

1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben.

2. Starke Progressivsteuer.

3. Abschaffung des Erbrechtes.

4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen.

5. Zentralisation des Kredits in den Händen des Staates durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol.

6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staates.

7. Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan.

8. Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau.

9. Vereinigung der Betriebe von Ackerbau und Industrie. Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschiedes von Stadt und Land.

10. Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder. Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung 1 der Erziehung mit der materiellen Produktion usw.

Wie man auf den ersten Blick sieht, handelt es sich hier ausschließlich um Übergangsmaßregeln nach Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse. Es sind also größtenteils Endlosungen. (Mit Ausnahme der »starken Progressivsteuer«, die aber hier auch einen revolutionären Sinn hat.)

Übergangslosungen im Sinne der Taktiktheorie des 3. Kongresses der Kommunistischen Internationale sind ihrem Wesen wie dem Zeitabschnitt nach etwas anderes. Dies sind Losungen, die im Laufe des Kampfes um die Macht, d.h. in einer akut revolutionären Situation in Angriff genommen und teilweise verwirklicht werden, noch ehe die Arbeiterklasse ihre Staatsmacht aufgerichtet hat, aber wo sie bereits imstande ist, auf einer Reihe von Gebieten, wenn auch noch nicht in zentralistischer Form, der kapitalistischen Herrschaft im Betrieb und der bürgerlichen Staatsmacht Abbruch zu tun und ihre eigene Klassenmacht zu verstärken. Die Durchführung dieser Maßregeln gegen den Widerstand der Bourgeoisie, der Versuch, sie auszubreiten, rollt die Machtfrage in ihrem ganzen Umfang auf. Der Widerstand der Bourgeoisie stellt die Arbeiterklasse vor die Alternative: Die Teilerrungenschaften entweder wieder völlig zu verlieren oder weiter vorwärts zu gehen.

Die wichtigsten dieser Übergangslosungen waren 1917 in Sowjetrußland die Arbeiterkontrolle der Produktion und die Bewaffnung der Arbeiter.

Bei Aufrichtung der proletarischen Staatsmacht werden diese Losungen überholt, es wird weitergegangen. Über Kontrolle der Betriebe durch die Betriebsarbeiter wird dann hinausgegangen zur vollen Enteignung der kapitalistischen Betriebsleiter und zur Leitung der Betriebe durch Organe des Arbeiterstaates. Die Arbeiterkontrolle nimmt dann neue Formen an und wird ein untergeordnetes Moment. Zugleich wird sie verallgemeinert. Die Bewaffnung der Arbeiter im Laufe des Kampfes um die Macht wird nach ihrer Eroberung ersetzt durch die staatliche Bewaffnung der Arbeiter und Entwaffnung der Bourgeoisie. An die Stelle der roten Garden usw. tritt die Rote Armee usw.

Man hat sich also einfach durch das den Ausdrücken Übergangsmaßregeln im Sinne des Kommunistischen Manifestes und Übergangslosungen im Sinne des III. Kongresses gemeinsame Wörtchen "Übergang" in die Irre führen lassen. In dem einen und dem anderen Falle handelt es sich um dem Wesen nach verschiedene Übergänge und daher um verschiedene Kampfabschnitte. In dem einen Falle sind Maßregeln der siegreichen proletarischen Revolution, in dem anderen Falle Losungen und Aktionen der um die Macht kämpfenden Arbeiterklasse gemeint. Fasse ich nur das »Wörtchen« Übergang ins Auge, ohne zu überlegen, von was zu was übergegangen wird, so ist auch die Verwandlung der sozialistischen Gesellschaft in die kommunistische ein »Übergang« mit entsprechenden Übergangsmaßregeln, -Losungen und -Erscheinungen. Im ersten Falle handelt es sich um die Periode der proletarischen Diktatur, im zweiten um den Zeitraum der Machteroberung. Aber sowohl die Endlosungen wie die Übergangslosungen sind Propagandalosungen, ehe sie Aktionslosungen werden. Und zwar müssen in der Propaganda End- und Übergangslosungen miteinander verbunden, die Endlosungen müssen aus den Übergangslosungen abgeleitet werden.

Forderungen des zweiten Charakters, also im Sinne von Übergangslosungen, sind nicht enthalten im Kommunistischen Manifest, aber in den 17 Forderungen, die die Zentralbehörde des Kommunistenbundes im März 1848, also bei schon begonnener Revolution, aufstellte und ferner in dem bekannten Rundschreiben der Zentralbehörde vom März 1850, also nach der Niederschlagung der deutschen Revolution, mitten in der Hochflut der Reaktion, in der Erwartung eines neuen Aufschwungs der Revolution.

Es wird in diesem Rundschreiben gesagt, natürlich könnten die Arbeiter im Anfange der Bewegung noch keine direkt kommunistischen Maßregeln vorschlagen, aber sie könnten die Demokraten dazu zwingen, nach möglichst vielen Seiten in die bisherige Gesellschaftsordnung einzugreifen, ihren regelmäßigen Gang zu stören und sich selbst zu kompromittieren, sowie möglichst viele Produktivkräfte, Transportmittel, Eisenbahnen usw. in den Händen des Staates zu konzentrieren.

Marx, oder die Zentralbehörde, haben in diesem Falle den Übergang von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution und zugleich Forderungen der um die Macht kämpfenden Arbeiter im Auge.

Es ist selbstverständlich, daß die hier aufgestellten Übergangslosungen nicht für das heutige Deutschland passen, das die bürgerliche Revolution hinter sich liegen hat (wenn diese auch noch- eine Unmenge Dreck hat liegen lassen, wie die Einzelstaaterei, die noch mit Beisätzen aus der Zeit des fürstlichen Absolutismus verquickte Justiz usw.), und vor dem die proletarische oder sozialistische Revolution als unmittelbar nächstes Glied steht.

Es kam uns hier nur darauf an, den allgemeinen Charakter von »Übergangslosungen« im Stadium des Machtkampfes der Arbeiterklasse, im Unterschied von Übergangsmaßregeln im Sinne des Kommunistischen Manifestes, die in Wahrheit Endlosungen sind, zu kennzeichnen. Die Genossen aber, die hier einen unbegreiflichen theoretischen Fehler bei mir suchen, begehen diesen selbst, indem sie verschiedene Dinge verwechseln.

Erstens Übergangslosungen und Übergangsmaßregeln im Sinne des Kommunistischen Manifestes, d.h. Endlosungen. Zweitens Übergangslosungen werden wirksam, setzen sich in Aktion um, in unmittelbar revolutionärer Situation, d.h. im Verlauf des Kampfes der Arbeiterklasse um die Macht. Aufgestellt und propagiert wurden Übergangslosungen in unserem Sinne von Marx und Engels zuerst beim Eintreten der akut revolutionären Situation, beim Ausbruch der Revolution, dann (1850) aber in einer Zeit tiefer Reaktion, der Ebbe der Revolution.

Ganz klar wird die Sache, wenn man die Situation ins Auge faßt, in der das Rundschreiben der Zentralbehörde von 1850 verlaßt wurde. Es war ein Zeitraum »zwischen zwei Revolutionen«. Die Revolution war einstweilen niedergeschlagen. Die Reaktion herrschte. Marx und Engels erwarteten einen neuen revolutionären Aufschwung im Zusammenhang mit einer neuen Wirtschaftskrise. Aber dieser neue revolutionäre Aufschwung war noch nicht da. Die Übergangslosungen des Rundschreibens sollen von den Mitgliedern des Kommunistenbundes natürlich nicht in die Tasche gesteckt werden, bis der neue revolutionäre Ausbruch da ist, sondern sie sollen bereits jetzt, vor diesem Ausbruch, in der Arbeiterklasse propagiert werden. Das Rundschreiben dient nicht nur dazu, den Mitgliedern die Perspektiven der neuen revolutionären Kämpfe zu entwickeln, ihnen die Grundlinien der revolutionären Strategie und Taktik aufzuzeigen, sondern auch die jetzige Propaganda der Kommunisten in der Arbeiterklasse zu nähren. Die Kommunisten sollen durch diese Propaganda die Arbeiterklasse auf die kommenden revolutionären Kämpfe vorbereiten. Mit der Propaganda für den Machtkampf einsetzen, wenn er bereits begonnen hat, ist typischer Chwostismus (Nachtrabpolitik). Es war dies typisch für die liquidatorischen Menschewiki und Trotzki in den Jahren der Reaktion nach 1907 in Rußland. Die Liquidatoren wollten solche Hauptlosungen aufgestellt wissen, die ein zaristisches Regime mit liberalen Beisätzen voraussetzten. Als die wichtigste wurde von ihnen aufgestellt die der Koalitionsfreiheit. Lenin vertrat ihnen gegenüber den Standpunkt, daß eine zweite Revolution notwendig sei, und daß man dementsprechend die ungekürzten revolutionären Losungen aufstellen müsse: Die bekannten drei Walfische: demokratische Republik, Achtstundentag, das Großgrundbesitzerland den Bauern. Die Leninschen Losungen wurden in den großen Massenstreiks des Jahres 1912 vertreten.

Ich nahm an, diese einfachen Dinge seien allbekannt. Das war offenbar ein Irrtum. Gehen wir jetzt ins 20. Jahrhundert.

Lenin behandelt die Frage der Übergangslosungen in seiner Schrift über die »Kinderkrankheit des Radikalismus«, wo er von den noch nicht ganz kommunistischen Losungen oder Maßregeln spricht, die notwendig sind, um die Mehrheit des Proletariats und der Werktätigen an die (bereits gewonnene) revolutionäre Vorhut heranzuführen. Das ist im Jahre 1920 geschrieben. Lenin war vorsichtig und umsichtig genug, um keinen Termin zu stellen, bis zu dem die Mehrheit der Arbeiterklasse und der Werktätigen an die Vorhut herangezogen sein müsse oder solle. Jedenfalls ist klar, daß die Übergangslosungen nach Lenin propagiert werden sollen in einer Zeit, wo die Kommunistische Partei noch nicht die Mehrheit der Arbeiterklasse und der Werktätigen gewonnen hat, in allgemein revolutionärer, aber noch nicht in akut revolutionärer Situation also.

Noch klarer wird die Sache, wenn wir den Ill. Kongreß der Kommunistischen Internationale ins Auge fassen.

Nehmen wir das Referat Radeks über die Taktik. Was Radek hier vortrug, war natürlich nicht seine persönliche Ansicht, sondern die der führenden russischen Genossen, vor allem die Lenins. Über die Übergangslosungen wurden hier folgende allgemeine Gesichtspunkte entwickelt:

Die Minimalforderungen in den Programmen der Vorkriegssozialdemokratie waren "ein System von Forderungen, die auf dem Boden des Kapitalismus die Lage der Arbeiterklasse bessern sollten, die die Arbeiterklasse gegen die niederdrückenden Tendenzen des Kapitalismus panzern sollten. Rosa Luxemburg charakterisierte seinerzeit in einer Polemik gegen Sombart die wirkliche Funktion des sozialdemokratischen (Minimal-)Programms in der Weise, daß sie erklärte: »Eigentlich kämpfen wir nur dafür, daß die Ware Arbeitskraft zu ihrem wirklichen Preise gekauft wird, daß der Arbeiter den Lohn erhält, der ihm erlaubt, seine Arbeitskraft zu reproduzieren".

Das sozialdemokratische Minimalprogramm hielt sich ökonomisch im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsform, praktisch im Rahmen des bürgerlich-demokratischen Staates, der "weltbekannten demokratischen Litanei", wie Marx es in seinen Glossen zum Gothaer Programm nennt. Die objektive Voraussetzung dafür war, daß die Sozialdemokratie »noch mit einer langen Periode der Existenz der kapitalistischen Gesellschaft« rechnete.

Die Minimalprogramme der Vorkriegssozialdemokratie stellten Forderungen auf, "die in der kapitalistischen Gesellschaft realisierbar waren, und die darum revolutionär wirkten, weil die kapitalistische Gesellschaft diese realisierbaren, für die Arbeiterklasse notwendigen Forderungen immer wieder ablehnte."

Hier hätte hinzugefügt werden müssen, daß die revolutionierende Wirkung der politischen Minimalforderungen, z.B. des Erfurter Programms zusammenhing mit der Tatsache, daß die bürgerliche Revolution hier auf politischem Gebiet mitten im Laufe stecken geblieben war. Die Losung der bürgerlich-parlamentarischen Republik mußte natürlich revolutionär wirken im bismarckisch-hohenzoIlernschen Deutschland. Bekanntlich war sie nicht im Erfurter Programm enthalten, angeblich aus rein polizeilichen Gründen. In Wirklichkeit steckte mehr dahinter, wie bewiesen wurde durch die Ablehnung der von Rosa Luxemburg vorgeschlagenen Propagierung der Republik (1910) und später, 1918, durch die sozialdemokratischen Versuche, noch in letzter Stunde die Monarchie zu retten. Am Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) Ende Dezember 1918 erklärte Rosa Luxemburg, "für uns gibt es jetzt kein Minimalprogramm, kein Maximalprogramm; der Sozialismus ist eines und dasselbe, das ist das Minimum, das wir heute durchzusetzen haben".

Als dies Minimum und Maximum wurden im Spartakusprogramm aufgestellt: "Alle Macht den Arbeiterräten, Bewaffnung des Proletariats, AnnulIierung der Staatsschulden, Besitzergreifung der Fabriken" usw. "In welcher Situation", erläutert Radek, "entstand dieses Programm? In Deutschland waren die höchste Macht die Arbeiterräte. Die Arbeiterklasse hatte formell die Macht in der Hand. Und die Aufgabe des Spartakusbundes bestand eben darin, diesen Arbeiterräten zu sagen, worin die Macht der Arbeiterklasse besteht und nicht mehr."

"Es ist klar", fährt Radek fort, "daß wir uns jetzt nicht in dieser Situation befinden. Die Macht hat die Bourgeoisie. Der erste Ansturm der Arbeiterklasse in der Demobilisationsepoche ist abgeschlagen. Jetzt wächst erst die proletarische Revolution."

Was folgt daraus?

"In erster Linie ist es dies: man muß alle Kämpfe um die Erhöhung der Löhne, um die Arbeitszeit, alle Kämpfe gegen die Erwerbslosigkeit auf das Etappenziel der Kontrolle der Produktion hinüberzuleiten suchen, nicht auf das System der Kontrolle der Produktion, das die Regierung durchführt, indem sie ein Gesetz erläßt, daß das Proletariat von nun an darauf zu achten habe, daß der Arbeiter nicht stehle, und der Kapitalist darauf zu achten habe, daß der Arbeiter arbeite. Die Kontrolle der Produktion bedeutet Ausbildung im proletarischen Kampfe, Durchführung aller Betriebsorganisationen auf Grund von Wahlen, ihre lokale, bezirksweise Verbindung nach Industriegruppen im proletarischen Kampf.«

Als zweite Losung erwähnt Radek "die Bewaffnung des Proletariats, die Entwaffnung der Bourgeoisie".

Und er zieht folgenden allgemeinen Schluß: "Man könnte solcher Losungen noch mehrere nennen. Ich werde es nicht tun. Sie wachsen aus dem praktischen Kampf hervor. Das, was wir Euch sagen, was wir Euch als Losung, als allgemeine Richtlinien geben, ist, in allen Kämpfen des Proletariats nicht dem, um das die Massen kämpfen, sich entgegenzustellen, sondern die Kämpfe der Massen um ihre praktischen Bedürfnisse zu verschärfen, auszubreiten und sie zu lehren, größere Bedürfnisse zu haben: das Bedürfnis nach der Eroberung der Macht."

Ich erwähne noch folgenden Satz aus dem Referat:

"Die Vorbereitungsarbeit ist der Epoche der Agitation nicht gegenübergestellt... Kampf ist revolutionäre Agitation, Kampf ist revolutionäre Propaganda, Kampf sind illegale Organisationen, Kampf die militärische Schulung des Proletariats, Parteischule, Demonstration, Aufstand."

Die Thesen über die Taktik des III. Kongresses fassen so dann das im Referat entwickelte folgendermaßen zusammen:

"Die Aktionsaufgaben, vor die die VKPD durch den Prozeß der Zerrüttung der deutschen Wirtschaft, durch die Offensive des Kapitals gegen die Lebenshaltung der Arbeitermassen bald gestellt sein wird, können nur dann gelöst werden, wenn die Partei die Aufgaben der Agitation und Organisation denen der Aktion, der Tat, nicht entgegenstellt, sondern den Geist der Kampfbereitschaft in ihren Organisationen ständig wachhält, wenn sie ihre Agitation zu einer wirklich volkstümlichen macht, wenn sie ihre Organisation so aufbaut, daß sie durch ihre Verbindung mit den Massen die Fähigkeit in sich entwickelt, die Kampfsituationen aufs sorgfältigste abzuwägen und die Kämpfe sorgfältig vorzubereiten." (4. Abschnitt, Thesen und Resolutionen des 3. Weltkongresses. S. 43, 44).

"Die kommunistischen Parteien stellen für diese Kämpfe ein Minimalprogramm auf, das auf dem Boden des Kapitalismus seinen wankenden Bau stärken und verbessern soll. Die Zertrümmerung dieses Baues bleibt ihr leitendes Ziel, bleibt ihre aktuelle Aufgabe. Um aber diese Aufgabe zu erfüllen, haben die kommunistischen Parteien Forderungen aufzustellen, deren Erfüllung ein sofortiges, unaufschiebbares Bedürfnis der Arbeiterklasse bildet, und sie haben diese Forderungen im Kampfe der Massen zu verfechten: unabhängig davon, ob sie mit der Profitwirtschaft der kapitalistischen Klasse vereinbar sind oder nicht.

Nicht die Existenz- und Konkurrenzfähigkeit der kapitalistischen Industrie, noch die Tragfähigkeit der kapitalistischen Finanzwirtschaft sollen die kommunistischen Parteien beachten, sondern die Grenzen der Not, die das Proletariat nicht ertragen kann und nicht ertragen darf. Wenn die Forderungen dem lebhaften Bedürfnis breiter proletarischer Massen entsprechen, wenn diese Massen von dem Empfinden erfüllt sind, daß sie ohne Verwirklichung dieser Forderungen nicht existieren können, dann werden die Kämpfe um diese Forderungen zu Ausgangspunkten des Kampfes um die Macht. An Stelle des Minimalprogramms der Reformisten und Zentristen setzt die Kommunistische Internationale den Kampf um konkrete Bedürfnisse des Proletariats, um ein System von Forderungen, die in ihrer Gesamtheit die Macht der Bourgeoisie zersetzen, das Proletariat organisieren, Etappen im Kampfe um die proletarische Diktatur bilden und deren Wege für sich dem Bedürfnis der breitesten Massen Ausdruckverleihen, auch wenn diese Massen noch nicht bewußt auf dem Boden der proletarischen Diktatur stehen.« (5. Abs. S. 46/47)

"... In dem Maße, wie die Kämpfe um Teilforderungen, wie die Teilkämpfe einzelner Gruppen der Arbeiter sich auswachsen zum allgemeinen Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus, hat die Kommunistische Partei auch ihre Losungen zu steigern, zu verallgemeinern bis zur Losung der direkten Niederwerfung des Gegners. Bei der Aufstellung ihrer Teilforderungen haben die kommunistischen Parteien darauf zu achten, daß diese in dem Bedürfnis der breitesten Massen verankerten Forderungen nicht nur diese Massen in den Kampf führen, sondern auch, daß sie ihrem Wesen nach die Massen organisierende Forderungen sind. Alle konkreten Losungen, die den wirtschaftlichen Nöten der Arbeitermassen entspringen, müssen hineingeleitet werden in das Bett des Kampfes um die Kontrolle der Produktion nicht als eines Planes der bürokratischen Organisation der Volkswirtschaft unter dem Regime des Kapitalismus, sondern des Kampfes gegen den Kapitalismus durch die Betriebsräte wie die revolutionären Gewerkschaften." (Ibidem, S. 47/48.)

Zwischen dem Beginn des Kampfes der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten Klassen um die Macht, dem Eintritt der akut revolutionären Periode, und seinem vorläufigen Abschluß mit der Eroberung der Macht durch die Errichtung der Rätemacht (vorläufiger Abschluß, weil nach Errichtung der Rätemacht der Kampf weitergeht für ihre Erhaltung) liegt der Zeitabschnitt des Kampfes um die Macht selbst. Den »vergessen« manche Genossen. In Rußland 1917 währte der Kampf der Arbeiterklasse um die Macht vom März bis Oktober 1917 - acht Monate.

Sein Ausgangspunkt war die "Doppelregierung", das Zusammenbestehen der bürgerlich-demokratischen Staatsmacht (Kerenski-Regierung) und der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte, welche letzteren die demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern in eigentümlicher Form verwirklichten. Sein Endpunkt war die Errichtung der Rätemacht im Oktober, die Zertrümmerung und Beseitigung der bürgerlich-demokratischen Staats macht und Staatsmaschine.

Der Hauptinhalt dieses Abschnitts ist folgender:

1) Die Entstehung der Räte der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten als Kampforgane der revolutionären Klassen, ihr Kampf mit den Organen der bürgerlichen Demokratie und schließlich ihr Sieg über sie, der die Räte in die Organe der proletarischen Staatsmacht verwandelt.

2) Die Bewaffnung, und die bewaffneten Kämpfe der Arbeiter, Bauern und Soldaten, die Zersetzung und Zerstörung der zaristischen Armee, schließlich der bewaffnete Aufstand, der Sieg der bewaffneten Arbeiter, Bauern und Soldaten und die Aufrichtung der Roten Garden und der Roten Armee.

3) Die vereinzelte Arbeiterkontrolle der Produktion, wobei die Unternehmer noch formelle Besitzer der Betriebe sind, aber der Kontrolle und teilweisen Leitung der Betriebsräte unterworfen werden. Der Endpunkt ist mit der Eroberung der Macht die Entreißung der Großbetriebe durch den Rätestaat, ihre Leitung durch die Organe des Arbeiterstaates, gleichzeitig systematische Ausbreitung der Arbeiterkontrolle, die aber jetzt einen ganz anderen Charakter annimmt, wo der Unternehmer durch den Arbeiterstaat als Eigentümer und Betriebsleiter ersetzt wird. Die Arbeiterkontrolle wird jetzt der rätestaatlichen Leitung ein- und untergeordnet, verallgemeinert und umgeformt.

4) Die lokale, spontane und direkte Besitznahme von Großgrundbesitzerland durch die Bauern: Der Endpunkt ist hier: das Dekret über die Nationalisierung des Landes, die allgemeine staatliche Enteignung des Großgrundbesitzes.

Diese acht Monate bilden zugleich den Übergang oder das Umschlagen der bürgerlich-demokratischen in die proletarisch-sozialistische Revolution.

Kein Zweifel, daß Marx und Engels nicht nur die Übergangsmaßregeln nach Eroberung der Staats macht, nach Einrichtung der revolutionär- demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern, (wie sie im Kommunistischen Manifest sich finden), sondern auch Übergangslosungen für die vorhergehende Periode, die der Eroberung der Staats macht selbst im Auge hatten (Engels 1847, die 17 Forderungen von März 1848, das Rundschreiben der Zentralbehörde von 1850). Auch unter den damaligen deutschen Verhältnissen war dies ein Übergehen von der bürgerlich-demokratischen zur proletarisch-sozialistischen Revolution.

Im gegenwärtigen Deutschland, das die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen hinter sich liegen hat, wird der Abschnitt des Kampfes der Arbeiter und der mit ihnen verbündeten und von ihnen geführten Klassen um die Staatsmacht naturgemäß kein Übergang von der bürgerlich-demokratischen zur proletarisch-sozialistischen Revolution mehr sein können. Die verschiedenen Etappen der bürgerlichen und der proletarischen Revolution, die in Rußland auf den Zeitraum von 1905/06 und 1917, also insgesamt 12 Jahre zusammengedrängt waren, sind in Deutschland auf über 70 Jahre auseinandergezogen (die bürgerliche Revolution in Deutschland begann 1848 und ist abgeschlossen 1919, gleichzeitig beginnt im Jahre 1918 die proletarische Revolution).

Aber sicher ist, daß auch in Deutschland und in anderen Ländern mit ähnlichen ökonomischen und staatlichen Voraussetzungen der Kampf der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten um die Macht ein bestimmter Zeitabschnitt sein wird, nicht nur ein verschwindender Moment. Als dessen Hauptinhalt läßt sich schon heute in den Grundzügen folgendes angeben:

1) Die Bildung der Arbeiter- (Kleinbauern- und eventuell Soldaten-)räte als Kampforgane, ihr Kampf gegen die Organe der bürgerlichen Staatsmacht.

2) Die Bewaffnung und bewaffneten Kämpfe der Arbeiter, die Zersetzung und schließliche Zertrümmerung der bürgerlichen Militär- und Polizeimacht und sonstiger militärischer Kräfte der Bourgeoisie.

3) Die Eroberung neuer Machtpositionen der Arbeiter im Betrieb gegen den Unternehmer, die Kontrolle und teilweise Leitung einzelner Betriebe durch die Arbeiter; teilweise, wahrscheinlich auch bereits die Vertreibung oder Flucht kapitalistischer Unternehmer aus »ihren« Betrieben.

4) Wahrscheinlich auch die lokale Besitznahme von Großgrundbesitzer-, Großbauernland durch Landarbeiter, ländliches Halbproletariat, Zwerg- und Kleinbauern und untere Schichten der Mittelbauern.

Man muß das Bestehen dieses Zeitabschnittes sehen, man muß begreifen, daß hierfür besondere Losungen und Maßregeln nötig sind.

Was sind das für Losungen?

Nehmen wir als Beispiel die Losung der lokalen Besitznahme von Großgrundbesitzer- und Großbauernland durch Landarbeiter, Landtagelöhner, Zwerg-, Klein- und einen Teil der Mittelbauern. Ist das eine Teillosung? Sicher nicht. Sie ist mehr. Sie sprengt bereits den Rahmen der bürgerlichen Ordnung. Ist sie eine Endlosung? Noch nicht. Sie ist weniger. Eine Endlosung ist die Enteignung der Großgrundbesitzer (und Großbauern) und die Aneignung des Landes durch den Rätestaat.

Wir haben hier den Typus einer Übergangslosung. Ihrer werden eine ganze Anzahl sein. Einige lassen sich voraussehen, andere nicht.

Ein zweites Beispiel- die Losung der Räte. Sie werden entstehen in akut revolutionärer Situation. Sie werden einen kürzeren oder längeren Zeitabschnitt Kampforgane der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten sein, ehe sie Machtorgane werden. Die Endlosung ist die der Rätemacht: »Alle Macht den Räten!« Was aber ist die Losung der »Arbeiter- und Bauernregierung«? Sie ist sicherlich keine bürgerlich-demokratische Losung. Sie sprengt bereits den Rahmen des bürgerlichen Staates. Sie ist also keine Teil-, keine Reform- oder Minimallosung. Sie ist eine revolutionäre Losung. Ist sie schon eine Endlosung, die fix und fertige Rätemacht, ihr »Synonym oder ihr Pseudonym«? Zwei Namen oder Losungen für dieselbe Sache sind überflüssig. Sie ist wieder eine Übergangslosung für den Kampf um die Macht: die Rätemacht oder den Rätestaat in ihrer noch nicht vollendeten oder fertigen, sondern in einer noch unfertigen, vorübergehenden Form. (Z.B. in Rußland vom 7. November bis zur Auseinandersetzung und Aufhebung der Konstituante und zur Sprengung des Bündnisses der Kommunistischen Partei mit den Linken Sozialrevolutionären in den Räten.)

Auch dies ist der Typus einer Übergangslosung und als Zustand ein Übergangszustand oder Übergangsmaßregel in dem hier genannten Sinne.

Man muß ferner sehen, daß dieser Kampfabschnitt agitatorisch, propagandistisch, organisatorisch vorbereitet werden muß, d.h. daß die Übergangslosungen propagiert werden müssen, ehe noch der Kampf um die Macht begonnen hat, bis und damit sie im Kampf um die Macht Aktionslosungen werden.

Wann und welche bestimmten Übergangslosungen vor dem unmittelbaren Kampf um die Macht agitiert und propagiert werden, das hängt von den konkreten Umständen ab, muß aber in jedem einzelnen Falle untersucht werden. Mit anderen Worten ist das die Aufgabe des Heranführens der Massen zum Kampf um die Macht.

Diese Aufgabe, die 1920 Lenin als die Hauptaufgabe der Kommunistischen Partei in den wichtigsten Ländern sah, erschien damals, wo der Kapitalismus noch stärker erschüttert war als heute, in verhältnismäßig kurzer Frist zu erledigen. Heute weisen die objektiven Umstände darauf hin, daß sie eine längere Frist beanspruchen wird.

Aber das Wesen dieser Aufgabe bleibt heute wie damals dasselbe.

Diese Aufgabe übersehen oder »vergessen« oder wegräsonieren wollen, heißt einen schweren theoretischen wie praktischen Fehler begehen. Es heißt, die subjektiven Bedingungen außer acht lassen, die für die Verwirklichung der Übergangslosungen nötig sind. Es heißt die Rolle der Kommunistischen Partei als Führerin der Arbeiterklasse, die ihr die nächsten Schritte zu zeigen hat, vergessen. Es heißt, sich auf »Schwanzpolitik« beschränken, hinter der Bewegung der Massen zurückbleiben. Es ist die berühmte Kautsky’sche Ermattungsstrategie.

Das allgemeine Ergebnis ist dies:

1) Eine Beschränkung auf Minimalprogramme, wie der der Vorkriegssozialdemokratie, die sich im Rahmen der kapitalistischen Ordnung und des bürgerlich-demokratischen Staates halten, ist nicht zulässig in einer Zeit, wo der Kapitalismus sich in einer revolutionären Krise befindet, und wo der bürgerlich-demokratische Staat in dem betreffenden Lande bereits faktisch existiert.

2) Ebenfalls unzulässig ist eine Beschränkung auf Endlosungen in einer Zeit, in der zwar der Kapitalismus sich in revolutionärer Krise befindet, aber die Arbeiterklasse nicht unmittelbar um die Macht kämpft und die Bourgeoisie sich für längere oder kürzere Zeit wieder in der Macht befestigt hat.

3) In einer Periode wie der letzteren ist die Aufgabe, neben der Propaganda der Endlosungen: Agitation, Propaganda und Organisierung von Kämpfen um Teilforderungen und Übergangslosungen.

Die Aufstellungen der einen wie der anderen müssen sich nach der konkreten Kampflage richten. Wo befinden wir uns jetzt? Nicht im ersten Kampfabschnitt des noch unerschütterten Kapitalismus. Der Programmentwurf spricht mit vollem Recht von der allgemeinen Krise des Kapitalismus, die den ganzen jetzigen Kampfabschnitt bezeichnet. Auch wenn die besondere Nachkriegskrise überwunden ist, so ist diese allgemeine Krise des Kapitalismus geblieben. Sie ist schon durch die Tatsache gegeben, daß inmitten der kapitalistischen Welt Sowjetrußland, eine Oase mit herrschender sozialistischer Wirtschaftsform, besteht und wächst.

Ist der Weltkapitalismus im Jahre 1928 verschieden von dem des Jahres 1921, dem des Ill. Kongresses? Sicherlich. Der Kapitalismus hat sich inzwischen stärker gefestigt (aber auch Sowjetrußland und die Kommunistische Internationale). Aber ist die Lage verschieden in den grundlegenden Merkmalen, die für die Aufstellung und Propagierung von Übergangslosungen bestimmend sind? Nein!

Was folgt daraus? Zwei Dinge:

1) Die fortbestehende allgemeine Krise des Kapitalismus begründet heute wie im Jahre 1921 die Notwendigkeit der Aufstellung und Propaganda von Übergangslosungen‚

2) Die Überwindung der besonderen Nachkriegskrise des Kapitalismus die »relative Stabilisierung des Kapitalismus«, die Entwicklung von Widersprüchen, Krisen, Konflikten auf neuer Basis bedingt, daß die Übergangslosungen der neuen Lage angepaßt werden, neue Inhalte und Formen der Übergangslosungen, neue Formen ihrer Auswertung usw. Es gilt also nicht einfach, die alten Formeln und Formen zu wiederholen.

Ich begnüge mich hier mit diesem allgemeinen Ergebnis. Eine dieser Übergangslosungen, wie die der Produktionskontrolle, ihren jetzt möglichen Inhalt in einem Lande wie Deutschland oder Italien, ihre der Situation angepaßten Formen der Propaganda, der organisatorischen Auswertung usw. zu behandeln, würde hier zu weit führen.

Das Programm muß klare Auskunft über die Frage geben: was sind Übergangslosungen, unter welchen Bedingungen dürfen sie propagiert werden, wann werden sie Aktionslosungen usw.

Die Fragen sind in der Bewegung aufgeworfen, sie müssen im Programm in allgemeiner Form klar und bestimmt beantwortet werden.

Die Teilforderungen

Was sind »Teilforderungen« und »Teillosungen«? Im Entwurf ist das nicht gesagt. Der Begriff wurde zuerst fixiert in den Taktik-Thesen des III. Kongresses. Er hängt aufs engste zusammen mit dem Begriff der »Teilkämpfe«. » Teilkämpfe« werden hier verstanden im Gegensatz zum Kampf um die Macht. Woher stammt dieser neue Begriff, den die sozialistischen Programme sonst nicht kennen? Offenbar schwebt dabei der Gedanke vor, daß in Zeiten, wo die revolutionären Wellen hochgehen, auch Einzelkämpfe, Streiks, Demonstrationen usw. eine andere Bedeutung haben als in Zeiten, wo die kapitalistische Ordnung und der bürgerliche Staat noch unerschüttert sind. Dies trifft in der Beziehung zu, daß in solchen Zeiten an sich unbedeutende, kleine Einzelkämpfe mit der größten Schnelligkeit in Machtkämpfe umschlagen können. Nimmt man einen größeren Zeitabschnitt revolutionärer Kämpfe zusammen, so erscheinen diese Einzelkämpfe, obwohl sie sich noch nicht unmittelbar um die Macht drehen, dennoch als Momente des Machtkampfes. In revolutionären Zeiten schlagen alle Momente und Seiten des Klassenkampfes aufs schnellste ineinander um, entstehen eines aus dem andern: der wirtschaftliche Kampf schlägt um oder geht über und faßt sich zusammen in den politischen, der politische Kampf setzt sich an gewissen Knotenpunkten wieder in wirtschaftliche Einzelkämpfe um. Ebenso schnelles Umschlagen der allgemeinen Momente des Klassenkampfes ineinander: der Agitation, Propaganda, Organisation, des wirklichen Kampfes in seinen verschiedenen Formen. Diese Dinge, die unausgesprochen den Begriffen der Teilkämpfe, Teillosungen, Teilforderungen zu Grunde liegen, sollten im Programmentwurf ausgesprochen werden.

Daneben bleibt natürlich auch bei Teillosungen und. Teilforderungen der allgemeine Charakter, daß die Schranken der kapitalistischen Ordnung und des bürgerlichen Staats noch nicht überschritten werden. Fallen die revolutionären Wogen, tritt wieder eine relative Stabilisierung des Kapitalismus ein, so verlangsamt und erschwert sich dieses Umschlagen der Seiten, Gebiete und Momente des Klassenkampfes ineinander.

Das Umschlagen der verschiedenen Seiten des Klassenkampfes ineinander, besonders des wirtschaftlichen (gewerkschaftlichen) in den politischen ist ein höchst wichtiger taktischer Begriff. Er sollte im Programm um so mehr scharf bestimmt werden, da man darüber häufig die verworrensten Anschauungen trifft. Diese sind aber praktisch von den schwersten Folgen für unsere Parteien.

Die Erfahrungen einzelner Sektionen in der letzten Zeit haben uns zwei Abirrungen entgegengesetzter Art gezeigt, die einander aber praktisch brüderlich ergänzen. Die eine, die man eine »linke« Abirrung nennen kann, sieht in jedem Arbeitskampf (Streik. Aussperrung) etwas, das nach Belieben von der Partei ins politische Fahrwasser gelenkt werden kann, unabhängig vom Inhalt, Umfang und der Intensität des Kampfes. Es genüge dazu eben politische Losungen hineinzuwerfen. Zugrunde liegt hier die falsche Vorstellung, daß der wirtschaftliche Kampf an sich bereits politischer Kampf ist und die Losungen der Partei die politische Eigenschaft sozusagen nur entbinden.

Das gemeinsame und allgemeine Wesen des wirtschaftlichen wie des politischen Kampfes ist der Klassenkampf. Zugleich aber haben diese Kampfgebiete ihre wesentlichen Unterschiede, die sich praktisch in der Verschiedenheit der Kampfbedingungen, Kampfformen, Kampfmittel und Kampfziele äußern.

Das Außerachtlassen dieser Unterschiede führt andererseits dazu, daß man im politischen Kampf nur eine Summierung oder Ausbreitung von Lohnkämpfen sieht. Verwandelt die erste Abirrung jeden ökonomischen Kampf in einen politischen (natürlich nur in der eigenen Einbildung!), so geht für die zweite Abirrung überhaupt der politische Kampf ganz im ökonomischen auf. Wir bekommen dann das Wiederaufleben der in der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung unter dem Namen des »Ökonomismus« bekannten, besonders bornierten Abart von Opportunismus.

Die einen verwandeln alles in Politik, die anderen in Ökonomie, die spezifischen Formunterschiede des wirtschaftlichen und politischen Kampfes gehen verloren. Daher einerseits theoretisch ein unaufhörliches Umschlagen der beiden Pole dieser Abirrungen, des linken in den rechten und umgekehrt.

Man muß verstehen, daß der Übergang, das Umschlagen des wirtschaftlichen in den politischen Kampf und umgekehrt weder durch den bloßen Wunsch oder die bloße Einbildung bewerkstelligt werden kann, noch daß politischer Kampf quantitativ, nur der Menge, der Größe oder dem Umfang nach, sich vom wirtschaftlichen Kampf unterscheidet. Er ist zugleich qualitativ, seiner Form, seiner Erscheinungsweise, den Kampfmitteln, den Zielen des Kampfes nach, verschieden. Das heißt, der Übergang vom einen in den anderen ist ein Umschlag im dialektisch strengen Sinn des Wortes, ein Übergehen auf ein anderes Gebiet. (Im Falle des Umschlagens oder Übergehens des wirtschaftlichen in den politischen Kampf ist er der Übergang von einer tieferen zur höheren, von einer besonderen zu einer allgemeineren Form des Klassenkampfes.) Dieser Übergang oder dieses Umschlagen hat seine besonderen Ge- setze, Bedingungen und Regeln.

Der Irrtum wird manchmal zugedeckt mit der Phrase vom Umschlagen der Quantität in die Qualität. Um die Phrase handelt es sich hier, weil der, der sie in dem oben genannten Sinne gebraucht, gerade das nicht versteht, was dieser dialektische Satz fordert: nämlich die Verwandlung quantitativer Veränderungen an bestimmten "Knotenpunkten" ins qualitative. Sieht man nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch diese "Knoten" nicht, so bleibt man eben praktisch stecken, so sehr man sich in der Illusion bewegen mag. Man findet dann nicht nur nicht die Brücke vom wirtschaftlichen zum politischen Kampf, wenn die im gegebenen Falle da ist, man bleibt auch mit der wirtschaftlichen Bewegung selber stecken, oder man bleibt ohne Einfluß auf den Verlauf.

Diese allgemeinen taktischen Gesichtspunkte über das Verhältnis vom wirtschaftlichen zum politischen Kampf sollten im Programmentwurf nicht fehlen. Ebenso gehört in den taktischen Abschnitt des Programmes eine klare Begriffsbestimmung dessen, wodurch sich der Gewerkschaftskampf der Kommunisten von dem der Reformisten unterscheidet und worin er übereinstimmt. Die Übereinstimmung besteht darin, daß der Gewerkschaftskampf als solcher sich innerhalb des Rahmens der kapitalistischen Wirtschaftsweise hält. Sein Kernpunkt ist die Realisierung des Wertes der Arbeitskraft durch die Arbeiterklasse. Der Unterschied, der sich zum schärfsten Gegensatz fortentwickelt, ist bedingt durch die prinzipielle Stellung zum kapitalistischen System und zum bürgerlichen Staat. Die Reformisten, die auf dem Boden des kapitalistischen Systems und des gemeinsamen Interesses zwischen Kapital und Arbeit stehen, sind infolgedessen bestrebt, den Gewerkschaftskampf dem kapitalistischen Verwertungsbedürfnis einerseits, dem Bestand des bürgerlichen Staates andererseits anzupassen. Daher ihr Bestreben, erstens den Ausbruch von Arbeitskämpfen überhaupt zu verhindern, oder sie nach Ausbruch abzudrosseln, in Zeiten, wo die bürgerliche Gesellschaft erschüttert ist oder wo sie aus anderen Gründen ein besonders starkes Bedürfnis hat, daß Lohnkämpfe nicht ausbrechen, z.B. im Kriegsfall. Das Hauptmotiv ist hier die Furcht vor dem Umschlagen des wirtschaftlichen Kampfes in den politischen, in den revolutionären Machtkampf, der in solchen Zeiten besonders leicht und schnell eintritt. Zweitens auch in Zeiten relativer Stabilisierung des Kapitalismus die Tendenz, die Arbeitskämpfe möglichst einzuschränken, abzustumpfen, durch Vermittlung ihren Ausbruch zu verhindern oder ihren Abbruch zu beschleunigen. Der letzte Schritt dieser Tendenz ist die Herstellung des "Wirtschaftsfriedens".

Zu Zeiten relativer Stabilisierung des Kapitalismus können die reformistischen Gewerkschaften die Arbeitskämpfe nicht ganz verhindern -selbst vom Stand punkt des Kapitalismus nicht, insofern Streiks einen bestimmten Ausgleich der Löhne für verschiedene Unternehmungen bewirken. Dies läuft häufig darauf hinaus, daß durch den Ausgleich der Lohnsätze für verschiedene Unternehmer die kapitalistischen Konkurrenzbedingungen der kleineren, technisch rückständigeren, schlechter organisierten Unternehmungen erschwert werden zugunsten der größeren, technisch und organisatorisch höher stehenden, vor allem der monopolistischen Betriebe.

Dazu kommt noch folgendes. Im "relativ stabilisierten Kapitalismus" der Gegenwart haben die kapitalistischen Monopole dem Umfang wie den Formen der kapitalistischen Zentralisation nach alles bisherige überschritten. Die gesteigerte kapitalistische Zentralisation, das hohe spezifische Gewicht der kapitalistischen Monopole schafft aber Bedingungen, unter denen Lohnkämpfe immer häufiger an die Grenzen des politischen Kampfes stoßen, ja sie zu überschreiten die Tendenz haben. Das, was vor dem Kriege zutraf in so stark zentralisierten Industrien wie im Bergbau, trifft heute gerade auf Grund der relativen Stabilisierung häufiger und in noch größerem Umfang zu (aber nicht immer, nicht in jedem einzelnen Fall). Nimm ferner noch hinzu, was oben über die Tendenz der Krisen unter Monopolverhältnissen gesagt ist, schwere soziale Erschütterungen zu bewirken.

Die weitere Folge der reformistischen Auffassung ist, daß die Gewerkschaften unter reformistischer Führung keine "Schulen des Sozialismus" mehr sein können - wenigstens soweit diese Gewerkschaftsführer in Betracht kommen. Sie werden Schulen der verschiedenen Ideologien der Klassenharmonie, des bürgerlich-demokratischen Kretinismus, des Liberalismus usw. "Schulen des Sozialismus" sind sie nur noch insofern, als die Kommunisten in ihnen wirken können. Selbstverständlich gehören in das Programm der Kommunistischen Internationale keine Einzelheiten über Streikstrategie und Streiktaktik; wohl aber die oben umrissenen allgemeinen Gesichtspunkte, die den gewerkschaftlichen Kampf als ein Teilstück des allgemeinen Klassenkampfes des Proletariats kennzeichnen.

Ferner fehlt im Entwurf eine genaue Begriffsbestimmung der Bedingungen der Revolution, der revolutionären Situation im allgemeinen, der akut revolutionären Situation im besonderen. Die Wichtigkeit möglichst scharfer und vollständiger Begriffsbestimmungen liegt hier auf der Hand. Sie brauchen nicht neu gefunden zu werden. Sie liegen bereits in den Grundzügen bei Marx, ausführlicher und reicher bei Lenin vor.

Es fehlt ferner eine genaue Bestimmung des Verhältnisses der Kommunisten zur bürgerlich-demokratischen Republik und ihren Einrichtungen, zu den demokratischen Reformen (den alten sozialdemokratischen Minimalforderungen). Auch hier findet sich das meiste bereits bei Lenin fix und fertig vor. Warum diese Dinge, die grundsätzlich und praktisch wichtig sind, nicht im Programm formulieren?

Ein weiterer Punkt, der hierher gehört, und dessen Wichtigkeit für die programmatische Formulierung von Lenin ausdrücklich auf dem IV. Kongreß betont wurde, ist die Strategie und Taktik des Rückzuges. Lenin wies am IV. Kongreß ausdrücklich auf diesen Punkt als Grund hin, um die weitere Ausreifung des Programmes zu befürworten. Seitdem haben wir reiche Erfahrungen in guten und in schlechten Rückzügen (leider mehr in schlechten). Sie müssen jetzt ausgewertet werden. Ein schlechter Kommunist, der, weil er selbstverständlich lieber angreift und vorstößt, als sich zurückzieht, die Kunst des Rückzuges nicht gründlich studiert. Sie ist vielleicht die schwerere.

Es fehlen ferner präzise Bestimmungen zu den Militärfragen: den Fragen der Miliz, der allgemeinen Wehrpflicht, der Berufsarmeen, der proletarischen Miliz, der Organisation und der Bedingungen des bewaffneten Aufstandes, der Heeresorganisation des siegreichen Proletariats usw. Nur zu sagen, daß der Aufstand eine Kunst ist, ist keine Kunst.

Was im Entwurf dann unter Teilforderungen und Teillosungen aufgezählt ist, ist völlig ungenügend. Es ist ein wirres Sammelsurium, das gewiß nicht eine präzise Verallgemeinerung der Erfahrungen der Sektionen der Komintern darstellt. Ich meine damit nicht, daß dieser Abschnitt sehr umfangreich sein soll. Aber er muß systematisch angeordnet und abgeleitet sein, mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelte Stichworte, eine bloße Aufzählung von »Fragen« genügt hier durchaus nicht. Es müssen hier die allgemeinen Gesichtspunkte enthalten sein, von denen aus die Sektionen der Komintern die konkreten Teilforderungen und Teillosungen ableiten können, die den besonderen Bedingungen ihrer Länder und typischen Situationen des Klassenkampfes entsprechen. Natürlich kann man den Sektionen damit nicht das Selbstdenken ersparen.

Das Abschnittchen über die Teilfragen, die "die Bauernfrage betreffen", ist ebenso völlig ungenügend, ja nichtssagend. Der Mangel der Auswertung und Verallgemeinerung der Erfahrungen der Sektionen der Komintern springt hier in die Augen.

In dem Abschnittchen über die internationale Klassendisziplin sollte die Formulierung der Leitsätze des Spartakusbundes berücksichtigt werden, der als erster, meines Wissens, den Grundsatz der unbedingten Unterordnung der Disziplin der nationalen Parteien unter die der Internationale gegenüber der II. Internationale aufstellte und zugleich eine bestimmte Abgrenzung zwischen beiden vornahm.

Der Programmentwurf, wie er vom V. Kongreß der Kommunistischen Internationale angenommen wurde, enthielt am Schluß die Forderung, daß die Sektionen der Kommunistischen Internationale auf Grund des internationalen Programms ihre nationalen Programmforderungen ausarbeiten und als besonderen Teil dem allgemeinen folgen lassen sollen.

Ich sehe keinen Grund, von dieser Forderung jetzt abzusehen. Im Gegenteil, je mehr sich die Sektionen entwickeln, je reifer die Kampfsituation in den einzelnen Ländern wird, um so dringender, daß die nationalen Sektionen lernen, das national Eigentümliche, national Spezifische in den konkreten Methoden eines jeden Landes zur Lösung der einheitlichen internationalen Aufgabe, zum Sieg über den Opportunismus und den "radikalen" Doktrinarismus innerhalb der Arbeiterbewegung, zum Sturz der Bourgeoisie, zur Errichtung der Sowjetrepublik und proletarischen Diktatur, zu erforschen, zu studieren, herauszufinden, zu erraten und zu erfassen. (Lenin, Kinderkrankheiten). Lenin bezeichnete das 1920 als die "wichtigste Aufgabe des historischen Augenblicks, den alle fortgeschrittenen (und nicht nur die fortgeschrittenen) Länder gegenwärtig durchleben« (daselbst LW, Bd. 31, S. 79]).

Vor allem handelt es sich hierbei darum, die konkreten Formen des Übergangs oder des Herankommens zur proletarischen Revolution zu finden.

Dies war 1920 geschrieben, wo wir alle noch ein rasches Fortschreiten der Revolution erwarteten. Aber das von Lenin Geforderte gilt nicht weniger jetzt, wo die spezifische Nachkriegskrise vom Kapitalismus überwunden, das Tempo der Revolution verlangsamt, akut revolutionäre Situationen in Mittel- und Westeuropa nicht vorliegen. Das verlangsamte Tempo, die größeren Fristen fordern von uns und ermöglichen es, daß wir die hier gestellte Aufgabe gründlicher und vollständiger bewältigen, als das sonst der Fall wäre. Es ist das ein wesentliches Stück der "gründlichen" Vorbereitung der Revolution, die Lenin forderte.

Diese Aufgabe kann das leitende Zentrum der Internationale allein nicht bewältigen, wenn es auch ihre Bewältigung in großem Maße erleichtern, fördern, vorbereiten kann.

Lenin selbst sagt darüber:

"Jetzt handelt es sich darum, daß die Kommunisten eines jeden Landes die grundsätzlichen Aufgaben des Kampfes mit dem Opportunismus und dem ‚radikalen’ Doktrinarismus wie auch die konkreten Eigentümlichkeiten einkalkulieren, die dieser Kampf in jedem einzelnen Lande, gemäß den eigenartigen Zügen seiner Wirtschaft, Politik, Kultur, seiner nationalen Zusammensetzung, (Irland usw.), seinen Kolonien, seinen religiösen Spaltungen annimmt und unausbleiblich annehmen muß. Überall, fühlt man, wächst und breitet sich die Unzufriedenheit mit der II. Internationale aus, sowohl wegen ihres Opportunismus, wie auch wegen ihres Unvermögens oder ihrer Unfähigkeit, eine wirklich zentralistische, wirklich führende Zentralstelle zu schaffen, die fähig wäre, die internationale Taktik des revolutionären Proletariats im Kampf um eine Sowjetrepublik der Welt zu lenken. Man muß sich deutlich davon Rechenschaft ablegen, daß solch ein leitendes Zentrum auf keinen Fall auf die Schablonierung, die mechanische Ausgleichung, Gleichsetzung der taktischen Kampfregeln aufgebaut werden kann. Solange nationale und staatliche Unterschiede zwischen den Völkern und Ländern bestehen - diese Unterschiede aber werden noch lange und sehr lange sogar nach der Verwirklichung der Diktatur des Proletariats im Weltmaßstabe bestehen bleiben -erfordert die Einheit der internationalen Taktik der kommunistischen Arbeiterbewegung aller Länder nicht die Beseitigung der Verschiedenartigkeit, nicht die Abschaffung der nationalen Unterschiede (das ist im gegebenen Augenblick ein sinnloser Traum), sondern eine solche Anwendung der grundlegenden Prinzipien des Kommunismus (Sowjetmacht und Diktatur des Proletariats), welche diese Prinzipien in den Einzelheiten richtig abändert, sie richtig anwendet und den nationalen und national-staatlichen Verschiedenheiten anpaßt.« (LW, Bd. 31, S. 78f.)

Lenin forderte also für die Bewältigung dieser Aufgabe die richtige Anwendung und Anpassung der grundlegenden Prinzipien des Kommunismus an die nationalen und national-staatlichen Verschiedenheiten, die eigene Arbeit "der Kommunisten eines jeden Landes". Sie zu fördern dient die Herausarbeitung der spezifisch nationalen Anwendung des allgemeinen Programms. Deshalb sollte man unbedingt an der Forderung des Programmentwurfs des V. Kongresses festhalten. Ein Versuch, diese Aufgabe im allgemeinen Programm mitzuerledigen, muß notwendig scheitern. Das gibt dann zuviel und zu spezielles für das allgemeine Programm, zu wenig und zu unbestimmtes und ungenaues für die einzelnen Länder.

Dieser Gefahr ist der Programmentwurf nicht immer entgangen. Lenins besondere Leistung, sein besonderer Fortschritt über die zweite Internationale hinaus besteht eben darin, daß er verstand, die revolutionären Grundsätze des Marxismus in ihrem vollen Umfang und ihrer vollen Tiefe sich anzueignen (im Gegensatz zur VerfIachung und Verkümmerung durch Kautsky) und sie fortzuentwickeln durch die Anwendung auf die besonderen Bedingungen des Klassenkampfes in Rußland als des Landes, das die proletarische Revolution unmittelbar im Anschluß an die Vollendung der bürgerlichen durchführte, und sie als erstes Land durchführte. Gerade dadurch erreichte Lenin eine höhere Entwicklungsstufe der kommunistischen Theorie und Praxis überhaupt, international.

Es ist nicht zu bezweifeln, daß die der russischen folgenden Revolutionen in kapitalistisch hochentwickelten Ländern auch theoretisch wie praktisch Neues zutage fördern werden, über das hinaus, was die erste proletarische Revolution zutage gefördert hat. Das will aber vorbereitet "gefunden, herausgefühlt, richtig bestimmt" werden.

Anmerkungen

1 Die italienische Kommunistische Partei stellt in ihren jüngsten Thesen über die italienische Lage und die Aufgaben der Partei eine Reihe von Übergangslosungen auf. Es heißt darüber in den Thesen:

Zu diesem Zwecke benutzen wir auch allgemeine und Teillosungen ‚demokratischen Charakters. Was heißt ‚demokratischen Charakters’? Wenn wir uns darauf beschränken wollten, den nicht proletarischen Massen und dem rückständigeren Teil des Proletariats zu zeigen, daß eine Rückkehr zu den alten politischen Formen der bürgerlichen Demokratie in der gegenwärtigen Phase des italienischen Kapitalismus unmöglich ist, würde es uns kaum gelingen, kleine Schichten zu überzeugen. Dagegen würden die sozialdemokratischen Parteien, die ihre Agitation ausschließlich auf die Wiederherstellung der Demokratie, als der Vorbedingung für die allmähliche Entfaltung des Klassenkampfes aufbauen, ihren Einfluß in den Massen aufrechterhalten, d.h. die Massen weiter im Banne des Kapitalismus halten. Auf welche Weise wird es uns gelingen, die Mehrheit der Volksmassen davon zu überzeugen, daß der Kampf für die Demokratie ein Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sturz der Macht des Kapitalismus ist? Indem wir ihre wirtschaftlichen Bewegungen mit dem Kampf für politische Tagesforderungen verbinden, deren Ziel geeignet ist, die Massen in Bewegung zu setzen. Und im Laufe der Bewegung werden die Volksrnassen feststellen, daß die Erkämpfung demokratischer Ziele auf den Widerstand des Regimes stößt, und der Sturz des kapitalistischen Regimes und der Kampf um die Macht wird ihnen in konkreter Form erscheinen, als gleichbedeutend mit dem Kampf für die Demokratie. Natürlich genügt die Bewegung allein nicht, um die Erreichung eines solchen Zieles zu gewährleisten. Die Bedingung, unter der die Bewegung eine proletarische Führung erhält, ist, daß es der Partei gelingt, durch ihre aktive Propaganda, sich an die Spitze der Massenbewegung zu stellen, das Proletariat für ihre Ideologie zu gewinnen und die nichtproletarischen werktätigen Massen ideologisch zu beeinflussen.

Die Losungen, deren wir uns bedienen, sind ‚demokratischen Charakters’ (im Sinne der bürgerlichen Demokratie), weil, wenn auch das Ziel, das sie erstreben, nicht die Umwälzung des kapitalistischen Regimes voraussetzt, sie doch nicht verwirklicht werden können, ohne daß eine Volksrevolution entfacht wird, deren Entwicklung dazu führt, daß die Identität des ‚Kampfes für die Arbeiter- und Bauernregierung - der Kampf für den Sturz des kapitalistischen Regimes - und des Kampfes für die Demokratie’ den Massen in einer so klaren Weise wie noch nie klar werden wird.«

Zu den Parolen demokratischen Charakters gehört die allgemeine politische Losung der Agitation unserer Partei, die die drei folgenden Punkte enthält:

a) Republikanische Nationalversammlung auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernkomitees.

b) Arbeiterkontrolle der Industrie und der Banken.

c) Das Land den Bauern.

In der Tat scheint der Kampf für eine republikanische Nationalversammlung, für die Arbeiterkontrolle, für das Land für die Bauern, und dem für eine radikale Demokratie, die noch nicht die proletarische Demokratie ist, gleichbedeutend zu sein. Aber diese Losung kann sich nicht in Form einer Staats macht kristallisieren: in einem bestimmten Augenblick des Kampfes werden sich die Kräfteverhältnisse so geändert haben, daß die Einberufung einer Vertreterversammlung der Arbeiter- und Bauern- delegierten möglich ist, d.h., daß die Arbeiter- und Bauernkomitees das Übergewicht über die Kräfte des Staates erlangt haben: Und in diesem Augenblick wird die Losung der Arbeiter- und Bauernregierung aktuell und konkret sein. Die allgemeine politische Losung republikanische Nationalversammlung usw. gibt dem antifaschistischen Kampf die Klassenrichtung, die dieser; braucht, um siegreich zu sein. Sie verwirklicht die Verbindung zwischen der Notwendigkeit des ‚demokratischen’ Kampfes der nicht-proletarischen Schichten und der anderen Notwendigkeit der Klassenrichtung, die der antifaschistische Kampf haben muß." (Lo stato operaio, ll, 3. März 1928)

Die italienische Kommunistische Partei zeigt mit diesen Ausführungen, daß sie sich klare Gedanken zu machen sucht, über die Klassenstrategie, die zum Kampf um die Macht führt, und im Machtkampf selber. Ob und wie diese Vorschläge noch im einzelnen verbesserungsfähig sind, soll hier nicht behandelt werden. Jedenfalls zeigt die italienische Partei, indem sie diese Vorschläge macht, daß sie die Aufgabe, die Lenin in den "Kinderkrankheiten" stellte, begriffen hat: Die konkreten Wege zu zeigen, die die Massen an die Revolution heranführen.

In Deutschland ist der strategische Vereinigungspunkt für alle ausgebeuteten Klassen gemäß den anderen Voraussetzungen ein anderer: Der Kampf gegen die Trusts und die von ihnen beherrschte Staatsmaschine.