China:

Polizei tötet protestierende Arbeiterinnen

Am 7. Oktober griff die Polizei in Chongqing demonstrierende entlassene Arbeiter des örtlichen Stahlwerks an. Zwei Frauen starben, 24 Arbeiter wurden verletzt, drei Arbeiterführer wurden verhaftet. Die Polizeiaktion beendete eine seit dem 12. August andauernde Serie von Protestdemonstrationen gegen die Entlassung mehrerer Tausend Stahlarbeiter, nachdem das (staatliche) Stahlwerk Bankrott gegangen war.

Die Protestaktion am 7. Oktober, ein Sitzstreik, fand vor der Stadtverwaltung statt. Vermutlich Provokateure hatten dann in der Nähe zwei Polizeiwagen umgestürzt. Daraufhin wurden die sitzenden Demonstranten von mindestens 400 Bereitschaftspolizisten angegriffen, die wahllos auf die Menge einschlugen, sie traten etc. Hierbei wurden die beiden Frauen (70 und 50 Jahre alt) tödlich verletzt.

Das Stahlwerk von Chongqing war einer der 500 größten Betriebe Chinas und hatte mehr als 18000 Beschäftigte. Die Arbeiter, die ihr ganzes Berufsleben im Stahlwerk verbracht hatten, forderten lediglich eine Abfindung.

Die Niederschlagung der Proteste in Chongqing wirft ein Schlaglicht auf die Folgen der Wiedereinführung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in China und die damit verbundene schrittweise Zerschlagung des staatlichen Wirtschaftssektors. Diese ist weiter vorangeschritten, als hierzulande viele wahrhaben wollen.

Zwischen 1995 und 2002 ist die Zahl der Beschäftigten in Staatsbetrieben (einschließlich der kapitalistischen Betriebe mit staatlicher Mehrheitsbeteiligung) von 112 Millionen auf 71,6 Millionen gesunken, also um 32 %, obwohl China seit gut 20 Jahren die höchsten Wirtschaftswachstumsraten der Welt verzeichnet. Für die aus dem staatlichen Sektor entlassenen Arbeiter bedeutet dies den Verlust der sog. Eisernen Reisschüssel. d.h. den Verlust aller sozialen Sicherungssysteme.

Gleichzeitig sank die Beschäftigtenzahl in sog. Kollektivbetrieben von 32 auf 11,2 Millionen, ein Rückgang um 65 %. Die Kollektivbetriebe hatten ursprünglich durchaus kollektiven Charakter, sind aber seit 1990 zunehmend in rein kapitalistische Kapitalgesellschaften transformiert worden, was sich nicht zuletzt an der enormen Zahl entlassener überschüssiger Arbeitskräfte zeigte.

Daneben wuchs die Zahl der in Privatbetrieben oder in kapitalistischen Gesellschaften Beschäftigten im selben Zeitraum von 13 auf 42 Millionen, d.h. um mehr als 300 %. Hierbei ist der Beschäftigungszuwachs in Hongkong und Macao von 5,1 auf 6,7 Millionen (Steigerung um 31 %) noch gar nicht mitgezählt. In aller Regel handelt es sich in diesem privaten Sektor um weitestgehend ungeschützte, prekäre Arbeitsverhältnisse, ohne jeden Kündigungsschutz.

Der "Rest" der städtischen Arbeiterklasse, 189 Millionen Arbeiter, lebt vom und im informellen Sektor, sind Wanderarbeiter etc. Darüberhinaus haben wir noch 489 Millionen Bauern und Landarbeiter, der größte Teil davon bitterarm.

Berücksichtigt man, daß zu den verbliebenen Staatsbetrieben auch solche gehören, die die staatliche Infrastruktur gewährleisten, also Betriebe, die in den meisten Volkswirtschaften staatlich sind, ist festzustellen, daß die Transformation der chinesischen Volkswirtschaft in eine kapitalistische Marktwirtschaft inzwischen in sehr hohem Maße fortgeschritten ist. Nur der Finanzmarkt ist dem internationalen Kapital noch weitestgehend verschlossen. Aber die chinesische Führung verspricht bis 2006 Besserung. Sie scheint fest entschlossen, den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende zu gehen.

Der Prozeß der kapitalistischen Restauration polarisiert die chinesische Gesellschaft. Die Schere zwischen arm und reich, zwischen dem Westen und dem Südosten des Landes, zwischen Stadt und Land, wird immer größer. Besonders Geschäftsleute, hier vor allem in den Küstenstädten und die Regierungsangestellten gehören zu den Gewinnern der Restauration des Kapitalismus. Aber eine Milliarde Menschen auf dem Lande und 300 Millionen Menschen in den Städten haben keinen Krankenversicherungsschutz (über 80 % der Bevölkerung).

Die Politik der chinesischen Führung stößt bei den Opfern dieser Politik, den armen Bauern und den unteren Schichten der Arbeiterklasse und auch bei den nationalen Minderheiten auf massiven Widerstand.

Offiziell vermeldete das Sicherheitsministerium 2004 über 74000 "ernsthafte Zwischenfälle" wie Protestkundgebungen, Streiks und lokale Revolten. 16000 mehr als im Jahre 2003. Trotz der staatlichen Repression gelingt es offenbar nicht, den Widerstand gegen die Verelendung und mit ihm immer neue Ansätze zur Gegenwehr zu verhindern. Schon seit mehreren Jahren entstehen in fast allen Regionen Chinas Initiativen zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften. Die Regierung bemüht sich deshalb nach Kräften zu verhindern, daß sich diese Basisorganisationen miteinander über Branchengrenzen und über die Grenzen der jeweiligen Regionen hinaus zusammenschließen und so zur Gefahr für die sich in eine neue Bourgeoisie transformierende Bürokratie werden.

Dieter Wilhelmi, Berlin, 25.10.05