Wolfgang Harichs Vortrag

"Deutschland - Spaltung und Vereinigung"[1]

-eine Rezension-

Unter diesem Titel wurde jüngst ein Vortrag Wolfgang Harichs veröffentlicht, den er am 31. Oktober 1991 in Köln gehalten hat. Mit der editorisch wenig erläuterten Herausgabe dieser Rede Wolfgang Harichs und der Begleittexte haben seine treuen Schüler in der Wolfgang Harich-Gesellschaft ihm sicher keinen Gefallen getan, sondern nur bewiesen, daß sie Wolfgang Harichs größte Irrtümer teilen, ihn gerade wegen seiner Irrtümer lieben und verteidigen. Zu diesen Irrtümern Wolfgang Harichs rechnet sein Nationalkommunismus.

So richtig es ist, daß der proletarische Internationalismus als Idee eine seiner Wurzeln im frühbürgerlichen Patriotismus und dem Ideal der Gleichheit der Nationen hat - so richtig es ist, daß der Klassenkampf, wie Marx schrieb, seiner Form nach national ist und daher das Proletariat jedes nationalen Staates sich durch seine Revolution zur herrschenden Klasse erheben und sich selbst damit zunächst zur Nation transformieren muß, so falsch ist es, hieraus zu schließen, daß das Proletariat der imperialistischen Länder noch vorrangige nationale Aufgaben zu lösen habe.

Das Proletariat ist bereits im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft eine internationale Klasse. Die proletarische Revolution ist im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution ihrem Inhalt nach international und ihr Ziel die Organisation einer internationalen Gesellschaft, in der die nationalen Besonderheiten in einer neuen Menschheitskultur aufgehoben werden.

Natürlich heißt das nicht, daß die Bourgeoisien der imperialistischen Länder alle Aufgaben der bürgerlichen, nationalen Revolution gelöst hätten. Doch nötigen die nichterledigten Reste der Aufgaben der bürgerlichen Revolutionen das Proletariat der kapitalistischen Länder nicht dazu, seinen Revolutionen jeweils eine besondere, nationale Etappe voranzustellen. Das Proletariat benötigt demzufolge auch kein "nationales" Programm, auch nicht unter dem Deckmantel einer antifaschistisch-demokratischen Etappe. Es wird diese von der Bourgeoisie nicht erledigten Aufgaben der bürgerlichen Revolution im Vorübergehen lösen, im Zuge seiner sozialen Revolution. Dies hatte z.B. Rosa Luxemburg in ihrer Junius-Broschüre noch nicht vollständig begriffen und noch ein nationales Programm formuliert, was von Lenin zu recht und deutlich kritisiert wurde:

"1793 und 1848 stand objektiv sowohl in Frankreich als auch in Deutschland und ganz Europa die bürgerlich-demokratische Revolution auf der Tagesordnung. Dieser objektiven historischen Lage entsprach das 'wahrhaft-nationale', d.h. national-bürgerliche Programm der damaligen Demokratie, das im Jahre 1793 von den revolutionärsten Elementen der Bourgeoisie und der Plebejer verwirklicht und im Jahre 1848 von Marx im Namen der gesamten fortschrittlichen Demokratie verkündet wurde. (...) Jetzt ist für die führenden, größten Staaten Europas die objektive Lage eine andere. Die Vorwärtsentwicklung - wenn man von möglichen, vorübergehenden Rückschlägen absieht - ist zu verwirklichen nur in der Richtung der sozialistischen Gesellschaft, der sozialistischen Revolution." (Lenin, Werke Bd. 22,321 - Hervorhebungen im Original)

Alleiniger Bezugspunkt sozialistischer Politik im imperialistischen Zeitalter ist deshalb das Klasseninteresse des Proletariats: "Die Proklamierung eines großen historischen Programms wäre zweifellos von großer historischer Bedeutung, aber nicht eines alten und für die Jahre 1914-1916 schon veralteten national-deutschen, sondern eines proletarisch-internationalen und sozialistischen Programms."(Lenin,a.a.O., S.323). Ein derartiges Programm knüpft nicht an an fiktive "nationale" Interessen. Die Fiktion nationaler Interessen kann in der bürgerlichen Gesellschaft immer nur ideologischer Mantel der sozialen Interessen einer oder mehrerer Klassen sein, die als Gemeininteresse oder als nationales Interesse geltend gemacht werden. Das Proletariat muß sich demgegenüber zuallererst Klarheit über seine Stellung zu allen anderen Klassen der Gesellschaft verschaffen. Es muß sich seiner eigenen Interessen bewußt werden. Nur so kann es seinen Kampf siegreich beenden.

Die Zerstörung der ideologischen Fiktionen bzw. Illusionen von Volksgemeinschaft, Nation und nationalem Interesse ist deshalb sowohl Mittel wie auch Zweck sozialistischer Politik. Der Kampf gegen die nationale Ideologie ist allerdings nicht Selbstzweck und schon gar nicht als Politikersatz geeignet, wie er in seiner absurdesten Zuspitzung von den historisch ungebildeten antideutschen Wirrköpfen betrieben wird. Und mit einem Amoklauf gegen einen kosmopolitisch verstandenen Kulturpatriotismus hat dieser Kampf erst recht nichts zu tun.

Wolfgang Harichs Analyse der deutschen Spaltung ebenso wie sein Plädoyer für die deutsche Einheit steht, worauf er die geschichtslose westdeutsche Linke zu Recht hinweist, in der ideologischen Kontinuität der Politik von KPD und SED. Aber Harich nimmt zugleich die Position eines Außenseiters ein, der die Logik dieser Politik zur Grundlage seines Denkens macht und mit intellektueller Brillianz immer wieder zur Unzeit einklagt, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, welche sozialen Interessen diese Logik begründet haben. Damit mußte er als Kommunist den Boden unter den Füßen verlieren und scheitern.

Harich erinnerte daran, daß Hitlers Zweifrontenkrieg gegen andere imperialistische Mächte und gegen die Sowjetunion eine Spaltung möglich, aber nicht unvermeidlich machte. Ein Rückfall in die Kleinstaaterei konnte natürlich nicht im proletarischen Interesse liegen. Das Ziel der Arbeiterklasse konnte dennoch nur die einheitliche sozialistische Republik sein. Das sah die KPD 1945 als einzige der damals zugelassenen Parteien in Deutschland anders. Die KPD und dann die SED hatten nach 1945 anstelle der sozialen Revolution eine Art linksbürgerlichen Patriotismus propagiert, gepaart mit Antifaschismus und Sowjetfreundlichkeit. Der Sozialismus wurde dem nationalen Programm untergeordnet, nicht umgekehrt demokratische, darunter auch nationale Forderungen den Bedürfnissen des sozialistischen Kampfes. KPD und SED versuchten so, den Vorgaben Stalins gerecht zu werden, der zugunsten eines Ausgleichs mit dem Imperialismus dem Klassenkampf Fesseln anzulegen gewillt war und seine Sicherheitsinteressen mit anderen Mitteln Geltung verschaffen wollte, als mit den Mitteln der sozialistischen Revolution.

Die UdSSR habe, so die diesbezüglich kritiklose Einschätzung Harichs, ein ganzes Deutschland gebraucht, um ihre Reparationsforderungen durchzusetzen und ihr Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen. Die Spaltung sei letztlich bis 1955 abwendbar gewesen. Dies sei bis dahin das erklärte Ziel der sowjetischen Führung gewesen, die sowohl unter Stalin wie auch unter seinen Nachfolgern wiederholt bereit gewesen war, die DDR preiszugeben. Die Wiederherstellung scheiterte damals bekanntlich an der Ablehnung aller Vorschläge und Offerten durch den Westen, stellt Harich fest..

Harich, wie mit ihm viele aus dem Bildungsbürgertum kommende kleinbürgerliche Kräfte, akzeptierte diese Politik: "Was war nun in diesem Kräftefeld die erste nationale Pflicht deutscher Politik? Antwort: die Einheit zu bewahren oder, wenn sie dann verloren war, wiederherzustellen oder später, als sie nicht mehr wiederherzustellen war, die Spaltung möglichst zu mildern."

Er begriff offenbar nie, weshalb die deutsche Bourgeoisie in der Nachkriegszeit zu dieser Art Patriotismus auf Distanz ging. Die Enteignung der ostelbischen Junker, die Verstaatlichung der Schwerindustrie bei gleichzeitigem Verlust jeder staatlichen Macht in der sowjetisch besetzten Zone, der Verlust ihres Eigentums in Ostpreußen, Schlesien und der Neumark, ließen der Bourgeoisie diese Art antifaschistischen Patriotismus als wenig raffinierte Tarnideologie kommunistischer Enteignungspolitik erscheinen. Die weitestgehend unter die Fittiche der imperialistischen Besatzungsmächte geschlüpfte deutsche Bourgeoisie pfiff deshalb auf die deutsche Einheit und zog die Sicherung ihres Eigentums in einem westdeutschen Separatstaat vor.

Wolfgang Harich lobt demgegenüber die Politik von SED und KPD: "Diese beiden Parteien haben sich damals als die konsequentesten, hartnäckigsten und unbeirrbarsten Vorkämpfer der deutschen Einheit bewährt, und das in vollem Einklang mit der sowjetischen Politik. Nichtabreißende Initiativen kamen von ihrer Seite, Vorschläge, Angebote der SED und der von ihr geführten DDR-Regierung; alles wurde zurückgewiesen. Denselben Kampf führte die KPD in Westdeutschland...". Eine Frage stellte Wolfgang Harich nicht. Weshalb sowohl die SED in der DDR wie die KPD in Westdeutschland trotz dieser patriotischen Politik ihrer 1945 vorhandenen Massenbasis verlustig gingen?

Die Antwort ist einfach: Diese Art Patriotismus, die ausdrücklich gegen eine sozialistische Politik gestellt wurde, entsprach weder den sozialen Interessen der Arbeiterklasse noch wesentlich denen breiter Teile der unteren Schichten des Kleinbürgertums, der Bauern, Handwerker und Freiberufler.

Das schien vielen unmittelbar nach 1945 zunächst nicht so eindeutig. Die Niederlage des Faschismus hatte den Kapitalismus klassenübergreifend gründlich diskreditiert. Die Enteignung der Junker, die Bodenreform und die Verstaatlichung der Schwerindustrie stieß in Ost und West auf breite Zustimmung und relativierte die offiziellen Stellungnahmen der KPD und SED für den Kapitalismus. Sogar die CDU wagte zunächst nicht, den Kapitalismus offen zu verteidigen. Kurt Schuhmacher propagierte gar den Sozialismus als Tagesaufgabe. Der Wunsch nach nationaler Einheit und demokratischer Selbstbestimmung richtete sich zunächst gegen alle Besatzungsmächte. Aber die in der SBZ am meisten forcierte und am längsten betriebene, ökonomisch sinnlose Demontagepolitik, die extreme Last der Reparationen und die kritiklose Hinnahme der politischen Willkür der sowjetischen Besatzungsmacht, die jeden Ansatz zu einer unabhängigen Vertretung proletarischer Interessen unter aktiver Mithilfe der SED unterdrückte, entfremdete der sich herausbildenden neuen Staatsmacht in der SBZ und dann in der DDR sehr schnell immer größere Teile der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums. Der bürgerlich-nationalistische Schlachtruf der westdeutschen Bourgeoise, Einheit in Freiheit, fand deshalb auch bei der Arbeiterklasse Gehör. Wo die Bourgeoisie die Freiheit des Privateigentums meinte, verstand die Arbeiterklasse politische Freiheit. Betrug war auch das. Die KPD marginalisierte sich mit ihrer Art Patriotismus, weil sie nur noch als Sprachrohr sowjetischer Interessen begriffen wurde.

Als die KPdSU 1955 von dieser Politik abrückte, weil sie nicht mehr glaubte, die Integration der BRD in die NATO aufhalten zu können und die SED-Führung dadurch endlich eine längerfristige politische Überlebensperspektive für sich selbst sah, hielt Harich an der nationalen Einheit Deutschlands als gemeinsamer Vision und Perspektive deutscher und sowjetischer Kommunisten fest, weil er hoffte, daß dies der Weg für die deutschen Kommunisten sei, wieder Einfluß auf die deutsche Arbeiterklasse zu gewinnen. Ein Irrtum, den er mit jahrelanger Haft bezahlte.

Es ist eine Ironie der Geschichte, daß SED und KPD nach 1955 den patriotischen Grundzug des Antifaschismus der Zeit zwischen 1945 und 1955 vergessen machen wollten und das mit beträchtlichem Erfolg sogar in den eigenen Reihen. Im Jahre 2003 ist es fester Bestanteil spätstalinistischer Rechtfertigungsideologie für den Ausnahmezustand im Juni 1953, im Ruf nach freien gesamtdeutschen Wahlen einen Beweis für den konterrevolutionären Charakter des Arbeiteraufstands zu sehen. Dabei wird verschwiegen, daß eben diese Forderung damals eine von der KPdSU unterstützte, zentrale SED-Losung gewesen ist. Es ist eine weitere Ironie der Geschichte, daß die SED/PDS 1989/1990 auf freie Wahlen und die deutsche Einheit zuschlingerte, ohne daß dieselben Kräfte irgendeinen Widerstand gegen die reale Konterrevolution geleistet hätten.

Welchen Kurs hätten Kommunisten einschlagen sollen?

Der einzige Weg, das Vertrauen der Arbeiterklasse zu gewinnen, ist ein energischer und konsequenter Kampf für ihre sozialen und politischen Interessen. Nur diese können Ansatz- und Ausgangspunkt sozialistischer Politik sein. Diese Lehre hat auch Wolfgang Harich nie gezogen. Ab November/Dezember 1989 sah er die deutsche Einheit kommen und befürwortete sie, weil er diagnostizierte, sie sei ohnehin nicht zu verhindern. So könnten Kommunisten wenigstens Einfluß auf den Gang der Ereignisse nehmen.

Auch, wenn Wolfgang Harichs Diagnose, daß Ende 1989 die deutsche Einheit nicht mehr zu verhindern war, sich im Ergebnis bestätigt hat, läuft seine Haltung auf eine ideologische Kapitulation vor der nationalen Welle heraus, die ab Dezember 1989 unter der Losung "Wir sind ein Volk" die Mehrheit der Arbeiterklasse in der DDR ergriff.

Natürlich war es damals richtig, sich der Mehrheit der Arbeiterklasse nicht gewaltsam entgegenzustellen. Aber Kommunisten hatten gleichzeitig die Pflicht, in der Arbeiterklasse ideologisch und politisch gegen den Strom zu schwimmen. Es galt die Errungenschaften der Arbeiterklasse in der DDR zu verteidigen, nicht zuletzt deren Existenz als Arbeiterstaat. Kommunisten hatten zu sagen, was die Arbeiterklasse im Falle eines Anschlusses an die BRD erwartete, sie hatten darauf hinzuweisen, daß der Traum von einer Addition der Errungenschaften der DDR mit denen der BRD ein betrügerisches Hirngespinst war. Dies wäre der Weg gewesen, schon auf dem politischen Rückzug neue Vorstöße vorzubereiten. Aber die, die noch heute in den neuen Ländern beanspruchen Kommunisten zu sein, haben nichts dergleichen getan. Sie waren in ihrer überwältigenden Mehrheit desorientiert, ratlos, demoralisiert und sprachlos. Erholt haben die meisten sich immer noch nicht. Viele, wenn nicht die Mehrheit unter ihnen, stricken heute noch an Verratslegenden, ohne sich dem eigenen Versagen zu stellen. Harich war nicht sprachlos. Zu seiner Ehre muß festgestellt werden, daß er immer wieder Versuche unternahm, der Konterrevolution Steine in den Weg zu legen.

Die SED/PDS hingegen schlug faktisch den Weg ein, den Harich befürwortete. Hans Modrows "Deutschland - einig Vaterland!" und seine und der Reformer glorreiche Idee der Schaffung einer Treuhandgesellschaft werden noch für künftige Generationen Beispiele dafür sein, wie man mit besten Reformabsichten der sozialen Konterrevolution den Weg ebnen kann und sich selbst in den Fallstricken der bürgerlichen Ideologie verliert - womit nicht gesagt sein soll, daß alle SED/PDS-Reformer beste Absichten gehabt haben. Wolfgang Harich ist sich selbst gegenüber treu geblieben, Kommunist und Gegner der bürgerlichen Gesellschaft. Das ändert aber nichts daran, daß die Nach-Wende-Geschichte der PDS beweist, daß sich eine Partei nicht straflos auf den Boden der bürgerlichen Gesellschaft begibt. Es gibt dann kein Zurück. Wolfgang Harich hat die früh absehbaren Konsequenzen dieses Kurses abgelehnt und saß deshalb bald wieder zwischen allen Stühlen. Aber das ändert nichts daran, daß die Konsequenz der Haltung, sich dem Trend der Entwicklung politisch anzupassen, um das Schlimmste zu verhüten, die ist, daß das Schlimmste todsicher eintritt. Nicht der Einfluß der Kommunisten auf den Gang der Geschichte wurde gesichert, sondern der Einfluß der bürgerlichen Gesellschaft auf die Kommunisten.

Dieter Wilhelmi, 09.12.03


[1]Wolfgang Harich: Deutschland - Spaltung und Vereinigung, Abbau Verlag Berlin 2003, Bezugsadresse (gegen Einsendung von 5,--€): Peter Fix, Alt-Hellersdorf 17, 12629 Berlin