Sozialpsychologischer Umgang mit dem Untergang der DDR

Der Realsozialismus in der DDR wird gerechtfertigt oder er ist gar nicht. Die Verteidigungsideologie

Die Geschichte der Erklärungsversuche für den Untergang der DDR beginnt spätestens mit dem faktischen Abtreten dieses Staates aus der Weltgeschichte. Für linke Deuter aller Richtungen wurde es Zeit, die eigene Politik mit diesem Ereignis in Übereinstimmung zu bringen. Denn nur wer die Vergangenheit richtig erklärt, kann eine Ahnung von der Zukunft haben. Sozialistische und kommunistische Streiter haben naturgemäß ein recht inniges Verhältnis zur Zukunft. Man könnte sagen, ohne Zukunft hätte der Kommunismus keine Woche mehr zu leben.

Lapidar formuliert, könnten wir sagen, dass die Zukunft aus vielen Voraussetzungen besteht, die in den gegenwärtigen Verhältnissen konstituiert sind. Natürlich galt es nach der schweren Niederlage 1989, das Knäuel der Bedingungen in der DDR zu entwirren und an den Verstrickungen und Knoten die Schere der Analyse anzusetzen.

Dann kamen schnell die Stimmen, die betonten, dass das Scheitern nicht unbedingt selbstverschuldet war. Denn viele Fäden spannen sich weit über die DDR hinaus. Bald ordnete sich deren Bild in eine Ursachenerklärung des Unterganges der DDR - die sie einerseits in den ungünstigen Anfangsbedingungen des revolutionären Russlands von 1917 und/oder später sahen und andererseits im Verratskomplott führender Politiker in der KPdSU, der SED und den bürgerlicher Machtzentren der imperialistischen Metropolen.

Diese Ansichten sind (vor allem im Osten Deutschlands) immer noch populär und manche Organisationen und Foren bauen ihre gesamte politische Strategie darauf auf. Als ein “Zurück in die Zukunft” könnten wir diese Programme zusammenfassen.

Letztendlich findet so die Verteidigung eines Sozialismus-Modells statt, das mehr oder weniger, so die ”Gut-achter”, im Prinzip funktioniert hat, wenn nicht Störfaktoren dazu getreten wären, die das Scheitern auslösten.

Diese Faktoren aber, so die Verteidiger, gehörten alle nicht wesentlich ins System des Realsozialismus, sondern lagen außerhalb seines Einflussbereiches bzw. rückwärts in der Geschichte. Zugegebene Schwächen und Fehler des Sozialismus wären immer reparabel gewesen. So die Verteidigungsideologie.

Aus dieser Position gedacht, ist die DDR nicht gescheitert, sondern verraten, verkauft oder beides; sie ist gleichsam ungerecht aus der Geschichte verwiesen worden, sie ist die Wunderapparatur, der man aber den Netzstecker gezogen hat.

Das sehen nicht alle so. Ist die oben genannte Geschichtserklärung vor allem bei Linken verbreitet, die selbst in der DDR sozialisiert wurden, beurteilen die anderen Traditionen der deutschen Linken die Staaten des Ostblocks ähnlich wie die Sozialdemokraten:

Die Qualität, es handelte sich bei diesen Gesellschaften um irgendeinen Sozialismus, schließen sie völlig aus.

Die Definitionsbreite reicht von ”totalitärer Diktatur” über ”Staatskapitalismus” bis ”falscher Sozialismus” oder ”gescheiterter Versuch”.

Auch diese Erklärungsmuster sind nicht weniger gefährlich und dumm, aber nicht Thema dieser Ausführung.

Das Anliegen

Die in diesem Papier als stalinistische Ursachenanalyse für das Scheitern des Sozialismus benannte Theorie, soll dabei nicht en detail erklärt werden. Dazu ist sie zu bekannt. Es soll nur die Frage gestellt werden, wer ist Träger dieser Ideologie, welchem Interesse erwuchs sie und welches Ziel wird mit ihr verfolgt.

Auffällig ist, dass in dieser Ursachenanalyse meist zwischen inneren und äußeren/historischen Bedingungen des Scheiterns unterschieden wird. Deutlich wird letzterer Komplex als der schwer wiegendste in der Ursachenkette des Scheiterns der DDR und der anderen Staaten des Realsozialismus gewertet.

Innere Bedingungen des Scheiterns des Sozialismus (Auswahl)

Das Demokratiedefizit. Ein mehr an Demokratie in Betrieb, Partei und Gesellschaft wäre möglich gewesen.

Das Thema wird meist auf historisch stalinsche Verzerrungen reduziert, die man ja schon nach Stalin verbessert habe, und dies hätte nur energischer fortgesetzt werden müssen.

Aber auch die entgegengesetzte Lesweise zu Stalin ist populär und wird auf alle inneren Defizite angewandt: Gerade die Abkehr von den stalinschen Normen wurde für die SU und ihre Partner Ausgangspunkt des Untergangs, es fand nach dieser Anschauung eine Revision des erfolgreichen stalinschen Modells statt. Dieser führte am Schlusspunkt (vor allem seit Gorbatschow) zum Verratskomplott. (siehe: K. Gossweiler, Wider den Revisionismus)

Defizite im System der Planung und Mitbestimmung. Auch hier wünsche man zukünftig eine höhere Partizipation der Produzenten.

Die Arbeiter hatten zugegeben ein unterentwickeltes Bewusstsein von ihrem Volkseigentum, da sie dem System von Planung und Mitbestimmung entfremdet gegenüberstanden.

Ansonsten werden Defizitdiskussionen meist vermieden. Den zentralen Raum der stalinistischen Ursachenanalyse nehmen die äußeren bzw. historisch ”ungünstigen” Bedingungen ein, die ich hier in loser Folge unkommentiert aufliste:

Äußere und historische Bedingungen des Scheiterns des Sozialismus (Auswahl)

- ein Feudalstaat vollbringt 1917 die sozialistische Revolution

- ein Staat fast ohne Proletariat will proletarischer Staat werden

- unzureichende ökonomische und soziale Vorraussetzungen für den Sozialismus

- Weltkrieg I, Bürgerkrieg in Russland, Weltkrieg II

- Lenins früher Tod

- Stalins antikommunistische Politik

- das Abgehen von Stalins Politik

- die Übernahme des SU-Modells auf die DDR u.a.

- Kalter Krieg und feindliche imperialistische Umzingelung

- Wettrüsten bzw. erpresserischer Zwang, so die eigene Volkswirtschaft zu schädigen

- Hochtechnologie-Embargo der westlichen Welt

- geheimdienstliche Wühlarbeit der westlichen Welt

- Verrat von zentralen Politikern in den KPs

Zur Volksbewegung 1989 in der DDR bestehen kaum Erklärungen. Die Menschen waren allenfalls irregeleitet, verführt oder belogen. Dieser Meinung könnte man historisch sogar zustimmen, wenn die Verteidigungsideologen sich nicht ausschweigen würden über den zureichenden Grund dieser Verirrung. Was haben die Menschen in der DDR erlebt, um vom Klassenfeind so unverschämt geködert zu werden? Welcher Bewusstseins(zu)stand hatte die Arbeiterklasse der DDR und anderswo erfasst und vor allem, welche gesellschaftlichen Verhältnisse lagen dem zu Grunde? Dass die Wende in der DDR und anderswo tatsächlich stattfand, ist für die stalinistische Ursachenanalyse kein kleines Problem. Immerhin war ja alles gut in der DDR bzw. alle Probleme der Jetztzeit sind Anachronismen, die jederzeit mit dem wiederhergestelltem DDR-Modell zu beseitigen sind.

Der Träger dieser Ideologie

Die Träger dieser Ideologie sind fast ausschließlich ehemalige Angehörige der politischen oder sozialen Elite der DDR. Vielfach aber auch Menschen, die sich ideel mit der DDR verbunden fühlen.

Ehemalige Funktionäre in SED, Gewerkschaft und anderen Massenorganisationen, Eliten aus der NVA, den Ministerien, oft Funktionäre aus Wirtschaft, Kultur, oder Mitarbeiter in Wissenschaft, Forschung und Ausbildung.

Und tatsächlich verband sich ihr Schicksal 1989 und in folgender Zeit vorwiegend tragisch:

Sämtlich aus ihren Positionen verdrängt oder vertrieben, teilweise dem Volkszorn ausgesetzt, brach ihre einstige Welt binnen weniger Monate komplett zusammen.

Der berufliche Bruch ging einher mit einer sozialen Ausgrenzung und einer biografischen Entwertung ihres Lebens und Wirkens. Individuell kann von einer psycho-sozialen Notlage gesprochen werden, die in diesem Sinne existenziell war.

Aber gerade bei den Älteren (also der Mehrzahl) war diese Krise nicht unbedingt durch eine tatsächlich soziale Krise verschärft. Soziale Krisen bildeten aber bei jüngeren (rentenfernen) Personen ein ernsteres Problem.

Seelisch treffen wir bei solchen Krisen auf spürbare Reaktionen der Persönlichkeit, unter denen die Abwehrreaktionen des Psychischen hier interessant sind, wobei ich auf die Identifikation und die Projektion im psychoanalytischen Kontext näher eingehen möchte.

Es soll an diesen Beispielen verständlich werden, welche psychischen Voraussetzungen eine Verteidigungsideologie befördert oder begleitet haben. Auf andere häufige Abwehrmechanismen wie die Verdrängung oder Abspaltung möchte ich nicht näher eingehen, aber ihre Wichtigkeit betonen.

Die Identifikation

Die Identifikation ist ein wichtiger psychologischer Transformator. Hier erlebt eine Person die Übereinstimmung sozialer Verhältnisse mit inneren Anschauungen. Diese Anschauungen sind meist lebensgeschichtlich geprägt und mit starken Emotionen verbunden.

Die Person steht als Subjekt im Wechselverhältnis mit der sozialen Wirklichkeit und organisiert ihren Lebensvollzug, indem sie einerseits die geprägten inneren Vorlagen sozial nach außen wirken lässt (z.B. sich unterordnen, Disziplin halten, unbedingte Solidarität zeigen, Gewissenhaftigkeit etc.) sich also “richtig” verhält und andererseits sich gleichzeitig von außen versichert, dass das gültige Ordnungsprinzip selbst Bedingung für die innere Existenz ist. Daraus entspringt eine gegenseitige Verstärkung, die unumgänglich für die Existenz jeder Gesellschaft ist.

Die Projektion

Die Projektion hat die Aufgabe, innerpsychische Konflikte, die real vorhanden sind aber momentan oder dauerhaft nicht bearbeitet werden können, nach ”außen” zu verlagern bzw. in Räume, die vom Individuum abgetrennt erscheinen (z.B. geschichtliche Aspekte).

Die Projektion ist umso radikaler wie sie den Persönlichkeitskern vor ungeheuerlichen ”Wahrheiten” schützen muss, die dieser so nicht aushalten würde. Eine nicht ausgehaltene Wahrheit kann die Persönlichkeit ernstlich gefährden. Jeder stelle sich dazu eine weltanschauliche Grundüberzeugung vor und probiere im Geist nachzuvollziehen, was wäre, wenn diese plötzlich und nachweislich falsch wäre.

Den Konflikt nach außen verlagern macht Sinn. Man kann sich dem Problem stellen, es ist desubjektiviert (gehört anscheinend nicht zu mir selbst) und räumlich wie zeitlich unabhängig von mir. Die eigenen Anschauungen und die damit verbundenen Emotionen werden nicht bedroht. Sie sind geschützt.

Funktionszusammenhang Identifikation und Projektion

Mit dem Scheitern des Sozialismus scheiterte also nicht nur ein gesellschaftliches Modell, sondern auch sein subjektiver Träger.

Man kann einen VEB abwickeln und Mitgliedsbücher in ein Schubfach werfen, aber keine Lebensentwürfe und Lebensanschauungen. Revolutionen und Konterrevolutionen sind auch innerpsychisch umwälzend. Gerade die Menschen, die innerlich eng mit der DDR verbunden waren, sahen sich Gefühlen ausgesetzt, für die sie keine Kompensation fanden.

Trauer und Wut, Enttäuschung und Desorientierung wurden nicht neu kanalisiert, die neue Gesellschaft legte meist keinen Wert (siehe auch Verwertung) auf das innere Modell der ehemaligen Staatsdiener und Freunde der DDR.

Aus diesem Gebräu massenhaften innerpsychischen Defiziterlebens entwickelte sich eine Kompensationsideologie, die so ernsthaft verfochten wird, dass gerade die verbitterte Kampfesführung (es geht schließlich um Leben oder Tod von Biografien, Verantwortlichkeiten und Entscheidungen etc.) darauf schließen lässt, dass ein einsichtiges Einlenken der ”Verfechter” nicht ohne weiteres geschehen wird.

Die Verteidigung der DDR ist also beinahe ein sozialtherapeutischer Ansatz, der besonders und nur in Gruppen (Organisationen) seine eigene Dynamik erhält, durch das sich gegenseitige Versichern und Beweisen der Richtigkeit des Vergangenen (Ich bin doch richtig. Mein Leben hatte Sinn). Die Organisation verschafft sich so ihr ”richtiges” Sein in der Geschichte, woraus sich das ”richtige politische Bewusstsein” klar ableiten lässt. Natürlich korrespondiert dieses Bewusstsein erst recht in einer antikommunistischen (als feindlich erlebten) Umwelt, der heutigen BRD.

Geschichtliches

Analogien zu diesem massenhaften Defiziterleben vor oder nach gesellschaftlichen Brüchen gibt es viele. Erinnert sei an die Dolchstoßlegende nach 1919 und die allgemeine Hysterie, mit der Hitler und sein Regime geschickt weite Massen (besonders Intelligenz, Handwerk, Angestellte, Militär und Beamte) gegen Juden oder die jüdisch-bolschewistische Welt-”verschwörung” (alles wieder außerhalb) ins (Schlacht-)Feld führen konnte

Ohne die Ausnutzung objektiv aus den Verhältnissen entwickelter psychischer Konstellationen, wäre der nazistische Konsens in breiten Teilen der Bevölkerung (1933 eher schwach, ab 1935 recht stark) in Deutschland nicht möglich gewesen.

Hier soll natürlich nicht gesagt werden, dass Nazisten wie Verteidiger der DDR im Kopf gleich ticken. Der Kopf ist etwas mehr als seine Abwehrmechanismen. Geschichtliche Konstellationen sind aus den sozioökonomischen Verhältnissen konkret ableitbar, psycho-soziale Muster begleiten sie und wirken in das gesellschaftliche Feld zurück.

Der Stalinismus

Die Geschichte der Verteidigung des Realsozialismus in der DDR ist die Geschichte des Stalinismus.

Schon 1928 war die damalige KPD wie analog die Kommunistische Internationale (bzw. das EKKI) nicht mehr in der Lage, eine halbwegs sichere Analyse der Kräfteverhältnisse in Deutschland zu treffen. Überall Faschismus, ob bürgerlicher, sozialdemokratischer oder diktatorischer. Noch nach dem Januar 1933 erwartete die KPD fast zwei Jahre lang täglich das schnelle Scheitern Hitlers und die baldige proletarische Revolution.

Die KPD war in einer ernsthaften Wahrnehmungskrise, die vor allem darin begründet lag, dass sie die marxistische Philosophie nicht mehr als Instrument handhaben konnte.

Wunschdenken und Heilserwartungen, wie man sie nur aus religiös-fundamentalen Richtungen kannte, ersetzten die nüchterne Analyse. Der Stalinismus, welcher hier nicht Thema der Erläuterung ist, hatte scheinbar sämtliche revolutionären Geister abgetötet.

Sozioökonomischer Exkurs

Nicht ohne Belang ist die Feststellung, dass das ”sozialistische Volkseigentum”, welches in der DDR konkret als Staatseigentum auftrat, einen konkreten politischen Ausfluss hatte: Die stalinistische Bürokratie.

Sie war Träger und Nutznießer dieser Eigentumsform. Von dieser hing die Reproduktion der bürokratischen Kaste ab. Eine tatsächlich freie Assoziation der Werktätigen hätte sie überflüssig gemacht. Wollte die stalinistische Bürokratie also weiterexistieren, musste sie

a) die tatsächliche freie Assoziation verhindern und

b) ihr System der Planung und Mitbestimmung als einzigen Schalthebel ihrer Macht und damit ihre Daseinberechtigung beibehalten.

Psychische Bedingungen als gesellschaftliche Faktoren

Hier trifft sich also die sozioökonomische Komponente, wo der Bürokrat seine Stellung zu den Produktionsmitteln definiert hat, und die psychosoziale Transformation dieses ökonomischen Interesses, die Verteidigung dieses Systems.

Die oben genannten psychischen Bedingungen fungieren also als notwendige Schmiermittel, um konkrete (historische) Interessen einer bürokratischen Kaste zu unterstützen.

Die bürokratische Kaste und seine heutigen ideologischen Verteidiger und Nachbeter sind nicht mehr als geronnener Realsozialismus in seiner subjektiven Form.

Diese subjektive Form steht psychologisch wie philosophisch sich selbst entfremdet (Begriff des Unbewussten) und verobjektiviert gegenüber, sie spaltet sich gleichsam ab und verlegt sich mit ihrem Versagen in die Außenwelt. Der neue Feind ist der altbekannte, der schon immer da war, der Imperialismus, der militärisch-industrielle Komplex, die Geheimdienstzentralen der bürgerlichen Metropolen.

Diesen Feind gibt es natürlich auch real, sonst hätten wir es mit einer waschechten Wahnstörung zu tun. Allerdings fungiert er hier nur als dankbare Projektionsfläche. Die Schweinerein des bürgerlichen Gesellschaftszustandes, das Anprangern seiner Verwesung, das moralische Nasezuhalten ersetzt aber nicht die nötige Analyse über den Zusammenbruch des realen Sozialismus.

Die bürokratische Kaste an sich

Tatsächlich hat sich die Bürokratie von ihrer Ebene aus nichts vorzuweisen. Das gehört zur inneliegenden Tragik:

Sie haben als Bürokratie so funktioniert wie eine Bürokratie funktionieren soll. Ihr Agieren und Reagieren war in ihrem Funktionszusammenhang völlig korrekt. Der Marxismus wurde ”durchgeführt”, so wie man einen Staatsempfang durchführte oder einen Bleistift anspitzte.

Die marxistische Philosophie benutzte man wie einen Paternoster, um von einem Stockwerk ins nächste zu kommen oder wie einen Aktenschrank, in dem die jeweils richtigen Antworten, die die Wirklichkeit dann und wann forderte, geordnet nach Sachbereichen abgeheftet waren...

Wenn die bürokratische Kaste bei sich keinen Fehler feststellen kann, weil sie tatsächlich Anspitzer, Paternoster und Aktenschrank nach allen Regeln benutzte, wie man eben diese Gegenstände benutzt, führt sie alle Störungen auf ”andere” zurück. Den Lehmann von der Aufzugfirma, wenn der Paternoster nicht mehr fährt, dem Wetter vor der Tür, das verhindert, dass ehrliche Kommunisten trockenen Fußes die Revolution ”durchführen”.

Erstarrung als Gegenteil von Revolution

Anderseits zeigt die pseudoreligiöse Verbürgerlichung der realsozialistischen Staaten deutlich, dass die dogmatische Erstarrung des ”Systems” das ursprüngliche schon gar nicht mehr repräsentierte bzw. es geradezu ausschloss. Hier ein Beispiel aus

der kritischen Religionswissenschaft:

Dort kennt man hauptsächlich drei Kennzeichen religiöser bzw. pseudoreligiöser Systeme

1. Glaubensgrundsätze und Dogmen (die mit starken Emotionen verbunden sind)

2. Mythen / Geschichte (Schöpfung, Urväter, Heroismus, Kampf, Niederlage, Neubeginn…)

3. Kulthandlungen (symbolische Hoheitshandlungen)

All das lässt sich leider mit vielen Beispielen vollständig auf das bürokratische System des Realsozialismus anwenden und zeigt recht deutlich den Verlust der Bewusstheit der Arbeiterklasse und ihrer Führung in der DDR.

Kennzeichen der Revolution ist, dass gerade diese pseudoreligiösen Komponenten komplett fehlen. Klassengesellschaften entfremden in ihrem sozioökonomischen Ausbeuterkontext breite Massen und sind darauf angewiesen, den gesellschaftlichen Kitt der Religion oder Pseudoreligion dick in die Ritzen der Gehirnwindungen zu schmieren. Die bürokratische Kaste des stalinschen Systems musste wieder auf dieses Relikt vergangener Zeiten zurückgreifen und übertraf sie in wahnwitziger Art.

Zukünftige Verhaltensdynamik

Tragisch ist dabei, dass die meisten Verteidigungsideologen, die Idee (ihres Sozialismus) generalisieren müssen und damit gleichzeitig andere Modelle oder Erklärungsversuche ausschließen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, sich selbst zu entwerten und einer tatsächlichen Krise auszusetzen.

Die “Abtrünnigen”

Die Befreiung vom stalinistisch-bürokratischen Modell ist dann tatsächlich ein entscheidender Bruch, dessen Richtung aber offen ist.

Führt die Verdrängung meist ins bürgerliche Lager oder zum Rückzug ins Private, ist auch eine Verkehrung ins Gegenteil oft als Schutzmechanismus zu beobachten. Hier treffen wir den tatsächlichen Verräter. Tragisch wiederum, wenn der Verräter Folge einer Ursache ist, die die Verteidiger der Ursache als Bedingung der Niederlage selbiger ausgeben.

Die weit reichendste marxistische Kritik des stalinschen Sozialismus wurde zweifellos von Trotzki formuliert. Weiterhin bieten Autoren wie Fromm, Bahro, Bloch, Lukasz und Gramsci wertvolle Hinweise zur Kritik . Die von diesen ”Bekehrten” berichten einhellig von Augen öffnenden Momenten.

Auch Alleindenker waren oft erfolgreich und kamen zu Schlüssen, wie sie die Kritiker des stalinschen Systems formuliert hatten.

In der Regel aber herrschen Unsicherheit, Zweifel und verbittertes Festklammern an Erklärungsmustern, die nicht selten umgestoßen und durch neue ersetzt werden müssen.

Besonders der bürgerliche (antikommunistische) Stalinismusbegriff hindert viele Menschen, die sozialistische Stalinismuskritik für sich zu entdecken. Historisch haben sich beide Begriffe scheinbar synonym gebildet, was inhaltlich aber unhaltbar ist.

Es ist deshalb unumgänglich einen solidarischen aber strengen ideologischen Kampf gegen jede Verfälschung, Verschönerung oder Verteidigung der DDR-Geschichte zu führen. Die DDR wird der erste deutsche Arbeiterstaat bleiben, wo Banken, Monopole und Kriegstreiber keinen Platz hatten. Darauf dürfen wir stolz sein und sind es auch.

Gleichzeitig verhindert dieses Modell die Aufklärung und die Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse des Scheiterns, ohne die der Marxismus seiner schärfsten Waffen beraubt ist. Politische Mittel, die auf falschen Voraussetzungen fußen, müssen zwangsläufig ihr Ziel verfehlen.

Schon schwierig genug, dass die Landkarte nicht die Landschaft ist - und man kann tatsächlich in jedem Schnittmuster aus der Brigitte seine Heimatstadt “entdecken”. So ticken wir nun einmal, was nicht weiter schwierig ist, wenn man darum weiß.

Auch im 21. Jahrhundert wird dem Verhalten von Menschenmassen und Einzelpersonen immer ein sozialpsychologischer Bedürfnis-komplex zu Grunde liegen. Aus Wünschen und Träumen, aus der Einsicht in bestehende unhaltbare Zustände, im Verfolgen von Zielen, die die Möglichkeit des Sozialismus in seine Notwendigkeit übersetzt, muss auch die kommunistische Bewegung profitieren.

Dazu ist es wichtig, die Zusammenhänge des historischen Zusammenbruchs des Sozialismus zu ergründen. Eine falsche Antwort auf dieses Geschehen, kann die aufkommende Frage nach einer sozialistischen Gesellschaft verhindern.

Andy Züon - Berlin, Dezember 2004