Leo Trotzki:

Ihre Moral und unsere [1]

Die volkstümlichste und eindrucksvollste der gegen die bolschewistische "Amoral" gerichteten Anklagen gründet sich auf die sogenannte jesuitische Maxime des Bolschewismus: "Der Zweck heiligt die Mittel". Von hier aus ist es nicht weit zur nächsten Schlußfolgerung: Da die Trotzkisten, wie alle Bolschewiken (oder Marxisten), die Prinzipien der Moral nicht anerkennen, gibt es keinen "prinzipiellen" Unterschied zwischen Trotzkismus und Stalinismus. Was zu beweisen war.

Eine ganz und gar vulgäre und zynische amerikanische Monatsschrift[2] veranstaltete eine Enquete über die Moralphilosophie des Bolschewismus. Die Enquete hatte, wie gebräuchlich, gleichzeitig den Zielen der Ethik wie denen der Reklame zu dienen. Der unnachahmliche H. G. Wells[3], dessen große Einbildungskraft nur durch seine homerische Selbstzufriedenheit übertroffen wird, zögerte nicht, sich mit den reaktionären Snobs des Common Sense zu solidarisieren. Insofern war alles in Ordnung. Aber selbst solche Teilnehmer, die es für notwendig hielten, den Bolschewismus zu verteidigen, taten dies in der Mehrzahl der Fälle nicht ohne schüchterne Ausflüchte {Eastman![4]): Die Grundsätze des Marxismus sind natürlich schlecht, aber unter den Bolschewiken gab es nichtsdestoweniger wertvolle Leute. Wahrhaftig, solche "Freunde" sind gefährlicher als Feinde.

Könnten wir uns dazu entschließen, die Herren Entlarver ernst zu nehmen, dann müßten wir sie an erster Stelle fragen: Was sind eure eigenen moralischen Prinzipien? Das ist eine Frage, auf die wir kaum eine Antwort erhalten werden. Nehmen wir für einen Augenblick an, weder persönliche noch soziale Ziele könnten die Mittel heiligen.

Dann ist es offenbar notwendig, Kriterien außerhalb der historischen Gesellschaft und der Ziele, die sie sich im Laufe ihrer Entwicklung steckt, zu suchen. Aber wo? Wenn nicht auf Erden, so im Himmel. Die Pfaffen haben seit langem unfehlbare Moralkriterien in der göttlichen Offenbarung entdeckt. Kleine weltliche Pfaffen reden über etwaige moralische Wahrheiten, ohne deren Ursprung zu erwähnen. Wir sind jedoch zu dem Schluß berechtigt: da diese Wahrheiten ewig sind, müssen sie nicht nur vor der Erscheinung des Halbaffen-Halbmenschen auf der Erde, sondern sogar vor der Entstehung des Sonnensystems existiert haben. Woher sind sie also gekommen? Die Theorie der ewigen Moral kann keineswegs ohne Gott auskommen.

Sofern sich die Moralisten der angelsächsischen Schule nicht auf den rationalistIschen Utilitarismus, die Ethik der bürgerlichen Buchführung beschränken, erscheinen sie alle als die bewußten oder unbewußten Schüler des Grafen Shaftesbury[5], der - zu Anfang des 18. Jahrhunderts! - die Moralurteile von einem besonderen "moralischen Sinn" ableitete, der nach seiner Voraussetzung dem Menschen ein für allemal verliehen war. Eine Moral über den Klassen führt unvermeidlich zu der Anerkennung einer besonderen Substanz, eines "moralischen Sinns" oder "Gewissens", zur Anerkennung von irgend etwas Absolutem, was nichts anderes ist als das philosophisch-feige Synonym für Gott. Wenn wir die Moral unabhängig von den "Zielen", d. h. von der Gesellschaft betrachten, erweist sie sich letzten Endes, gleichgültig, ob wir sie von "ewigen Wahrheiten" oder von der "menschlichen Natur" ableiten, als eine Form der "Naturtheologie". Der Himmel bleibt die einzige befestigte Position für militärische Operationen gegen den dialektischen Materialismus.

Zu Ende des letzten Jahrhunderts entstand in Rußland eine ganze Schule von "Marxisten" (Struve[6], Berdjajew[7], Bulgakow[8] u. a.), die die marxistische Lehre durch ein sich selbst genügendes, d. h. über den Klassen stehendes moralisches Prinzip zu ergänzen wünschten. Diese Leute begannen natürlich mit Kant und dem kategorischen Imperativ. Wie aber endeten sie? Struve ist heute Minister a. D. des Barons Wrangel und ein treuer Sohn der Kirche; Bulgakow ist ein orthodoxer Priester; Berdjajew legt die Apokalypse in verschiedenen Sprachen aus. Diese auf den ersten Blick überraschenden Wandlungen erklären sich keineswegs durch die "slawische Seele" - Struve hat eine deutsche Seele -, sondern durch die Wucht des sozialen Kampfes in Rußland. Der Grundzug dieser Metamorphose ist im wesentlichen international.

Der klassische philosophische Idealismus war, soweit er seinerzeit versuchte, die Moral zu verweltlichen, d. h. von ihrer religiosen Sanktion zu befreien, ein gewaltiger Schritt vorwärts (Hegel). Aber nachdem sich die Moralphilosophie vom Himmel losgelöst hatte, mußte sie irdische Wurzeln finden. Es war eine der Aufgaben des Materialismus, diese Wurzeln zu entdecken. Nach Shaftesbury kam Darwin, nach Hegel Marx. Wer heute an "ewige moralische Wahrheiten" appelliert, versucht, das Rad rückwärts zu drehen. Der philosophische Idealismus ist nur ein Übergangsstadium: von der Religion zum Materialismus, oder, umgekehrt, vom Materialismus zur Religion.

Der Jesuitenorden, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (1534) zur Bekämpfung des Protestantismus gegründet wurde, lehrte übrigens niemals, daß jedes Mittel, selbst, wenn es unter dem Gesichtspunkt der katholischen Moral verbrecherisch war(!), erlaubt sel, wenn es nur zum "Ziel", d. h. zum Triumph des Katholizismus führe. Solch eine innerlich widerspruchsvolle und psychologisch absurde Lehre wurde den Jesuiten von ihren protestantischen und teilweise katholischen Gegnern böswillig zugeschrieben, die sich in der Wahl der Mittel, um ihre Ziele zu erreichen, nicht genierten. Die jesuitischen Theologen, die sich wie die Theologen anderer Schulen mit der Frage der persönlichen Verantwortung befaßten, lehrten in Wirklichkeit, daß das Mittel an sich eine gleichgültige Angelegenheit sein kann, und daß die moralische Berechtigung oder Beurteilung des gegebenen Mittels sich aus dem Ziel ergibt. So ist Schießen an und für sich eine neutrale Angelegenheit; Schießen auf einen tollen Hund, der ein Kind bedroht - eine Tugend; Schießen mit dem Ziel, zu verletzen oder zu morden - ein Verbrechen. Die Ausführungen der Theologen dieses Ordens gingen über solche Gemeinplätze nicht hinaus.

Was ihre praktische Moralphilosophie angeht, so waren die Jesuiten keineswegs schlimmer als andere Mönche oder katholische Priester, sie waren ihnen im Gegenteil überlegen; jedenfalls waren sie ausdauernder, kühner und scharfsichtiger. Die Jesuiten stellten eine streng zentralisierte, aggressive, kämpferische Organisation dar die nicht nur für die Fremde, sondern auch für die Verbündeten gefährlich war. In seiner Psychologie und in der Methode seines HandeIns unterschied sich der Jesuit der "heroischen" Periode von einem durchschnittlichen Pfaffen wie der Krieger der Kirche von ihrem Krämer. Wir haben keinen Grund, einen der beiden zu idealisieren. Aber es ist ganz und gar unwürdig, einen fanatischen Krieger mit den Augen eines stumpfen und trägen Krämers zu betrachten. Wenn wir auf der Ebene der rein formalen oder psychologischen Verwandtschaften verbleiben, dann kann man, wenn man will, sagen, daß die Bolschewiki sich zu den Demokraten und Sozialdemokraten aller Schattierungen verhalten wie die Jesuiten zur friedlichen (kirchlichen) Hierarchie. Im Vergleich zu den revolutionären Marxisten erscheinen die Sozialdemokraten und Zentristen wie Minderjährige oder wie der Quacksalber im Vergleich zum Arzt: sie durchdenken kein einziges Problem bis zu Ende, glauben an die Macht der Beschwörung, gehen feig jeder Schwierigkeit aus dem Weg und hoffen auf ein Wunder. Die Opportunisten sind die friedlichen Krämer der sozialistischen Idee, während die Bolschewiki ihre eingefleischten Krieger sind. Daher der Haß und die Verleumdung gegen die Bolschewiki von seiten derer, die ihre historisch bedingten Schwächen im Überfluß, jedoch keinen einzigen ihrer Vorzüge besitzen.

Aber die NebeneinandersteIlung von Bolschewismus und Jesuitismus bleibt völlig einseitig und oberflächlich und ist eher literarischer historischer Natur. Geht man von Charakter und Interessen derjenigen Klassen aus, auf die Jesuiten und Protestanten sich stützen, so stellten die ersteren die Reaktion, die letzteren den Fortschritt dar. Die Begrenztheit dieses "Fortschritts" fand wiederum ihren direkten Ausdruck in der Sittenlehre der Protestanten. So hinderten den Staatsbürger Luther die von ihm "gereinigten" Lehren Christi keineswegs daran, dazu aufzurufen, die aufständischen Bauern wie "tolle Hunde"[9] niederzumachen. Dr. Martin Luther war offenbar, noch bevor dieser Grundsatz den Jesuiten zugeschrieben wurde, der Ansicht, "der Zweck heilige die MitteI". Die mit dem Protestantismus konkurrierenden Jesuiten paßten sich ihrerseits in steigendem Maße dem Geist der bürgerlichen Gesellschaft an, und von den drei Gelübden: Armut, Keuschheit und Gehorsam, blieb nur das dritte übrig, und das sogar in äußerst abgemilderter Form. Vom Standpunkt des christlichen Ideals verfiel die Moral der Jesuiten in dem Maße, wie sie aufhörten, Jesuiten zu sein. Die Krieger der Kirche wurden ihre Bürokraten und, wie alle Bürokraten, leidliche Spitzbuben.

Diese kurze Diskussion genügt vielleicht, um zu zeigen, wieviel Unwissenheit und Beschränktheit erforderlich sind, um ernsthaft das "jesuitische" Prinzip "Der Zweck heiligt die Mittel" einer anderen, scheinbar höheren Moral gegenüberzustellen, in der jedes "Mittel" sein eigenes Moraletikett trägt - wie Waren mit festen Preisen in einem Spezialgeschäft. Bemerkenswert ist, daß der gesunde Menschenverstand des angelsächsischen Philisters es fertiggebracht hat, sich über das "jesuitische" Prinzip zu entrüsten und sich gleichzeitig an der für die britische Philosophie so charakteristischen utilitaristischen Sittenlehre zu inspirieren. Denn das Kriterium Benthams[10] und Mills[11] -."Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl" - bedeutet, daß diejenigen Mittel sittlich sind, die zur allgemeinen Wohlfahrt als dem höheren Ziel führen. Der angelsächsische Uti!itarismus stimmt also in seinen generellen philosophischen Formulierungen völlig mit dem "jesuitischen" Prinzip ,"Der Zweck heiligt die Mittel", überein. Der Empirismus ist also, wie wir sehen, dazu in der Welt, um uns von der Notwendigkeit zu befreien, die Identität beider Kriterien wahrzunehmen.

Herbert Spencer", dessen Empirismus Darwin mit der Idee der Evolution impfte, wie man gegen Pocken impft, lehrte, daß in der Sphäre der Moral die Entwicklung von "Empfindungen" zu "Ideen" fortschreitet. Die Empfindungen richteten sich nach dem Kriterium des unmittelbaren Vergnügens, während die Ideen gestatten, sich von dem Kriterium des zukünftigen, dauernden und höheren Vergnügens leiten zu lassen. "Vergnügen" oder "Glück" ist also auch hier Kriterium der Moral.

Aber die Breite und Tiefe des Inhalts dieses Kriteriums hängt von dem Maßstab der .Entwicklung« ab. Auf diese Weise bewies auch Herbert Spencer durch die Methoden seines eigenen, "evolutionären" Utilitarismus, daß das Prinzip "Der Zweck heiligt die Mittel", nichts "Unmoralisches" enthält.

Es wäre jedoch naiv, von diesem abstrakten "Prinzip" eine Antwort auf die praktische Frage zu erwarten: Was dürfen wir tun und was nicht überdies wirft natürlich das Prinzip "Der Zweck heiligt die Mittel"die Frage auf: Und was heiligt das Ziel? Im praktischen Leben wie im Verlauf der Geschichte verändern Ziel und Mittel fortlaufend ihre Stellung. Eine im Bau befindliche Maschine ist nur insofern ein "Ziel" oder Produkt, wie sie in eine andere Fabrik. als "Mittel" eingeht. Die Demokratie ist in gewissen Perioden das "Ziel" des Klassenkampfes, nur, um danach in sein Mittel verwandelt zu werden. Enthält das jesuitische Prinzip auch nichts Unmoralisches, so ist es doch andererseits weit davon entfernt, das Problem der Moral zu lösen.

Der "evolutionäre" Utilitarismus Spencers[12] läßt uns ebenfalls auf halbem Wege ohne Antwort stehen, da er, Darwin[13] folgend, versucht, die konkrete historische Moral in die für ein Herdentier charakteristischen biologischen Bedürfnisse oder "sozialen Instinkte" aufzulösen, während der Begriff der Moral selbst erst in einem antagonistischen Milieu, d. h. in einer von Klassen zerrissenen Gesellschaft, entsteht.

Der bürgerliche Evolutionismus bleibt auf der Schwelle der historischen Gesellschaft ohnmächtig stehen, weil er die treibende Kraft in der Entwicklung historischer Formen, den Klassenkampf, nicht erkennen will. Die Moral ist nur eine der ideologischen Funktionen in diesem Kampf. Die herrschende Klasse zwingt der Gesellschaft ihre Ziele auf und gewöhnt sie daran, alle Mittel, die ihren Zielen widersprechen, als unmoralisch anzusehen. Das ist die wichtigste Funktion der offiziellen Sittenlehre. Sie verfolgt die Idee des größtmöglichen Glücks - nicht für die Mehrheit, sondern für eine sich ständig verringernde Minderheit. Durch Gewalt allein könnte sich ein solches Regime auch nicht eine Woche lang halten. Es braucht den moralischen Zement. Das Mischen dieses Zements ist der Beruf der kleinbürgerlichen Theoretiker und Moralisten. Sie schillern zwar in allen Regenbogenfarben, bleiben aber letzten Endes ohne Ausnahme Apostel der Sklaverei und der Unterwerfung.

Wer nicht zu Moses, Christus oder Mohammed zurückkehren will und mit eklektischem Hokuspokus nicht zufrieden ist, muß einsehen, daß die Moral ein Produkt der historischen Entwicklung ist, daß es in ihr nichts Unveränderliches gibt, daß sie sozialen Interessen dient, daß diese Interessen widerspruchsvoll sind, daß die Moral mehr als irgendeine andere Form der Ideologie Klassencharakter trägt.

Aber existieren denn keine elementaren moralischen Vorschriften, die sich in der Entwicklung der Menschheit als integraler Bestandteil der Existenz jedes Kollektivs herausgebildet haben? Solche Vorschriften existieren unzweifelhaft, aber ihr Aktionsradius ist äußerst begrenzt und unstabil. Je schärferen Charakter der Klassenkampf annimmt, desto wirkungsloser werden die Normen, die für alle bindend sind. Der Kulminationspunkt des KIassenkampfes ist der Bürgerkrieg, der alle moralischen Bande zwischen den feindlichen Klassen in die Luft sprengt.

Unter normalen Bedingungen befolgt ein normaler Mensch das Gebot "Du sollst nicht töten". Aber wenn er unter der anormalen Bedingung der Notwehr tötet, verzeiht ihm der Richter seine Handlung. Wenn er das Opfer eines Mörders wird, wird das Gericht den Mörder töten. Die Notwendigkeit von Gerichten wie die der Selbstverteidigung ergibt sich aus antagonistischen Interessen. Was den Staat angeht, so beschränkt er sich in Friedenszeiten auf vereinzelte Fälle des legalisierten Mords, um in Kriegszeiten das bindende Gebot "Du sollst nicht töten" in sein Gegenteil zu verwandeln. Die "humansten" Regierungen, die in Friedenszeiten den Krieg "verabscheuen", erklären während des Krieges die Ausrottung einer größtmöglichen Zahl von Menschen zur höchsten Pflicht ihrer Armeen.

Die sogenannten "allgemein anerkannten" Moralvorschriften haben einen wesentlich algebraischen, d. h. unbestimmten Charakter. Sie drücken nur die Tatsache aus, daß der Mensch in seinem individuellen Verhalten durch eine gewisse Anzahl von allgemeinen Normen gebunden ist, die sich aus seiner Existenz als Mitglied der Gesellschaft ergeben. Die höchste Verallgemeinerung dieser Normen ist Kants kategorischer Imperativ[14]. Aber obwohl dieser Imperativ einen hohen Rang im philosophischen Olymp einnimmt, enthält er nichts Kategorisches, weil er nichts Konkretes enthält. Er ist eine Schale ohne Kern.

Diese Leere in den für alle bindenden Vorschriften ergibt sich daraus, daß die Menschen in allen entscheidenden Fragen ihre Klassenzugehörigkeit bedeutend tiefer und direkter empfinden als ihre Zugehörigkeit zur .Gesellschaft. Die "bindenden" Moralvorschriften haben in Wirklichkeit einen Klasseninhalt, das heißt einen antagonistischen Inhalt. Die sittliche Norm wird um so kategorischer, je weniger sie für alle bindend ist. Die Solidarität der Arbeiter, im besonderen der Streikenden oder Barrikadenkämpfer, ist unvergleichlich "kategorischer" als die menschliche Solidarität im allgemeinen.

Die Bourgeoisie, die das Proletariat an Vollständigkeit und Unversöhnlichkeit des Klassenbewußtseins bei weitem übertrifft, hat ein Lebensinteresse daran, ihre Moralphilosophie den ausgebeuteten Massen aufzuzwingen. Eben zu diesem Zweck werden die konkreten Vorschriften des bürgerlichen Katechismus hinter moralischen Abstraktionen versteckt, die dem Patronat der Religion, der Philosophie oder des Bastards "gesunder Menschenverstand" unterstellt werden. Der Appell an abstrakte Normen ist kein uneigennütziger philosophischer Fehler, sondern ein notwendiges Element in der Mechanik des Klassenbetruges. Die Entlarvung dieses Betrugs, der über eine vieltausendjährige Tradition verfügt, gehört zur obersten Pflicht des proletarischen Revolutionärs. Ein Mittel ist nur durch das mit ihm verfolgte Ziel zu rechtfertigen. Aber das Ziel bedarf seinerseits der Rechtfertigung. Vom marxistischen Standpunkt, der die historischen Interessen des Proletariats zum Ausdruck bringt, ist das Ziel gerechtfertigt, wenn es dazu führt, die Macht des Menschen über die Natur zu vermehren und die Macht des Menschen über den Menschen zu vernichten.

"Das bedeutet also. daß zur Erreichung dieses Ziels alles erlaubt ist?" wird der Philister sarkastisch fragen - und er beweist damit, daß er nIchts begriffen hat. Erlaubt ist, antworten wIr, was wirklich zur Befreiung der Menschheit führt. Da dieses Ziel nur durch Revolution erreicht werden kann, trägt die Befreiungsmoral des Proletariats notwendigerweise revolutionären Charakter. Sie tritt nicht nur jedem religiösen Dogma, sondern auch allen idealistischen Fetischen, diesen philosophischen Gendarmen der herrschenden Klasse, unversöhnlich entgegen. Ihre Regeln leiten sich aus den Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft ab, also in erster Linie aus dem Klassenkampf, dem obersten aller Gesetze.

"Alles gut und schön", wird der Moralist hartnäckig erwidern, "aber bedeutet das nun, daß im Kampf gegen die Kapitalisten alle Mittel erlaubt sind: Lüge, Schwindel, Verrat, Mord und so weiter?" Erlaubt und obligatorisch sind jene Mittel, und nur jene Mittel, antworten wir, die das revolutionäre Proletariat einen, seine Herzen mit unversöhnlicher Feindschaft gegen die Unterdrückung erfüllen, die es lehren, die offizielle Moral und ihre demokratischen Nachbeter zu verachten, die es mit dem Bewußtsein seiner eigenen historischen Mission erfüllen, seinen Mut und seinen Opfergeist im Kampf heben. Eben daraus ergibt sich, daß nicht alle Mittel erlaubt sind. Wenn wir sagen, das Ziel heiligt die Mittel, so ergibt sich für uns daraus die Schlußfolgerung, daß das große revolutionäre Ziel solche niedrigen Mittel und Wege verwirft, die einen Teil des Proletariats gegen andere Teile aufhetzen, oder die Arbeiter ohne ihr eigenes Zutun glücklich machen wollen, oder das Selbstvertrauen der Massen und den Glauben an ihre Organisation senken und durch den Führerkult ersetzen. In erster Linie und absolut unversöhnlich verwirft die revolutionäre Moral Knechtseligkeit gegenüber der Bourgeoisie und Hochmut gegenüber den Arbeitern, d. h. jene Eigenschaften, die für die kleinbürgerlichen Pedanten und Moralisten so charakteristisch sind.

Diese Kriterien geben natürlich keine fix und fertige Antwort auf die Frage, was in jedem einzelnen Fall erlaubt ist und was nicht. Solche automatischen Antworten kann es auch gar nicht geben. Die Probleme der revolutionären Moral sind mit den Problemen der revolutionären Strategie und Taktik verbunden. Die richtigen Antworten auf diese Fragen ergeben sich aus der theoretisch durchdrungenen lebendigen Erfahrung der Bewegung.

Der dialektische Materialist kennt keinen Dualismus zwischen Ziel und Mittel. Das Ziel ergibt sich naturnotwendig aus dem historischen Prozeß. Die Mittel sind dem Ziel organisch untergeordnet. Das unmittelbare Ziel wird zum Mittel für ein entfernteres Ziel. In seinem Drama "Franz von Sickingen" legt Ferdinand Lassalle[15] dem Helden folgende Worte in den Mund:

"Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg.

Denn .so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel,

Daß eines sich stets ändert mit dem andern

Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt."

Lassalles Verse sind keineswegs vollkommen. Schlimmer noch ist die Tatsache daß Lassalle selbst in der praktischen Politik von der oben formulierten Regel abwich - es genügt daran zu erinnern, daß er sich selbst (im Mai 1863) auf geheime Abmachungen[16] mit Bismarck einließ! Aber die dialektische Wechselbeziehung zwischen Mittel und Zweck ist in den oben zitierten Versen ganz richtig zum Ausdruck gebracht. Man muß Weizensamen säen, um Weizenähren zu ernten.

Ist zum Beispiel vom Standpunkt der "reinen Moral" individuellerTerror erlaubt oder verboten? In dieser abstrakten Form existiert die Frage für uns überhaupt nicht. Die konservativen Schweizer Bürger bezeugen noch heute dem Terroristen Wilhelm Tell ihr offizielles Lob. Unsere Sympathien sind voll und ganz auf der Seite der irischen, russischen, polnischen und indischen Nationalisten in ihrem Kampf gegen nationale und politische Unterdrückung. Der ermordete Kirow[17], ein roher Satrap, erweckt keinerlei Sympathie. Unsere Beziehung zum Mörder bleibt nur deshalb neutral, weil wir die Motive. die ihn leiteten, nicht kennen. Wenn bekannt würde, daß Nikolajew bewußt für die von Kirow begangene Schändung der Arbeiterrechte Vergeltung übte, wären unsere Sympathien völlig auf Seiten des Mörders. Doch ist nicht die Frage der subjektiven Motive, sondern die der objektiven Zweckmäßigkeit für uns entscheidend. Führt das gegebene Mittel wirklich zum Ziel? Was den individuellen Terror betrifft, bezeugen sowohl Theorie wie Erfahrung, daß dies nicht der Fall ist. Dem Terroristen sagen wir: Es ist unmöglich, die Massen zu ersetzen, nur in der Massenbewegung kannst Du für Deinen Heroismus einen zweckmäßigen Ausdruck finden. Unter den Bedingungen des Bürgerkriegs hört jedoch die Ermordung individueller Unterdrücker auf, ein Akt individuellen Terrors zu sein. Nehmen wir einmal an, ein Revolutionär würde General Franco und seinen Stab in die Luft sprengen, so würde dies wohl selbst auf Seiten der demokratischen Eunuchen kaum moralische Entrüstung hervorrufen.

Unter den Bedingungen des Bürgerkriegs wäre ein solcher Akt politisch vollkommen zweckmäßig. So erweisen sich selbst in der schärfsten Frage - dem Mord des Menschen am Menschen - die moralischen Absoluta als untauglich. Die moralischen Wertungen ergeben sich zusammen mit den politischen aus den inneren Notwendigkeiten des Kampfes.

Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein. Deshalb gibt es kein größeres Verbrechen, als die Massen zu täuschen, Niederlagen als Siege und Freunde als Feinde auszugeben, Arbeiterführer zu bestechen, Legenden zu fabrizieren, falsche Prozesse zu montieren, mit einem Wort: zu tun, was die Stalinisten tun.

Diese Mittel können nur einem Ziel dienen: die Herrschaft einer Clique zu verlängern, die von der Geschichte bereits verurteilt ist. Aber sie können nicht dazu dienen, die Massen zu befreien. Deshalb führt die Vierte Internationale gegen Stalin einen Kampf auf Leben und Tod.

Die Massen sind natürlich keineswegs unfehlbar. Idealisierung der Massen liegt uns fern. Wir haben sie unter verschiedenen Bedingungen, in verschiedenen Epochen und außerdem in den schwersten politischen Erschütterungen gesehen. Wir haben ihre starken und schwachen Seiten kennengelernt. Ihre starken Seiten: Entschlossenheit, Opfergeist, Heroismus, haben immer in Zeiten revolutionären Aufschwungs den klarsten Ausdruck gefunden. In dieser Periode standen die Bolschewiken an der Spitze der Massen. Danach begann ein anderes Kapitel der Geschichte, das die schwachen Seiten der Unterdrückten an die Oberfläche brachte: Ungleichartigkeit, Mangel an Kultur, ein allzu beschränkter Gesichtskreis. Die Massen erschlafften nach der Spannung, wurden enttäuscht, verloren ihr Selbstvertrauen und machten der neuen Aristokratie den Weg frei. In dieser Epoche fanden sich die Bolschewiken ("Trotzkisten") von den Massen isoliert. Wir haben praktisch zwei solch große historische Zyklen erlebt: 1897-1905, Jahre der Flut; 1907-1913, Jahre der Ebbe; 1917-1923, die Periode eines in der Geschichte beispiellosen Aufschwungs, schließlich eine neue Periode der Reaktion, die heute noch nicht zu Ende ist. In diesen gewaltigen Ereignissen lernten die "Trotzkisten" den Rhythmus der Geschichte, d. h. die Dialektik des Klassenkampfes.

Sie lernten auch, und, wie es scheint, bis zu einem gewissen Grade mit Erfolg, wie sie ihre subjektiven Pläne und Programme diesem objektiven Rhythmus unterzuordnen haben. Sie lernten, nicht an der Tatsache zu verzweifeln, daß die Gesetze der Geschichte weder von ihrem persönlichen Geschmack abhängen noch ihren Moralkriterien untergeordnet sind. Sie lernten, ihre persönlichen Wünsche den Gesetzen der Geschichte unterzuordnen. Sie lernten, sich auch von den mächtigsten Feinden nicht schrecken zu lassen, wenn deren Macht im Widerspruch zu den Gesetzen der historischen Entwicklung steht. Sie verstehen es, gegen den Strom zu schwimmen, in der tiefen Gewißheit, daß die neue historische Flut sie an das andere Ufer tragen wird. Nicht alle werden dieses Ufer erreichen, viele werden ertrinken. Aber an dieser Bewegung mit offenen Augen und angespanntem Willen teilnehmen - nur das kann einem denkenden Wesen die höchste moralische Befriedigung gewähren.

P. S. Ich schrieb diese Zeilen in jenen Tagen, als mein Sohn, ohne daß ich davon wußte, mit dem Tode rang. Seinem Angedenken widme ich diese kleine Arbeit, die, so hoffe ich, seine Zustimmung gefunden hätte. Leo Sedow[18] war ein echter Revolutionär und verachtete die Pharisäer. L. T.


[1] Der Titel der Arbeit lautet eigentlich Ziele und Mittel. Der hier verwendete Titel wurde bereits in der deutschen Erstveröffentlichung in der Zeitung Unser Wort, Nr. 88, 6. Jhg. , Heft 4/5 (Anfang Oktober 1933) verwendet.
[2] Common Sense, New York
[3] Herbert George Wells (1866-1946, englischer Schriftsteller
[4] Max M. Eastman (1883-1969), 1911-1918 Herausgeber der sozialistischen Zeitschrift The Maßes, von 1918-1922 der Zeitschrift The Liberator. Sympathisierte mit der Linken Opposition und übersetzte einige Bücher Trotzkis, wurde später Antikommunist.
[5] A.A.C. Graf von Shaftesbury (1671-1713), Vertreter einer harmonischen Lebensauffassung (Inqiry Concerning Virtue, 1699)
[6] Peter B. Struve (1870-1944), russischer Ökonom, Vertreter des "legalen Marxismus", war zunächst Sozialdemokrat, später Mitglied der liberalen Kadettenpartei, nach dem Bürgerkrieg Führer einer monarchistischen Emigrantenorganisation.
[7] Nikolai A. Berdjajew (1874-1948), russischer Philosoph, wandte sich später vom Marxismus ab, mußte 1922 ins Exil.
[8] Sergej N. Bulgakow (1871-1944) russischer Theologe, wandte sich vom Marxismus ab, wurde 1918 Priester.
[9] so Luther in "Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern", Wittenberg 1525
[10] Jeremy Bentham (1748-1832), englischer Philosoph, Begründer des Utilitarismus.
[11] John Suart Mill(1806-1873), Vertreter des Positivismus in der Tradition A. Comtes, in Fragen der Ethik Utilitarist
[12] Herbert Spencer (1820-1903), engl. Philosoph und Soziologe, Hauptvertreter der Evolutionstheorie
[13] Charles R. Darwin (1809-1882), englischer Biologe.
[14] "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst. daß sie ein allgemeines Gesetz werde" - Immanuel Kant in: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785
[15] Ferdinand Lassalle (1825-1864), Gründer des sozialdemokratischen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins im Jahre 1863.
[16] Lassalle bot Bismarck ein Bündnis gegen das liberale Bürgertum im Austausch gegen das freie und geheime allgemeine Wahlrecht an
[17] Sergej Kirow (1886-1934), seit 1923 im ZK der KPdSU, seit 1926 Leningrader Parteichef, wurde vermutlich mit Wissen der GPU von Leonid Nikolajew am 01.12.1934 erschossen. Der Mörder wurde mit 14 anderen Komsomolzen in einem Geheimverfahren zum Tode verurteilt und danach hingerichtet. Der Mord an Kirow eröffnete die großen Säuberungswellen in der KPdSU.
[18] Leon Sedow (1906-1938), Trotzkis ältester Sohn. Mitglied der linken Opposition, Herausgeber des russischen Bulletins der Linken Opposition, 1938 von der GPU in Paris ermordet.