Gerhard Branstner - Witz und Wesen der Lebenskunst

oder: Die zweite Menschwerdung

"Zwei mal zwei kann nicht vier sein, denn drei mal drei ist neun. Das ist seit Menschengedenken und auch heute die üblichste Art der 'Widerlegung'." Jeder, der einmal an einer politisch-theoreitschen Debatte teilgenommen hat, wird sich diesem bitter-ironischen Resümee von G. Branstner anschließen können. In seinem neuesten Buch gibt der Autor auch ein amüsantes Lehrstück für diese These: den vollständig abgedruckten Briefwechsel mit R. Steigerwald. Trotz aller historischen Katastrophen ist der Stalinismus noch nicht tot, warnt Branstner und auch dafür dient jener Briefwechsel als (unkommentiertes) Beispiel.

Der Autor vereint in diesem Buch Essays, Briefe und Glossen zu einem spannend zu lesendem, polemisch auf die aktuelle Politik der deutschen Linken einwirkendem Pamphlet, das trotz der zum Teil Jahrzehnte auseinanderliegenden Entstehungszeit der Texte, jeden Leser zu seinem speziellen Widerspruch herausfordern wird. Dies ist durchaus die Absicht, geht doch jeder Autor nach Branstner mit dem Leser eine Vereinbarung ein, bei der der Schreibende ein Angebot macht, dass der Konsument je nach eigenen Erfahrungen anreichert und zu einem eigenen Gedanken fortentwickelt. Dies sei sein Leben lang der Anspruch an die eigene Arbeit gewesen und der DDR-Erfolgsautor (Gesamtauflage aller Werke weit über eine Million) zieht in diesem Buch eine gewisse Bilanz seines Schaffens. Wer aber nun memoirenartige Refelexionen erwartet, der wird überrascht. Denn diese Selbstreflexionen finden sich in Texten, bei denen es nur scheinbar um anderes geht. Als das zentrale Prinzip seiner Literatur sieht der Autor die "Kunst der heiteren Verstellung" die notwendigerweise zur "dialektischen Aufhebung der Ernstes in der Heiterkeit" führt und nach Bransterner die höchste Form der Literatur ist; oder: "Ein ernster Marxist ist ein Widerspruch in sich". Seine Devise von der "unbotmäßigen Heiterkeit" müsse die Grundhaltung des Künstlers wie des Wissenschaftlers sein. Die Heiterkeit als Grundstimmung der Gesellschaft war für die urgesellschaftlichen Ordnungen prägend, weil sie auf vollständiger sozialer Gleichheit beruhten und unser Wunsch nach Heiterkeit ergibt sich aus der Notwendigkeit, dem Ernst der Klassengesellschaft zu entfliehen. Dieser in den letzten Jahren für ihn zentralen Frage, der Theorie der sozialen Gleichheit, ist eine der fünf Projektionen in dem titelgebenden Essay "Die zweite Menschwerdung" gewidmet. Hier finden sich auch zusammfassende Betrachtungen zu den Problemkreisen "Das Naturgesetz des Menschen", "Die gesellschaftliche Transfermation", zum Spiel und zur Heiterkeit; allesamt Themen die schon in seinen letzten beiden Büchern "Revoluition auf Knien" und "Rotfeder" diskutiert wurden. Darüberhinaus polemisiert Branstner über die "Paradoxie der sozialistischen Partei" und den Revisonismus als "Knochenfraß" dieser Parteien - allesamt Texte die dem selbstgewählten Anspruch des Autors vom "Fortgesetzten Marxismus" auf eindrucksvolle Weise gerecht werden und trotzdem (wegen der Heiterkeit) sehr kurzweilig geschrieben sind. Auf die rhetorische Frage "Was bleibt vom Marxismus" sagt er: "Meine naseweise Antwort `Die Lücken´" und läßt zugleich keinen Zweifel daran, dass der Marxismus für ihn die modernste sozialwissenschaftliche Theorie ist und bleibt. Wer sich an der scheinbaren Überheblichkeit des Autors, Marx fortsetzen zu wollen stört, dem sagt Branstner einfach und unwiederlegbar: der Zwerg auf den Schultern des Riesen bleibt ein Zwerg, aber er sieht trotzdem etwas weiter als der Riese.

Über diesen philosophischen Teil hinaus enthält der Band noch jede Menge anderes, so daß derjenige, der vor allem den humorvollen aphoristisch-kritischen Branstner früherer Jahre schätzt, voll auf seine Kosten kommen wird, was Überschriften wie: "Was wollte Napoleon in Moskau", "Die Geschichte ist nicht stubenrein", "Des Kaisers neue Kleider in Kunst und Literatur" oder "Personenkult, berechnet nach Unfallquoten" erahnen lassen. Man kann nur hoffen, dass Gerhard Branstner seine Drohung nicht wahr macht und uns doch noch mit weiteren Büchern den Spaß am Denken ermöglicht, allerdings wäre ihm dann ein Lektor zu wünschen, der manche Dopplungen und Verdreifachungen in den Texten vorsichtig herauskürzt, die jetzt ein bißchen das Vergnügen trüben.

 

Rezensent: Peter Feist