Ingo Wagner: Eine Partei gibt sich auf

Begriffe werden zu Kaugummi

Rezension zu

Ingo Wagner

Eine Partei gibt sich auf

Theoretisch-politische Glossen zum Niedergang der Partei des Demokratischen Sozialismus

Berlin, edition ost, 2004, ISBN 3-360-01056-6, € 9,90

Als erste marxistische Wortmeldung von Gewicht nach der Niederlage der Linken auf dem Chemnitzer Programmparteitag liegt nun diese Sammlung von Glossen des prominenten Leipziger PDS-Kritikers Ingo Wagner in Buchform vor.

Der Autor, der mit der Annahme des neuen PDS-Parteiprogramms einen längeren historischen Prozeß als abgeschlossen betrachtet, reagiert in seiner Streitschrift aber nicht nur auf dieses Programm und seine innerparteilichen Wirkungen, sondern analysiert eben jenen Entwicklungsprozeß zwischen 1990 und 2003. Wie bei einem profunden Kenner und Kritiker von Politik und Programm der PDS nicht anders zu erwarten, kommt er zu einem eindeutigen Schluß: die PDS ist zu einer sozialdemokratischen Partei “sui generis” degeneriert.

Genau dieser “Transformationsprozeß” von der staatstragenden und sich äußerlich kommunistisch gebärdenden SED zur kleinbürgerlich-opportunistischen PDS wird unter verschiedenen Fragestellungen untersucht. Im Zentrum der zuweilen erfreulich polemischen Erörterungen steht dabei das programmatisch-theoretische Agieren jener “Vordenker” um die Gebrüder Brie und D. Klein sowie der Politiker um G. Gysi, L. Bisky, D. Bartsch und G. Zimmer. Diese auch als “Küchenkabinett” der PDS in Verruf geratene fraktionelle Gruppe hat die Partei systematisch in Politik und Programmatik auf einen rechtsopportunistischen Kurs gelenkt, der weitgehend im krassen Widerspruch zu den Interessen ihrer Wähler steht. Die “theoretische” Grundlage dieser Gruppe ist das, was der Autor als “Modernen Sozialismus” bezeichnet, und genau dieser steht im Mittelpunkt seiner kritischen Abrechnung.

Da der Rezensent mit Ingo Wagner schon lange in Grundpositionen übereinstimmt, war er natürlich sehr gespannt auf dieses Buch. Selbstverständlich ergeben sich aus einer solchen Gemeinsamkeit Vorfragen, deren Beantwortung man sich wünscht und um es vorweg zu sagen: es ist ein sehr wichtiges Buch, dem man viele aufmerksame Leser, nicht nur im Umfeld der PDS, wünscht.

Die erste Frage war, ob man die Herkunft und den Inhalt des Modernen Sozialismus erklärt bekäme. Der Autor entschlüsselt sehr präzise das “Geheimnis der spekulativen Konstruktion” (MEW Bd. 2, S. 59-63) der Philosophie der “Modernen Sozialisten”, wenn er schreibt: “Gesellschaftswissenschaftliche Begriffe, die keinen Durchschnitt realer Erscheinungen des jeweiligen Typs vermitteln, sondern nur einen Idealtypus angeben, werden mit historisch-konkreter Gesellschaftsbetrachtung vermischt. Die Aufgabe des Marxismus - insbesondere seiner Geschichtsphilosophie und Revolutionstheorie - ist mit “Neomarxismus” gepaart, da eine totale Rückkehr zur vormarxistischen Sozialwissenschaft undenkbar ist. … Richtiges ökonomisches und soziologisches Material wird oft “an sich” in den Text eingefügt usw. usf. Eine solche “Argumentationslogik” rechnet offensichtlich mit der Unwissenheit, mit der fehlenden Orientierung der Opponenten …(S.28)”. Der Autor beschreibt zu Recht den inneren theoretischen Gehalt des Modernen Sozialismus als “phänomänal”, das Ganze ist eine Amalgam zueinander nicht passen wollender Teile, deren Hauptzweck darin besteht, eine “Beliebigkeit” der politischen Auslegung zu ermöglichen. “Deshalb geraten Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde zu Kaugummi” (S. 15).

Die innere Verklammerung von Theorie und Praxis, Modernem Sozialismus und PDS-Führung führt der Autor im folgenden ausführlich und materialreich vor. Er ertappt M. Brie mit der entlarvenden Aussage, daß hundert praktische Schritte in der Politik praktisch ein neues Parteiprogramm schaffen, das sich aber der programmatischen Kritik entziehe, da es nur im Bewußtsein der Macher existiere. Wagner hält ihm entgegen: “Regierungsbeteilungen auf Länderebene sind natürlich keine einfachen praktischen Schritte. Und das “praktisch” neue Programm, das nur “im Bewußtsein der politischen Macher der Partei” existieren soll, scheint ein Produkt Außerirdischer zu sein. Sollte es deshalb immun gegen “programmatische Kritik” sein? Immerhin kann man noch erkennen, daß die ganz einfachen praktischen Schritte sich scheinbar aus den Notwendigkeiten des Alltags der Politik ergeben. Ergo: de facto muß es solche Notwendigkeiten geben! (S. 30)”.

Damit ist zugleich das für heute Entscheidende gesagt: nicht die sogenannten Sachzwänge sind die Ursache der anti-sozialen Politik der z.B. Berliner Genossen Senatoren, sondern ihre ideologische Bereitschaft, sich auf alles einzulassen, was ihnen hilft, im Kapitalismus “anzukommen” und ihn mitzugestalten.

Ziel aller Begriffsakrobatik in den nach Dutzenden zählenden Programmschriften ist es, den Sozialismus innerhalb des Kapitalismus zu verwirklichen. Gerade das konsequente Leugnen der Notwendigkeit des Systemwechsels mache den Bruch mit dem Marxismus aus, sei der sichtbarste Ausdruck des Übergangs von sozialistischer zu kleinbürgerlich-opportunistischer Denkweise. Wagner: “Der schier unerschöpfliche Springbrunnen der Utopie des Modernen Sozialismus in Form von Aufgaben, Wünschen, Appellen oder Vorahnungen usw., ist eine Art von spekulativer Utopie. Aber zugleich reflektiert er Tatsachenmomente der gesellschaftlichen Realität - wenn auch vereinzelt, verkürzt und ideologisch gebrochen; deshalb utopischer Realismus (S. 41).”

Dies wird vom Autor präzise herausgearbeitet, mit Beispielen belegt, wobei auch scheinbar nebensächliche Fragestellungen aufgegriffen werden, - übrigens einer der wichtigsten Vorzüge des Buches. Nur durch die genaue und detailreiche Darlegung, wie und in welchen Schritten der Moderne Sozialismus in die PDS implantiert wurde, wird dieser Prozeß auch für Außenstehende nachvollziehbar. Erst durch das Bloßlegen der langfristig geplanten, offensichtlich mit strategischem Anspruch und manch taktischem Ungeschick schrittweise durchgeführten Umwandlung der PDS-Ideologie, wird diese als Prozeß begreifbar und der historischen Analyse überhaupt erst zugänglich. Insofern sind die Wagnerschen Glossen eine wichtige Arbeitsgrundlage für jede weitere Publikation zur Geschichte der PDS

Widersprechen muß ich allerdings, wenn gesagt wird, daß die Wurzeln des Modernen Sozialismus aus der Endzeit der DDR und der Sozialismusforschung an der Berliner Humboldt-Universität herrühren (S. 36). Als Zeitzeuge und Beteiligter habe ich anzumerken, daß die Mehrheit der dortigen Forscher an einer ernsthaften Bewältigung der Probleme, Krisen und Widersprüche des “realen Sozialismus” interessiert war. Die inhaltlich-theoretische Trennung dieser Mehrheit von den heutigen Modernen Sozialisten erfolgte 1986/87 und zwar wegen einer methodologisch-theoretischen Grundfrage. In den Worten meines hochverehrten Lehrers Gottfried Stiehler gesagt, die Gruppe um M. Brie betrieb “Kommunismus-Schwärmerei”, soll heißen: man wollte die Gesellschaft erkennen, indem man den Unterschied zwischen real-sozialistischer Wirklichkeit und kommunistischem Ideal aufzeigte und aus der so gefundenen Diskrepanz die Aufgaben und Schritte der Veränderung ableitete. Die Mehrheit war der “alten”, materialistischen Auffassung, daß es darum gehe, die gesellschaftliche Entwicklung aus ihren selbst produzierten eigenen Bedingungen, Gesetzen und Voraussetzungen als ganzheitlichen Prozeß zu begreifen. Deshalb hätte man sich verstärkt den realen Widersprüchen, Konflikten und Triebkräften dieser DDR zuzuwenden. Dieses “die Gesellschaft so begreifen, wie sie tatsächlich ist und nicht, wie sie das Politbüro gerne hätte” wurde uns von der SED-Führung alles andere als leicht gemacht, während die “Ideal-Praxis-Konstruktionen” der Modernisierer gern gesehen wurden, denn sie hatten ja nichts mit der Realität zu tun. Man kann nun feststellen, um auf den Rezensionsgegenstand zurückzukehren, Ingo Wagner zeigt auf, daß die “Brieaner” noch immer dasselbe unter anderem Vorzeichen machen, “Kapitalismus-Schwärmerei”. Auch hier wird ein idealer Kapitalismus (ohne Profitdominanz, freiheitsliebend, prinzipiell zu sozialer Gerechtigkeit fähig, friedlich usw.) konstruiert und der höhere politische Zeck der PDS sei, dieses ideale Wesen endlich zu verwirklichen. Das ist noch unwahrscheinlicher, als die Vorstellung, daß die bürokratisierte SED einen wirklichen Kommunismus hätte errichten können.

Eine weitere Vorfrage war, ob der Autor deutlich machen kann, daß die Modernen Sozialisten heftig an einer Legitimierungs-Legende arbeiten, die da lautet, sie würden den “Transformationsprozeß” im Auftrag der Mitgliedermehrheit vollziehen, die ja auf dem Januar-Parteitag 1990 eine Erneuerung beschlossen habe. Wagner: “Der Moderne Sozialismus wurde so von einer kleinen intellektuellen Minderheit bereits mit Gründung der PDS ins Spiel gebracht und zunächst in kleinen Dosen eingeführt. Er begann um die programmatische Hegemonie zu kämpfen und verstand es dabei, ernsthaften Debatten auszuweichen.” Die unzähligen taktischen Winkelzüge, Statutenbrüche, Aushöhlungen von Parteitagsbeschlüssen etc. werden vom Autor benannt bzw. die Quellen aufgelistet.

Von besonderer Qualität und weit über den eigentlichen Gegenstand des Buches hinausgehend ist für den Rezensenten die Tatsache, daß I. Wagner nicht bei der Kritik der Konzeption des Modernen Sozialismus stehenbleibt, sondern Vorschläge für eine Diskussion um das sozialistische Programm der Gegenwart unterbreitet. Dieser Teil des Buches, der fast ein Drittel des Textes umfaßt, gibt nicht nur allgemeine Leitlinien und Grundfragen einer solchen programmatischen Debatte vor, sondern Wagner veröffentlicht auch konkrete Teile eines Programms (entstanden in Zusammenarbeit mit H. Kallabis und G. Krusch), die einer eigenen Darstellung wert wären.

Ebenfalls für die weitere Debatte sehr wichtig ist der theoretisch-historische Ansatz des Autors, bei der PDS handele es sich um eine sozialdemokratische Partei sui generis (der eigenen Art). Die Wagnersche Argumentation überzeugt und sollte Ausgangspunkt zukünftiger Einschätzungen dieser Partei sein. Richtig ist vor allem die Festsstellung, daß die PDS als Resultat des Modernen Sozialismus insgesamt zurückfällt “hinter E. Bernstein, … der als reformistischer Sozialist wollte, daß die Sozialdemokratie die kapitalistische Produktionsweise überwindet - obwohl seine politischen wie ökonomischen und philosophischen Theorien nicht geeignet waren, die sozialistische Ordnung zu verwirklichen. Die PDS ist insofern keine klassische reformistische Partei. Sie ist eine moderne “linke” Partei des kleinbürgerlichen Sozialreformismus, die als Sozialdemokratie sui generis den Sozialismus der Bourgeoisie repräsentiert(S. 136)”.

Der Autor wendet sich auch der schwierigen Frage zu, ob die PDS so etwas wie einen “historischen Auftrag” habe und schreibt: “Die PDS wird so versuchen, dieses System (den Kapitalismus - P.F.), durch die Beschneidung seiner extremen Auswüchse zu erhalten. Und eine solche Positionierung verlangt, Linke den sozialen und ökonomischen Erfordernissen des Kapitals unterzuordnen, sie in den politischen Mainstream der bürgerlichen Gesellschaft einzuordnen und in deren kulturelle Hegemonie einzubeziehen.” Und weiter, Schneider zitierend: “die Herausbildung eines oppositionellen oder gar revolutionären Subjekts zu verhindern und das objektiv existierende Protestpotential in den Kapitalismus zu überführen (S. 138).”

Dies ist sicher objektiv richtig und unbestreitbar. Inwieweit dabei die Akteure des Modernen Sozialismus aber auch subjektiv eine “Agentur” des Kapitals innerhalb der PDS sind, wie von einigen Verschwörungstheoretikern immer wieder hartnäckig behauptet wird, läßt der Autor weitgehend offen (S. 137). Hier hätte man sich eine klarere Abgrenzung gewünscht. Richtig bleibt aber die Feststellung: “Ob die PDS außer dem “Gebrauchswert auch den Begriff “Tauschwert” beansprucht, darf unerörtert bleiben, so lange PDS-Politiker ihren Tauschwert nicht öffentlich taxieren.”

Eine andere wichtige Frage war, ob es gelingen würde, eine Erklärung dafür zu finden, warum die Mehrheit der Mitglieder dieses hat mit sich machen lassen, wie es den Modernen Sozialisten gelingen konnte, sie auf ihrem verhängnisvollen Weg nach Rechts mitzunehmen. Wagner: “Alle Hoffnungen von marxistischen Linken in der PDS, mit Hilfe der Basis die PDS vor dem Niedergang retten zu können, waren auf Sand gebaut. … Die Basis konnte schon seit längerer Zeit keinen praktisch-politischen “Korrekturkampf” mehr führen… Hierfür gibt es viele Gründe: die Altersstruktur, die soziale Zusammensetzung, die Sozialisierung der Mehrheit der Mitglieder in einer staatstragenden Partei (SED), das Fehlen jeglicher theoretischer Bildungsarbeit u.a. mehr”(S. 143). Hinzu käme der ideologisch-geistige Druck der Modernen Sozialisten, der nicht ohne Wirkung geblieben sei. Bei aller Zustimmung zu diesen Argumenten, hätte sich der Rezensent gerade an dieser Stelle eine Vertiefung gewünscht, dies bleibt in Zukunft noch zu leisten.

Zuletzt noch die Frage nach der Verantwortung der Linken, ihr widmet der Autor ein ganzes Kapitel, das für den Rezensenten das Spannendste des ganzen Buches ist. Wagners genereller Feststellung, daß sich “die marxistische Linke durch bloße taktisch-politische und theoretische Zugeständnisse in die Rolle drängen ließ, als Feigenblatt der reformistischen Parteiführung zu fungieren. …. Es gibt keinen ernsthaften Konflikt zwischen Parteiführung und Parteibasis” (S. 144), ist nichts hinzuzufügen. Wagner sieht zu Recht die entscheidende Ursache für das Versagen der Linken darin, daß es ihr nicht gelungen ist, sich auf eine gemeinsame programmatische Sozialismusvorstellung zu einigen, um beim Kampf zur Verteidigung dieser gegen die Modernen Sozialisten zu punkten und er kritisiert zu Recht das besondere Versagen der Kommunistischen Plattform (S. 171).

Zum Editorischen ist anzumerken, daß es leider im üblichen schlampigen Rahmen der Veröffentlichungen der edition ost verbleibt: ein solches Buch ohne Personenregister, separates Quellenverzeichnis und mit der sehr hinderlichen Mischung von Anmerkung und Quellenverweis, behindert seinen Charakter als Arbeits- und Handbuch doch erheblich. Man hätte dem Autor auch einen konsequenteren Lektor gewünscht, der die vielen Doppellungen (selbst bei Zitaten) etwas rafft, auch wenn sie von Wagner offensichtlich nach dem Prinzip “Lernen durch Wiederholen” eingesetzt wurden, so stören sie doch den aufmerksamen Leser.

Im Ganzen ein wichtiges und wertvolles Buch, zum Teil in seiner Schärfe sogar vergnüglich, der Begriff Glossen daher durchaus angebracht, dem man unbedingt eine weiterführende Debatte innerhalb der Linken wünscht, nicht als Selbstzweck, sondern als Selbstverständigung und damit als Voraussetzung für eine neues Parteiprojekt. Die Notwendigkeit der Neuformierung einer marxistischen Partei wird vom Autor betont und Bedingungen ihrer Entstehung werden sorgfältig erörtert, auch dies ein originärer Beitrag zur Debatte.

Zusammenfassend kommt der Autor zu dem Resultat, daß die PDS als Mittel im Klassenkampf in Zukunft ausscheidet, ja daß ihre Existenz sogar ein Hindernis für die notwendige Neuformierung der marxistisch fundamentierten Massenpartei der Werktätigen geworden ist. Insofern haben die Modernen Sozialisten also ihre langfristige Operationsstrategie erfolgreich abgeschlossen, der “Transformationsprozeß” ist beendet. Aber nach dem Lesen von Wagners Glossen bleibt nur ein Fazit: Operation gelungen — Patient tot.

Peter Feist, Dipl.-Philosoph, Berlin,

Arbeitskreis Marxistische Theorie und Politik

April 2004