Gerhard Branstner:

Die Todsünden des "realen Sozialismus"

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Die erste Todsünde:

Die Verabsolutierung der Macht

Die Macht des Sozialismus wurde in die Macht über den Sozialismus verkehrt. Das war die Sünde aller Sünden. Damit verkehrte sich die Diktatur des Proletariats in die Diktatur über das Proletariat. Die Diktatur im Sinne von Marx haben wir also bis heute nicht erlebt, aber wer nicht alles weiß hanebüchenen Unsinn über sie zu verbreiten.

Die zweite Todsünde:

Das Verschlafen des Sozialismus

Die kapitalistische Einkreisung des Sozialismus wurde zur Selbsteinkreisung. Der Sozialismus verschloß sich gegen die äußeren Entwicklungen und endlich auch gegen die inneren, schließlich gegen sich selber. Er dörrte aus. Dem Verpennen folgte das Verpönen, das Verketzern, das Verfolgen, das Vernichten. Der Sozialismus ist das Neue, er lebt von ihm und fördert, produziert es. Indern er im tödlichen Gegensatz zu seinem Wesen allem Neuen mißtraute, starb er bereits in seiner Kindheit an Überalterung. Der Sozialismus hat sich selber verpennt. Ein wirksames Schlafmittel war die Bürokratie des Apparates und des Geistes.

Die dritte Todsünde:

Die doppelte Blödheit der Ökonomie

Kluge Menschen können nicht dumm sein, aber blöd. Eine in der Politik typische Erscheinung. Im Sozialismus wurde von klugen und dummen Menschen eine blöde Ökonomie praktiziert, nämlich eine unverträgliche Mischung von bürgerlicher und sozialistischer Ökonomie (mit deutlicher Zunahme der bürgerlichen Elemente). Obwohl die Mischung selbst der Hauptfehler war, war ihre Realisierung nicht weniger blöd. Ausdruck dessen ist das idiotische Unterfangen, statt eine eigenständige, wesenseigene Entwicklung zu konzipieren, auf dem bürgerlichen Weltmarkt gegen den Kapitalismus zu konkurrieren. Mit sozialistischen Gebrauchswerten? Oder womit?

Die vierte Todsünde:

Das Fehlen sozialistischer Demokratie

Es hat durchaus Formen sozialistischer Demokratie gegeben, beispielsweise die Konfliktkommissionen, die Jahreshauptversammlungen der Genossenschaften, die Betriebskollektivverträge und manche andere, auch wenn sie nicht voll im sozialistischen Sinne verwirklicht wurden. Die wesentlichen Formen sozialistischer Demokratie waren dagegen undenkbar. Während die kapitalistische Ökonomie Demokratie ausschließt, ist sozialistische Ökonomie nur durch Demokratie zu haben, und zwar durch sozialistische Demokratie. Diese zeigt sich vor allem in der öffentlichen Verständigung und Vereinbarung über die sozialistische Qualität der Ökonomie: Die Entwicklung echten sozialistischen Eigentums und sozialistischer Gebrauchswerte, die Liquidierung der Dominanz des Tauschwertes, die sozialistische Gestaltung der Produktionsprozesse, die aIlmähliche Überwindung der Warenproduktion usw. Und damit gleichlaufend die öffentliche Verständigung und Vereinbarung über die sozialistische Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens in allen seinen Dimensionen. Statt kreative, produktive, konstruktive Öffentlichkeit als wichtigste Form der sozialistischen Demokratie zu konstituieren, wurde im Gegenteil die Öffentlichkeit als größte Gefährdung angesehen.

Die fünfte Todsünde:

Der Mangel an Internationalisierung der sozialistischen Länder

Dieser Mangel hatte häufig groteske Formen. Angefangen vom funktionieren oder vielmehr Nichtfunktionieren des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (schon der Name ist grotesk) über die Bürokratisierung des Grenzregimes und den damit zusammenhängenden Problemen bis zu den privaten, persönlichsten Bereichen, beispielsweise der Heirat von Partnern unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, die mit den unsinnigsten Verboten und Ahndungen erschwert wurde. Die mangelnde Internationalisierung war Ausdruck der Paradoxie, daß die sozialistischen Länder von nichtsozialistischen Machthabern regiert wurden, denn deren Verhalten war stinkbürgerlich, noch dazu von der rückständigsten Art. Das reichte von den ökonomischen Verhandlungen bis zum diplomatischen Protokoll.

Angesichts der Todsünden des ,.realen Sozialismus« müssen wir uns wundern, daß er so lange überlebt hat (und diese Sünden lassen sich durch manche andere ergänzen). Das wirkliche Wunder ist jedoch der echte Sozialismus, denn er hat im beziehungsweise trotz des "realen" in nahezu allen Bereichen gelebt und gegengehalten. Auf die Dauer war er jedoch der zunehmenden Verbürgerlichung nicht gewachsen. Die Todsünden sind nichts als Charakteristika der tödlichen Verbürgerlichung.

Die sechste Todsünde:

Die ökologische Verantwortungslosigkeit

Die menschliche Gesellschaft kann nicht aus der Natur austreten, ihr würde sofort der Stoff ausgehen, als erstes der Sauerstoff. Die Einheit von Mensch und Natur (die Menschheit als Teil der Natur) ist das oberste Gesetz, dem alle anderen Gesetze (auch die von Marx entdeckten gesellschaftlichen Gesetze) untergeordnet sind. Der Sozialismus ist dazu berufen, dieses oberste Gesetz endgültig zu verwirklichen. Statt dessen hat er in seiner zunehmenden Existenznot nicht einmal sich selbst, sondern mehr und mehr nur noch seine Hülle zu erhalten gesucht, um überhaupt am Leben zu bleiben. Der Sozialismus kann aber nur als Sozialismus am Leben bleiben, nicht als Imitation seiner selbst.

Die siebte Todsünde:

Die Machtlosigkeit der Theorie

Der Sozialismus ist die erste Gesellschaftsordnung, die auf wissenschaftlicher Grundlage errichtet wird. Das gilt nach wie vor. Die Machtlosigkeit der Theorie war der Theoriefeindlichkeit der Macht geschuldet. Der Marxismus wurde lediglich auf unverbindliche, akademische Art betrieben, das heißt auf bürgerliche Art. Es fehlte an marxistischer Theorie, weil es an marxistischer Politik fehlte. Nicht umgekehrt.

Die achte Todsünde:

Die Unnatürlichkeit von Inhalt und Form der Politik

Der Sozialismus hat die Aufgabe, den ,.kleinen Mann« groß zu machen. Also muß er Wesensart und Sprache des ,.kleinen Mannes« zum Maß nehmen. Nicht, um da zu bleiben, aber um von da auszugehen. Wenn aber die Belehrung von oben nach unten stattfindet, wenn die Entscheidungen vor der Diskussion gefaßt werden, kann ein echter Austausch nicht zustande kommen. Unvermeidlich entwickeln sich Heuchelei und eine "offizielle", vorgeschriebene, unnatürliche Form des Umgangs miteinander. Anstelle der Vernatürlichung des Verhältnisses von oben und unten, der Vernatürlichung des politischen Miteinanders entstand eine für den Sozialismus verderbliche Künstlichkeit und Unwahrhaftigkeit der politischen Beziehungen in den Formen und in den Inhalten.

Dezember 2002