EDWIN HOERNLE: ÜBERGANGSFORDERUNGEN.

ZUR PROGRAMMDEBATTE.

In der Berliner Beilage der "Roten Fahne" "Taktik und Organisation" vom 23. September 1922 veröffentlichte Genossin Ruth Fischer einen Artikel "Zur Debatte und das Programm". Die Eröffnung der Programmdebatte, noch ehe die Kommission den Entwurf des Programms endgültig beraten und mehr als eine kurze Disposition veröffentlicht hat, mag etwas sonderbar anmuten. Nicht länger sonderbar jedoch, wenn man hört, daß der Bezirksparteitag von Rheinland-Westfalen-Nord nach Anhörung eines Referats der extra zu diesem Zweck herbeigeholten Genossin eine Resolution angenommen hat, der die "Aufnahme von Übergangsforderungen in das Programm" ablehnt und eine Gestaltung des Programms wünscht, "die den prinzipiellen und taktischen Unterschied zwischen den Kommunisten und Reformisten klar und deutlich und auch den ungeschultesten Arbeitern verständlich aufzeigt."

Die Resolution besagt also, daß "Übergangsforderungen" sich mit der prinzipiellen und taktischen Klarheit eines Programms nicht vertragen. Holla! denkt der unbefangene Leser dieser Resolution. Was ist jetzt wieder in der Zentrale los? Differenzen? KAG-Strömungen, Abirrungen nach rechts? Schon einmal wurde das Gespenst der Rechtsabirrungen heraufbeschworen, nach der Rathenau-Kampagne. Sollte doch was dran sein? Videant Consules! Diese Wirkung der vorbildlichen Regsamkeit unserer Genossin Fischer zwingt, die begonnene Debatte fortzuspinnen, und zwar zu einer Zeit, in der die deutsche Partei offenbar Dringenderes zu tun hat, als ein Programm schriftlich zu formulieren. Es wird sich jedoch zeigen, daß die Programmfrage doch keine so rein theoretische Angelegenheit ist, wie mancher Genosse befürchtet, und daß uns diese Debatte, wenn richtig gelenkt, mitten hineinführt in die brennenden Aufgaben der Gegenwart. Die Aufrollung der Programmfrage bedeutet zugleich die Revision unserer ganzen bisherigen Taktik.

Worin bestehen die Fürchte und Ängste der Genossin Fischer? Sie schreibt: "Schwieriger wird die Frage des zweiten, speziellen Teils werden. Hier sind bereits Stimmen laut geworden, die dafür sprechen, Übergangsforderungen in das Programm aufzunehmen. So tritt besonders der Genosse Smeral dafür ein, in einer Serie von Artikeln, in der er als solche Hauptübergangsforderungen bezeichnet die Arbeiterregierung und die Frage des Staatskapitalismus." - Es folgt nun ein längeres Zitat aus Smerals Artikeln, dessen Substanz kurz folgendes ist:

"Mit Rücksicht auf die "dem Kommunismus schon sehr nahen Massen" wünscht Genosse Smeral, daß das Programm "die Etappen des kommunistischen Aufbaues nach der Machtergreifung theoretisch wenigstens andeute." Die sympathisierenden Massen stoßen sich an dem Gedanken des plötzlichen Übergangs zum "Kriegskommunismus", und es komme darauf an, diese ersten Maßnahmen der proletarischen Diktatur in Rußland als "von außergewöhnlichen Verhältnissen erzwungen" darzustellen, um schließlich anzudeuten, "in welchem Grade die von der proletarischen Diktatur verordneten Zwangsmaßnahmen es zulassen, eventuell in der ersten Phase es geradezu möglich zu machen, auch die Privatinteressen und die Privatinitiative der einzelnen auszunützen." Smeral wirft dann weiterhin die Frage auf, ob wir in Konsequenz unserer Taktik der Teilforderungen und Einheitsfront die Forderung der Arbeiterregierung nur als einen "methodischen Behelf", d.h. als eine bloße Entlarvungsparole aufstellen wollen, oder ob wir mit der Arbeiterregierung als mit einer "Konstruktion" rechnen, "die in der Übergangsperiode zur Diktatur wenigstens in einigen Staaten eine bestimmte kürzere oder längere Zeit als eine Regierung existieren kann." In diesem Falle, meint Smeral, müßte in unserem Programm nicht nur die Forderung der Arbeiterregierung allgemein ausgesprochen werden, sondern "es müßte gleichzeitig festgesetzt werden, wodurch nach unserer Vorstellung ihre Tätigkeit ausgefü11t werden soll."

Soweit Smeral, dessen Anschauung, wie wir gleich feststellen wollen, mit der Auffassung der übrigen am deutschen Entwurf beteiligten Genossen nicht übereinstimmt. Die Aufgabe eines Programms besteht nicht darin, alle Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der geschichtlichen Entwicklung vor oder nach Eroberung der Macht im voraus abzuwägen, sondern darin, die große, entscheidende Linie anzuzeigen, in der nach marxistischer Auffassung die revolutionäre Entwicklung verlaufen wird, und innerhalb derer die kommunistische Partei als handelnder Faktor auftritt. Die Formulierung des Programms geht nicht aus von der Rücksicht auf die schwankenden Kleinbürgerschichten, sondern ist geschrieben als Wegzeiger für die Entscheidungstruppen dar Revolution, für das industrielle Proletariat. Und gerade im Gegensatz zu Smeral, mit dem eine ausführliche Debatte stattfand, hat Thalheimer im Einverständnis mit der Kommission in der veröffentlichten Disposition betont, daß wir die Übergangsforderungen "ausschließlich im Sinne von Übergangsforderungen formulieren wollen, d.h. als "mögliche Durchgangspunkte, nicht als Haltepunkte für absehbare Zeit", im selben Sinne also wie die Übergangsforderungen im kommunistischen Manifest. Es gehört schon der ganze Scharfsinn, der Genossin Ruth Fischer dazu, um ausgerechnet zu behaupten, Thalheimers Programmentwurf sei "nicht so präzis, aber inhaltlich gleichlautend" mit den Vorschlägen Smerals, eine Behauptung, der ein böswilliger Kritiker leicht die Absicht unterschieben könnte, man habe absichtlich den Unterschied nicht sehen wollen, um so wieder einmal als Zionswächter der Prinzipientreue in der Partei gegen die heimlichen Opportunisten in der Zentrale auftreten zu können. Wir werden also untersuchen müssen:

1. Sollen überhaupt Übergangsforderungen in unser Programm? 2. Worin liegt das Wesen kommunistischer Übergangsforderungen und vor allem der Arbeiterregierung? Zunächst eine Feststellung. Genossin Fischer betont ganz richtig, daß man unterscheiden müsse zwischen Übergangsforderungen , die als Maßnahmen nach Ergreifung der Macht gedacht sind, und zwischen Übergangsforderungen, die vor Ergreifung der Macht erstellt werden und dazu dienen, den Sturz der Bourgeoisregierung durch die revolutionierten Massen zu beschleunigen. Bei dieser Debatte handelt es sich nur um die zweite Gruppe. Und auch bei diesen Übergangsforderungen vor der Ergreifung der Macht nicht um jene, die gestellt werden zur Organisierung des kämpfenden Proletariats, z.B. Bildung von Fabrikkomitees, Arbeiterräte, proletarische Kontrollorgane, sondern um jene, die an die demokratischen Illusionen der Arbeitermassen anknüpfen mit dem Zweck, sie

von diesen Illusionen zu befreien. Genossin Fischer formuliert so: "Liegen zwischen der bürgerlichen Demokratie und der proletarischen Diktatur Stadien, in denen das Proletariat zwar noch nicht die Macht, aber die Bourgeoisie nicht mehr die volle Macht besitzt? Ist dem Proletariat möglich, mit dem Mittel der bürgerlichen Demokratie, mit der Eroberung der demokratischen Regierungsgewalt die revolutionäre Umgestaltung der Wirtschaft im Rahmen eben dieser Demokratie zu beginnen?"

Auf die erste Frage gibt die Genossin Fischer in ihrem Artikel keine Antwort, und doch hängt die richtige Formulierung und Beantwortung der zweiten Frage von der klaren Beantwortung der ersten ab, Wir fragen also: Gibt es Stadien, in denen das Proletariat zwar noch nicht die Macht, aber die Bourgeoisie nicht mehr die volle Macht besitzt? Die Geschichte der russischen Revolution antwortet mit einem klaren Ja. Auch in der deutschen Revolution hatten wir diese Periode; sie endete mit der Niederschlagung des Spartakusaufstandes, mit der Entwaffnung des Proletariats und der Abwürgung der Arbeiterräte. Aus dieser Periode heraus ist das Spartakusprogramm entstanden, sind seine Übergangsforderungen zu verstehen. Rein begrifflich, vom Standpunkt des dialektischen Denkens aus betrachtet, ist auch kein anderer Weg möglich. Um die Macht zu ergreifen, braucht das Proletariat ein ganz bestimmtes Machtbewußtsein und ganz bestimmte Machtorgane, die es beide nicht im luftleeren Raume neben und außerhalb der bürgerlichen Demokratie entwickeln kann, das hieße außerhalb der Geschichte, sondern nur innerhalb dieser Demokratie, d.h. in erbittertem Kampfe mit dieser Demokratie.

Damit kommen wir auf die Hauptsache, auf jenen Punkt, aus dessen unklarer Formulierung heraus alle Fehler der Fischerschen Beweisführung zwangsläufig hervorgehen, nämlich zu der Feststellung: auch die bürgerliche Demokratie ist kein starrer unabänderlicher Mechanismus, der vom ersten bis zum letzten Tage sich gleich bleibt, sondern wie alle geschichtlichen Erscheinungen ein aus den Produktionsverhältnissen hervorgewachsener Organismus, dessen Inhalt und Kräfte sich fortwährend mit den Änderungen im Unterbau umwälzen, auch wenn die Hülle dem oberflächlichen Betrachter gleich zu bleiben scheint.

Die Demokratie eines Kleinbürgerlichen oder Bauernstaates hat nichts Wesentliches gemein mit der welterobernden, imperialistischen Demokratie, und diese Unterscheidet sich wiederum wesentlich von der Demokratie eines kapitalistischen Staates, der bereits von revolutionärer Gärung befallen ist. In den revolutionären Endkämpfen gerät die "Demokratie" in immer größere Widersprüche. Um sich selbst zu schützen, muß sie diktatorische Mittel ergreifen, d.h. sich selbst aufheben. Aus den "außerordentlichen Mitteln in außerordentlichen Zeiten" werden dauernde Mittel für dauernde Zeiten. Der weiße Terror stürzt nicht die Demokratie, sondern etabliert sich unter ihrer Fahne. Die demokratische Staatsmacht duldet nicht nur die illegalen Organisationen der Junker und Kapitalisten, sie flüchtet unter ihre Fittiche, sie stützt sie. Die kleinbürgerlich-sozialistische Politik der Mitte schlägt um in eine Politik gegen links.

Der Begriff der Demokratie selbst wandelt sich. Diktatorische Maßnahmen ,wie Ausnahmegesetze, polizeiliche und militärische Unterdrückungsmaßnahmen werden zu deren unerläßlichen, wesenhaften Bestandteilen. Gleichzeitig wird sie zwar gezwungen, Klassenorgane der revolutionären Arbeiterschaft in ihrem Rahmen zu dulden, die bestimmt sind, ihren Rahmen zu sprengen. Sie versucht sie einzuengen, in ihrer Wirkung zu beschränken, politisch zu neutralisieren, aber sie kann sie nicht hindern, daß sie in entscheidenden Momenten sich wieder auf ihre Klassenaufgabe besinnen, über die gesetz1ichen Dämme hinwegfluten und sich gegen die Demokratie kehren. Der ganze Körper der bürgerlichen Demokratie ist jetzt erfüllt mit der Gärung der gesellschaftlichen Kräfte, mit dem Ringen zwischen Bourgeoisie und Proletariat mit dem wogenden Auf und Ab , den Vorstößen und Rückschlägen eines in den offenen Bürgerkrieg umschlagenden Klassenkampfes. Und im Rahmen dieser Demokratie, nicht irgendeiner absoluten und abstrakten, sondern dieser besonderen Episode in der Demokratie, dieser Übergangszeit, können Zeitpunkte eintreten, wo tatsächlich "das Proletariat zwar noch nicht die Macht, aber die Bourgeoisie nicht mehr die volle Macht besitzt."

Betrachten wir also die Demokratie historisch und nicht abstrakt, so sehen wir sofort, daß schon die Formulierung der Frage durch Ruth Fischer falsch ist, wenn sie ausruft: "Ist es dem Proletariat möglich, mit dem Mittel der bürgerlichen Demokratie, mit der Eroberung der demokratischen Regierungsgewalt die revolutionäre Umgestaltung der Wirtschaft eben im Rahmen dieser Demokratie zu beginnen ?" An einer anderen Stelle spricht Ruth Fischer noch präziser von der Sicherung der Arbeiterregierung "durch Gesetze". Die Genossin sieht nicht, daß der "Rahmen" längst durchlöchert und brüchig geworden ist, sie sieht nicht, daß die bürgerliche Demokratie in einer vorrevolutionären Epoche von der bürgerlichen Demokratie im revolutionären Endkampfe wesentlich verschieden ist.

Da, wo das kämpfende Proletariat in scharfem Ansturm die illegalen Organisationen und diktatorischen Maßnahmen der zersetzten, sterbenden bürgerlichen Demokratie zu Boden schlägt, wo es sich in diesem Kampfe der staatlichen Machtmittel bemächtigt, da ist es selbstverständlich möglich, und mehr sagt niemand, daß die jahrzehntelang mit reformsozialistischen Phrasen abgefütterten Massen zunächst noch einmal vor dem Endakt zurückschrecken, mit ihrem einstweiligen Erfolgen zufrieden sind und sich der Hoffnung hingeben, es genüge, den bürgerlichen Staatsapparat einfach zu übernehmen, die Weißgardisten hinauszuwerfen und Arbeiter an ihre Stelle zu setzen. Dies ist der Moment, wo eine Arbeiterregierung, an der auch Kommunisten teilnehmen, möglich ist, und zwar als ganz konkrete, geschichtliche Tatsache.

Aber in diesem Moment beginnt auch schon der Kampf um die Überwindung dieser Arbeiterregierung, um ihre Reinigung von schwankenden Reformsozialisten, um ihre Stützung durch proletarische Klassenorgane außerhalb des Parlaments, ein Kampf der uns aufgezwungen wird durch die Notwendigkeit, die illegalen Organisationen der Bourgeoisie zu zerstören, die Sabotage der Unternehmer und Bürokraten zu brechen und die wichtigsten jener Übergangsforderungen durchzusetzen, von denen das Kommunistische Manifest sagt, daß sie an sich ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, aber notwendig im Laufe der Bewegung über sich selbst hinaustreiben.

Der Kampf um die Arbeiterregierung schlägt also um in den Kampf um den proletarischen Staatskapitalismus. In diesem zweiten Teil des Kampfes, in, dem Kampf um die funktionelle Betätigung der Arbeiterregierung streifen die Arbeitermassen ihre letzten demokratischen und sozialpazifistischen Illusionen ab. Die Entwaffnung der Konterrevolution wird vollendet durch die organisierte Bewaffnung des Proletariats. Die proletarische Kontrolle der Bewaffnung und Gesetzgebung ruft das Organ der Arbeiterräte ins Leben, treibt die schon bestehenden Keime zur raschen Entfaltung. Die Kontrolle der Produktion und der Versuch einer Erfassung der Sachwerte endet schließlich in der Enteignung der Kapitalisten, in der revolutionären Sozialisierung.