Auszug aus dem Protokoll des 3. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale:

5. Teilkämpfe und Teilforderungen.

Die kommunistischen Parteien können sich nur im Kampfe entwickeln. Selbst die kleinsten kommunistischen Parteien dürfen sich nicht auf bloße Propaganda und Agitation beschränken. Sie haben in allen Massenorganisationen des Proletariats die Vorhut zu bilden, die den zurückgebliebenen, schwankenden Massen durch die Formulierung praktischer Kampfvorschläge, durch das Drängen zum Kampfe um alle Lebensnotwendigkeiten des Proletariats zeigt, wie man kämpfen soll und die auf diese Weise den verräterischen Charakter aller nichtkommunistischen Parteien den Massen enthüllt. Nur indem die Kommunisten sich an die Spitze der. praktischen Kämpfe des Proletariats zu stellen verstehen, nur indem sie diesen Kampf fördern, können sie in Wirklichkeit große Massen des Proletariats für den Kampf um die Diktatur gewinnen.

Die gesamte Agitation und Propaganda, die gesamte Arbeit der kommunistischen Parteien muß erfüllt sein von dem Bewußtsein, daß auf dem Boden des Kapitalismus keine dauerhafte Besserung der Lage der Masse des Proletariats möglich ist, daß nur die Niederwerfung der Bourgeoisie, die Zertrümmerung des kapitalistischen Staates die Möglichkeit gibt, an die Besserung der Lage der Arbeiterklasse zu schreiten, den Wiederaufbau der vom Kapitalismus zertrümmerten Volkswirtschaft in Angriff zu nehmen. Aber diese Einsicht darf sich nicht ausdrücken in dem Verzicht auf den Kampf um die aktuellen, unaufschiebbaren Lebensnotwendigkeiten des Proletariats, bis es fähig sein wird, sie durch seine Diktatur zu verfechten. Die Sozialdemokratie, die jetzt in der Periode des Zusammenbruchs und Zerfalls des Kapitalismus, in der Zeit, wo der Kapitalismus nicht mehr imstande ist, den Arbeitern sogar das Leben sattgefütterter Sklaven zu sichern, das alte sozialdemokratische Programm der friedlichen Reformen aufstellt, der Reformen, die auf dem Boden, in dem Rahmen des bankrotten Kapitalismus mit friedlichen Mitteln durchgeführt werden sollen, betrügt bewußt die arbeitenden Massen. Nicht nur ist der Kapitalismus in der Periode des Verfalls unfähig, den Arbeitern irgendwelche menschliche Lebensbedingungen zu sichern, sondern die Sozialdemokraten, die Reformisten aller Länder beweisen jeden Tag, daß sie nicht gewillt sind, auch um die bescheidensten Forderungen, die in ihrem Programm aufgestellt sind, irgend einen Kampf zu führen. Einen ebensolchen Betrug der Volksmassen bildet die Forderung der Sozialisierung oder Nationalisierung der wichtigsten Industriezweige, wie sie von den zentristischen Parteien aufgestellt wird. Nicht nur führten die Zentristen die Massen irre, indem sie ihnen einzureden suchten, daß die Allgemeinheit die wichtigsten Industriezweige den Händen des Kapitals entreißen könne, ohne daß die Bourgeoisie besiegt werde, sondern sie suchten die Arbeiter von dem wirklichen, lebendigen Kampf um ihre nächsten Bedürfnisse abzulenken durch die Hoffnung der allmählichen Besitzergreifung eines Industriezweiges nach dem andern, worauf erst der "planmäßige" Wirtschaftsaufbau beginnen würde. Sie gelangen so zurück zum sozialdemokratischen Minimalprogramm der Reform des Kapitalismus, das sich in offenkundigen konterrevolutionären Betrug verwandelt hat. Insoweit bei der Aufstellung des Nationalisierungsprogramms, z. B. bei der Kohlenindustrie, bei einem Teil der Zentristen der lassalleanische Gedanke eine Rolle spielt, alle Energien des Proletariats auf eine einzige Forderung zu richten, um sie zum Hebel einer revolutionären Aktion zu machen, die in ihrer Entwicklung zum Kampfe um die Macht führen würde, so haben wir es hier mit einer leblosen Planmacherei zu tun; die Arbeiterklasse leidet jetzt in allen kapitalistischen Staaten unter so vielen, so schrecklichen Geißeln, daß es unmöglich ist, den Kampf gegen all diese erdrückenden Lasten und auf sie niedersausenden Schläge auf einen doktrinär ausgeklügelten Gegenstand zu konzentrieren. Umgekehrt gilt es, jedes Bedürfnis der Massen zum Ausgangspunkt der revolutionären Kämpfe zu nehmen, die erst vereint den mächtigen Strom der sozialen Revolution bilden. Die kommunistischen Parteien stellen für diese Kämpfe kein Minimalprogramm auf, das auf dem Boden des Kapitalismus seinen wankenden Bau stärken und verbessern soll. Die Zertrümmerung dieses Baues bleibt ihr leitendes Ziel, bleibt ihre aktuelle Aufgabe. Um aber diese Aufgabe zu erfüllen, haben die kommunistischen Parteien Forderungen aufzustellen, deren Erfüllung ein sofortiges, unaufschiebbares Bedürfnis der Arbeiterklasse bildet, und sie haben diese Forderungen im Kampfe der Massen zu verfechten, unabhängig davon, ob sie mit der Profitwirtschaft der kapitalistischen Klasse vereinbar sind oder nicht.

Nicht die Existenz- und Konkurrenzfähigkeit der kapitalistischen Industrie, noch die Tagfähigkeit der kapitalistischen Finanzwirtschaft sollen die kommunistischen Parteien beachten, sondern die Grenzen der Not, die das Proletariat nicht ertragen kann und nicht ertragen darf. Wenn die Forderungen dem lebhaften Bedürfnis breiter proletarischer Massen entsprechen, wenn diese Massen von dem Empfinden erfüllt sind, daß sie ohne Verwirklichung dieser Forderungen nicht existieren können, dann werden die Kämpfe um diese Forderungen zu Ausgangspunkten des Kampfes um die Macht. An Stelle des Minimalprogrammes der Reformisten und Zentristen setzt die Kommunistische Internationale den Kampf um konkrete Bedürfnisse des Proletariats, um ein System von Forderungen, die in ihrer Gesamtheit die Macht der Bourgeoisie zersetzen, das Proletariat organisieren, Etappen im Kampfe um die proletarische Diktatur bilden und deren jede für sich dem Bedürfnis der breitesten Massen Ausdruck verleiht, auch wenn diese Massen noch nicht bewußt auf dem Boden der proletarischen Diktatur stehen.

In dem Maße, wie der Kampf um diese Forderungen immer größere Massen umfaßt und mobilisiert, in dem Maße, wie dieser Kampf die Lebensnotwendigkeiten der Massen den Lebensnotwendigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft entgegenstellt, wird die Arbeiterklasse sich bewußt werden, daß, wenn sie leben soll, der Kapitalismus sterben muß; dieses Bewußtsein ist die Grundlage des Willens zum Kampfe um die Diktatur. Es ist die Aufgabe der kommunistischen Parteien, diese unter der Losung konkreter Forderungen sich entwickelnden Kämpfe auszubreiten, zu vertiefen und zu verbinden. Jede Teilaktion, die von den arbeitenden Massen zwecks Erreichung einer Teilforderung unternommen wird, jeder ernstere ökonomische Streik mobilisiert zugleich die ganze Bourgeoisie, die als Klasse sich zur Seite der bedrohten Gruppen der Unternehmer stellt, um jeden auch nur teilweisen Sieg des Proletariats unmöglich zu machen (technische Nothilfe, bürgerliche Streikbrecher im englischen Eisenbahnerstreik, Faszisten). Die Bourgeoisie mobilisiert auch ihre ganze Staatsmaschine zum Kampfe gegen die Arbeiter (Militarisierung der Arbeiter in Frankreich und in Polen, Ausnahmezustand während des Bergarbeiterstreiks in England). Die Arbeiter, die um ihre Teilforderungen kämpfen, werden automatisch zum Kampf gegen die ganze Bourgeoisie und ihren Staatsapparat gezwungen. In dem Maße, wie die Kämpfe um Teilforderungen, wie die Teilkämpfe einzelner Gruppen der Arbeiter sich auswachsen zum allgemeinen Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus, hat die kommunistische Partei auch ihre Losungen zu steigern und zu verallgemeinern bis zur Losung der direkten Niederwerfung des. Gegners. Bei der Aufstellung ihrer Teilforderungen haben die kommunistischen Parteien darauf zu achten, daß diese in dem Bedürfnis der breitesten Massen verankerten Forderungen nicht nur diese Massen in den Kampf führen, sondern auch, daß sie ihrem Wesen nach die Massen organisierende Forderungen sein müssen. Alle konkreten Losungen, die den wirtschaftlichen Nöten der Arbeitermassen entspringen, müssen hineingeleitet werden in das Bett des Kampfes um die Kontrolle der Produktion nicht als eines Planes der bürokratischen Organisation der Volkswirtschaft unter dem Regime des Kapitalismus, sondern des Kampfes gegen den Kapitalismus durch die Betriebsräte wie die revolutionären Gewerkschaften. Nur durch den Ausbau solcher Organisationen, nur durch ihre Verbindung nach Industriezweigen und Industriezentren kann der Kampf der Arbeitermassen organisatorisch vereinheitlicht werden, kann der Spaltung der Masse durch die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsführer Widerstand geleistet werden. Die Betriebsräte werden diese Aufgabe erfüllen nur wenn sie im Kampf um wirtschaftliche Ziele entstehen, die den breitesten Massen der Arbeiter gemeinsam sind, nur wenn sie die Verbindung schaffen zwischen allen revolutionären Teilen des Proletariats: zwischen der kommunistischen Partei, den revolutionären Arbeitern und den sich in revolutionärer Entwicklung befindenden Gewerkschaften.

Jeder Einwand gegen die Aufstellung solcher Teilforderungen, jede Anklage des Reformismus wegen dieser Teilkämpfe ist ein Ausfluß derselben Unfähigkeit, die lebendigen Bedingungen der revolutionären Aktion zu erfassen, wie sie zum Ausdruck kam in der Gegnerschaft einzelner kommunistischer Gruppen gegen die Teilnahme an den Gewerkschaften, gegen die Ausnützung des Parlamentarismus. Nicht darauf kommt es an, dem Proletariat nur die Endziele zuzurufen, sondern darauf, den praktischen Kampf zu fördern, der allein imstande ist, das Proletariat zum Kampfe um die Endziele zu führen. Wie sehr die Einwände gegen die Teilforderungen unbegründet und fremd den Bedürfnissen des revolutionären Lebens sind, das beweist am besten die Tatsache, daß sogar die kleinen Organisationen, die von den sogenannten linken Kommunisten als Zufluchtsstätte der reinen Lehre gebildet worden sind, genötigt waren, Teilforderungen aufzustellen, wenn sie überhaupt versuchen wollten, breitere Arbeitermassen in den Kampf hineinzuziehen als die, die sich um sie scharen oder, wenn sie gewillt sind, teilzunehmen an dem Kampfe breiter Volksmassen, um sie beeinflussen zu können. Das revolutionäre Wesen der jetzigen Epoche besteht eben darin, daß die bescheidensten Lebensbedingungen der Arbeitermassen unvereinbar sind mit der Existenz der kapitalistischen Gesellschaft, daß darum der Kampf auch um die bescheidensten Forderungen sich auswächst zum Kampf um den Kommunismus.

Während die Kapitalisten die immer mehr anwachsende Armee der Arbeitslosen zum Drucke auf die organisierte Arbeitzwecks Herabdrückung des Arbeitslohnes benutzen, halten sich die Sozialdemokraten, Unabhängigen und die offiziellen Führer der Gewerkschaften feigerweise fern von den Arbeitslosen, sie nur als Objekt der staatlichen und gewerkschaftlichen Wohltätigkeit betrachtend, und werten sie politisch als Lumpenproletariat. Die Kommunisten müssen sich klar darüber sein, daß unter den jetzigen Verhältnissen das Heer der Arbeitslosen ein revolutionärer Faktor von riesiger Bedeutung ist. Die Leitung dieser Armee müssen die Kommunisten auf sich nehmen. Durch Druck der Arbeitslosen auf die Gewerkschaften müssen die Kommunisten die Erneuerung der letzteren und in erster Reihe ihre Befreiung von den verräterischen Führern beschleunigen. Die Kommunistische Partei wird dadurch, daß sie die Arbeitslosen im Kampfe für den sozialistischen Umsturz mit dem Vortrupp des Proletariats vereinigt, die am meisten revolutionären und ungeduldigen Elemente der Arbeitslosen von einzelnen Verzweiflungsakten abhalten und die ganze Masse fähig machen, bei günstigen Bedingungen den Angriff einer Gruppe der Arbeiterschaft tätig zu unterstützen, über den Rahmen des gegebenen Konfliktes hinaus zu entwickeln, diesen Konflikt zum Ausgangspunkt einer entscheidenden Offensive zu machen, mit einem Wort so, daß diese ganze Masse aus einer Reservearmee der Industrie zu einer aktiven Armee der Revolution wird.

Indem sich die kommunistischen Parteien mit der größten Energie dieser Arbeiterschicht annehmen, indem sie in die Tiefen der Arbeiterklasse hinabsteigen, vertreten sie nicht die Interessen einer Arbeiterschicht gegen die andere, sondern vertreten damit das Gesamtinteresse der Arbeiterklasse, das die konterrevolutionären Führer verraten um der Augenblicksinteressen der Arbeiteraristokratie willen: je breiter die Schicht der Arbeitslosen, Kurzarbeiter usw. wird, um so mehr verwandelt sich ihr Interesse in das Gesamtinteresse der Arbeiterklasse, um so mehr müssen die vorübergehenden Interessen der Arbeiteraristokratie diesen Gesamtinteressen untergeordnet werden. Die Einstellung, die sich stützt auf die Interessen der Arbeiteraristokratie, um sie feindlich gegen die Arbeitslosen zu kehren oder um die Arbeitslosen im Stiche zu lassen, zerreißt die Arbeiterklasse und ist der Wirkung nach gegenrevolutionär. Die Kommunistische Partei als Vertreterin des Gesamtinteresses der Arbeiterklasse kann sich nicht darauf beschränken, dieses Gesamtinteresse zu erkennen und es propagandistisch geltend zu machen. Sie kann es wirksam nur vertreten, indem sie unter Umständen auch das Gros der am meisten gedrückten und verelendeten Arbeiterschaft gegen den Widerstand der Arbeiteraristokratie in den Kampf führt.