Dipl.-Philosoph Peter Feist (November 1993)

Das SED-Regime:

-Demokratie?

-Bürokratie?

-Diktatur?

(Im nachfolgenden veröffentlichen wir das überarbeitete Manuskript eines Vortrages, den der Autor auf Einladung der "Alternativen Enquete-Kommission Deutsche Zeitgeschichte" während einer Veranstaltung des "Ostdeutschen Geschichtsforums" in der Berliner Stadtbibliothek am 15.9.1993 gehalten hat. Das Vortragsthema war vom Veranstalter vorgegeben.) (1)

Als erstes möchte ich dem Vorstand der "Alternativen Enquéte-Kommission" für die Möglichkeit der Darstellung der DDR-Gesellschaft aus meiner Sicht danken. Entsprechend meiner Profession gehe ich an das Thema nicht als Historiker heran, sondern als Philosoph, d.h. vor allem strukturelle Fragen stehen im Vordergrund.

Diese Enquete-Komission hat eine "große Schwester", die Enquete-Komission des Deutschen Bundestages unter der Leitung von Pfarrer Eppelmann. Hier hat es zum Thema: "Die Machthierarchie der SED-Diktatur" eine Veranstaltung mit D. Keller, PDS-Fraktion und ehemaliger stellv. Kulturminister der DDR gegeben, die eine heftige öffentliche Reaktion in Ost-Deutschland hervorgerufen hat, insbesondere eine mehrwöchige Diskussion im "ND", die inzwischen als Buch herausgegeben wurde.

Der Hauptvorwürfe waren "Nestbeschmutzung" und "einseitige Darstellung". Der Kern der Auseinandersetzung besteht aus meiner Sicht darin: Keller hat auf Defizite und Schwachstellen der DDR-Gesellschaft hingewiesen, die, bis auf einige von ihm gewählte dümmliche Bespiele, Anlaß zu ernsterem Nachdenken geben sollten. Das Problem an seiner Argumentation war aber, daß als Maßstab seiner Analyse das Werte-Konzept des GG der BRD, die ethisch-moralischen Normen der bürgerlichen Gesellschaft, einer Gesellschaft von Privateigentümern, diente.

Es ist aus meiner Sicht schon sehr zweifelhaft, ob es einem Abgeordneten der Partei des demokratischen Sozialismus gut zu Gesicht steht, in einer bürgerlichen Parlamentskommission mitzuarbeiten, die die Aufgabe hat, die DDR pauschal als Unrechtsstaat zu verurteilen; aber als Mitglied einer Partei, die sich auf den Marxismus beruft, eine Kritik von rechts an der DDR durchzuführen, ist beschämend. Er stimmt damit ein in den Chor derjenigen, die den Untergang der DDR-Gesellschaft darauf zurückführen, das sie eine sozialistische Gesellschaft war, in dieser Sichtweise war der Sozialismus schuld am Untergang der DDR.

Ich vertrete hier die Gegenthese:

Der Mangel an Sozialismus war Schuld am Untergang der DDR-Gesellschaft !.

Ich sehe mich damit in der Tradition einer Kritik von links an den Gesellschaften des real existieren Sozialismus, die insbesondere mit dem Wirken von L. Trotzki verbunden ist. Es scheint mir legitim und notwendig, die Analyse und Kritik der DDR-Realität an den Maßstäben des Marxismus zu orientieren und nicht an anderen, dafür abwegigen Denkmodellen, wie dem GG der BRD und seinem Wertesystem. Es ist dies keine Frage der “Theorie-Ästhetik”, sondern eine eminent praktische Frage:

Wer eine Zukunft gewinnen will, wer an der Vision von der Gesellschaft ohne Ausbeutung, ohne Anarchie der Warenproduktion und der ihr folgenden Umweltzerstörung festhalten will, kann der Frage nach den Ursachen des Scheiterns der DDR-Gesellschaft (und aller ihr ähnlicher Gesellschaften) nicht ausweichen.

Zwei methodische Vorüberlegungen:

1. Die Frage nach den Wirkungsmechanismen des SED-Regimes ist kein akademischer Streit, sondern eng verbunden mit den Erfahrungen von Millionen von Menschen, die jetzt ihr bisheriges Leben neu zu bewerten oder umzubewerten haben, d.h. diese Fragen sind in der Öffentlichkeit stark emotionalisiert.

2. Gesellschaftliche Veränderungen, die das Leben von Millionen von Menschen veränderten, wie der Massenterror Stalins, einfach als "Fehler" oder "Verbrechen eines Einzelnen" zu erklären, ist für einen Anhänger der historisch-materialistischen Methode nicht möglich, es handelt sich hier um Interessenkollisionen von geschichtlichem Ausmaß, deren Ursachen untersucht werden müssen.

Sieht man sich die in Ost und West geführte Diskussion an, so fällt auf, das sie oft in der Formulierung von Antinomien, von einfachen Gegensatzpaaren stehenbleibt.

Zum Beispiel

sagen die Einen: sagen die Anderen:
es handelte sich um eine planmäßig und bewußt gestaltete Gesellschaft, die auf der Basis einer wissenschaftlichen Weltanschauung errichtet wurde es herrschte die willkürliche Politik ungebildeter Bürokraten
es war eine gemeinschaftliche Gesellschaft der umfassen sozialen Gleichheit es war eine von Privilegien, Korruption und Schattenwirtschaft sozial tief gespaltene Gesellschaft, es gab viele soziale Ungleichheiten
benennen und verteidigen die DDR als Diktatur des Proletariats sehen sie als Tyrannei des Politbüros als bürokratische Diktatur
die Arbeiterklasse war Eigentümer der Produktionsmittel und bestimmte, z.B. in der Plandiskussion, über die Entwicklung der Produktion mit sehen eine voluntaristische Wirtschaftspolitik, gekennzeichnet durch Entfremdung, ökonomisches Chaos und ökologische Katastrophen
die DDR betrieb aktive Friedenspolitik, war ein außenpolitische Faktor der Stabilität in Europa die DDR hatte fast keine Souveränität, sie ließ sich bedingungslos für die Weltmachtpolitik der SU mißbrauchen und unterstützte politische Abenteuer (z.B in Afghanistan)

Diese Standpunkte scheinen unüberbrückbar und trotzdem finden sich auf beiden Seiten Tatsachen, die mit meinen Erfahrungen übereinstimmen und sicher auch mit denen von anderen der hier Anwesenden. Die Tatsache, daß ich mich über eine lange Zeit meines Lebens in der DDR wohlgefühlt habe und manches von ihr heute vermisse, kann kein Maßstab für die wissenschaftliche Bewertung des Charakters dieser Gesellschaft sein.

Ich will versuchen an 3 Feldern der gesellschaftlichen Realität, Vermittlungen herzustellen, und ein differenziertes Bild der Zusammenhänge und Strukturen, aber auch der Defizite und Inkonsequenzen zu geben, die unser Leben hier ausgemacht haben.

1. Problemkreis: ökonomische Basis - gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln

1.1. Der 1. Grundsatz der DDR-Staatstheorie lautete: in der DDR gibt es das Volkseigentum an den Produktionsmitteln.

Nach Marx (und allen anderen sozialistischen Theoretikern vor und nach ihm ) bedeutet dies, daß die gemeinschaftlichen Produzenten die Produktion und deren Mittel unter ihre demokratische Kontrolle nehmen, kollektive Eigentümer-Produzenten werden.

Wie sah das in der DDR aus?

Spätestens durch die Abschaffung der Betriebsräte (mögliche Vorform der marxschen Produzentenausschüsse) und ihre Ersetzung durch die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) verlor die Arbeiterklasse im Betrieb die Kontrolle über die Produktion, fand ihre de facto Enteignung statt. Eine demokratische Einflußnahme der Werktätigen auf die Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft hat es zu keiner Zeit gegeben.

Diese Tatsache wurde von der SED offiziell anerkannt und "theoretisch" sanktioniert, im Programm der SED heißt es, daß der Staat die Eigentümerfunktion “wahrnimmt”. Dies bedeutete in der Praxis, es mußte eine Gruppe/Schicht von Eigentumsverwaltern entstehen, die sich, obwohl juristisch nicht Eigentümer der PM, immer mehr als solche benahmen. Da diese Verwalter, die stalinistische Bürokratie, kein "natürliches" (d.h. geschichtlich gewachsenes) Recht am Eigentum besaßen, mußten sie zu seiner Aufrechterhaltung diktatorische Mittel anwenden. Dies war aber nicht die Diktatur des Proletariats, die sich gegen die ehemaligen, kapitalistischen Produktionsmittelbesitzer richten sollte, sondern es entstand eine Diktatur gegen das Proletariat, eine Diktatur der Verwalter über die (eigentlichen) juristischen Eigentümer.

Der sowjetische Philosoph A. Butenko bezeichnete dieses gesellschaftliche Phänomem als die "administrativ-bürokratische Usurpation (Einverleibung) der Klassenherrschaft".

Die Folgen dieser Entwicklung waren: Verteilung und Ressourcenzuteilung wurden administrativ-zentral geregelt, nicht von unten nach oben wurde über die Wirtschaftsentwicklung entschieden, sondern von oben wurde angeordnet - es entstand, besonders in der Ära G. Mittag, ein zunehmender Voluntarismus in der Wirtschaftspolitik.

Die Konsequenz, die man aus marxistischer Sicht aus einer solchen Analyse ziehen muß, lautet: es gab kein gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln, sondern eine besondere, vom Staat verwaltete Form des Gemeineigentums (Staatseigentum?), damit handelte es sich nicht um eine sozialistische Gesellschaft, sondern bestenfalls um eine nichtkapitalistische.

1.2. Der “reale Sozialismus” als warenproduzierende Gesellschaft.

Für Marx war Sozialismus gleichbedeutend mit einer Gesellschaft, die nicht auf die Warenproduktion gegründet ist, d.h. eine Produktionsweise ohne die gesellschaftliche Trennung von Tausch- und Gebrauchswert. Dies resultiert aus seiner Grundüberzeugung, daß die Ursache der Knechtschaft eben in den Mechanismen der Warenproduktion begründet liegt, dies ist eine der Grundlagen seiner Geschichtsphilosophie. Den Begriff "sozialistische Warenproduktion" gibt es im klassischen Marxismus nicht, es wäre für die erste Generation von Marxisten ein Denk-Unding gewesen, gleiches gilt für "sozialistische Marktwirtschaft".

Die nichtkapitalistische Gesellschaft in der DDR war zweifellos de facto eine warenproduzierende Gesellschaft, dafür sprechen beispielsweise folgende Indizien:

- alle wesentlichen ökonomischen Reformversuche zielten auf mehr "Markt" (NÖP, NÖSPEL, Kombinatsbildung)

- trotz aller Versuche gelang es nie, eine zummenhängende Theorie der Funktion des Geldes im "Sozialismus" zu schaffen, eine Ursache dafür war die voluntaristische Preispolitik, die sich weder durch die herrschenden Wirtschaftskreisläufe (Markt), noch aus den theoretisch vorausgesetzten Normativen für den Sozialismus erklären ließ,

- die Begriffe der Betriebswirtschaftslehre in der DDR waren nur andere Nomina für die Entsprechungen in der BRD (z.B. Gewinn-Erlös,)

Das Ganze war also ein Hybrid (nach Trotzki eine "Übergangsgesellschaft") aus Kapitalismus und gemeineigentümlichen Gesellschaftsformen, aber das alles ideologisch überformt: - man konnte ja schlecht zugeben, daß man de facto die “herrschende” Arbeiterklasse ökonomisch enteignet hatte, ich zweifle sogar daran, daß es darüber überhaupt ein Bewußtsein bei den herrschenden Bürokraten gegeben hat.

Das "Sich-Nicht-Eingestehen-Wollen" und -Können, die inkonsequente Durchführung der warenproduzierenden Gesellschaft, war eine der wesentlichen Ursachen des ökonomischen Verfalls, insbesondere des Sinkens der Akkumulationsrate und der Arbeitsproduktivität, aber auch des "Verschlafens" wichtiger Neuerungen der Produktivkraftentwicklung.

Für einen Vorstoß zu mehr Sozialismus wäre das Einreißen der gesamten bisherigen Propaganda notwendig gewesen.

1.3. Wenn das alles so war, werden Sie fragen, woher kommen dann die "Erfolge" beim sozialistischen Aufbau und die Identifikation vieler Menschen mit diesem Gesellschaftsmodell?

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sehe ich dafür folgende Ursachen:

Eine gewisse Tragik der Entwicklung besteht darin, daß dieses "Modell" nicht nur einfach Überlebensfähigkeit besaß, sondern sogar eine gewisse sozial-historische Effektivität. Darum wurden Mängel lange Zeit nicht erkannt bzw. verdrängt. Dieses begrenzte Fortschrittspotential (oder Modernisierungspotential), dem die "Erfolge des Sozialismus" zu verdanken sind, resultiert aus dem anfänglichen Versuch des Übergangs in die neue Gesellschaftsform, die mit diesem gesellschaftlichen Wandel frei werdenden gesellschaftlichen Energien führten zu einem Entwicklungsschub, die Oktoberrevolution setzte einen welthistorischen "Innovations-Impuls" frei, der noch lange nachwirkte.

Aber dieser Fortschritt hielt nicht an, es kam zur Stagnation, weil es sich nur um die Triebkräfte des "ersten Zugriffs" handelte, weil es eben nicht gelang, sich innerhalb dieses "Modells" auf die eigentlichen Triebkräfte der neuen Formation (des eigtl. Sozialismus) zu stützen. Sie wurden im Gegenteil sogar unterdrückt. Spätestens seit Ende der 60-ziger Jahre ist das begrenzte Fortschrittspotential erschöpft, seitdem häuften sich die Stagnationserscheinungen.

Aus diesen Anfangserfolgen und besonders aus der Befriedigung bestimmter sozialer Bedürfnise (in der DDR mit dem Honecker-Kurs verbunden) erwuchsen die Möglichkeiten für eine massenhafte positive Identifikation mit dieser Gesellschaft, die bis zum Auftreten starker Krisenerscheinungen relativ stabil blieb. Zu den "Erfolgen der Sozialpolitik" muß allerdings aus heutiger Sicht angemerkt werden, das sie einen hohen Preis hatten:

- Leben aus der volkswirtschaftlichen Substanz (siehe Verfall der Wohnungen und der Infrastruktur)

- eine Wachstumspolitik, die zur ökologischen Verwüstung ganzer Landstriche geführt hat.

2. Problemkreis: politische Macht - Demokratie, Freiheit

Die "Klassiker" haben den Sozialismus immer als eine Gesellschaft der allseitigen Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums, der entfalteten Subjektivität, der Humanität, des schöpferischen Gestaltens durch die Massen und der größtmöglichen Freiheit verstanden. Sozialismus war gedacht als eine Gesellschaft, in der die Menschen zu den Subjekten ihrer eigenen Entwicklung werden. Merkmale wie Freiheit, Solidarität und Humanität sind Voraussetzungen für den Sozialismus, erst sie machen ihn zu einer höheren Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung.

Die grundlegende Deformierung des real existierenden Sozialismus bestand darin, daß die Menschen, die Klassen und Schichten, die Subjekte dieser Gesellschaft zunehmend und in unterschiedlichem Ausmaß, zu Objekten degradiert wurden - nun nicht mehr ihrer Selbstentwicklung, sondern einer ihnen äußerlichen Bewegung. Selbstbestimmung wurde durch Fremdbestimmung ersetzt. Es kam zu einem dramatischen Verlust an Individualität, Erscheinungen wie soziale und ideologische Gleichmacherei, Desinteresse und Schlendrian breiteten sich aus. (Der Staat betrachtete seine Bürger als Eigentum, was im “Honecker-Prozeß” von einem Ex-Grenzergeneral sogar wortwörtlich zum Ausdruck gebracht worden ist.) Die massenhafte Entmündigung der Menschen verschüttete alle wesentliche Triebkräfte der neuen Gesellschaft und deformierte alle Verhaltensweisen und Verhältnisse in ihr. Die damit verbundene Stagnation ist die Ursache für den Verfall der Moral und die tiefe Sinn- und Orientierungskrise der letzten Jahre.

Der verbrecherische Terror Stalins und seines Apparates war die notwendige Konsequenz dieser Deformation. Weshalb: enteignete Produzenten und entmündigte Bürger reagieren mit gesellschaftlichem Desinteresse (in der Wirtschaft mit der Tendenz zur Arbeitsverweigerung, in der DDR-Wissenschaft vornehm "Arbeitszurückhaltung" genannt), das führt u.a. zum Absinken der Produktivität. Diese Entwicklung muß kompensiert werden durch Zwang und Reglementierung; da die grundlegenden Probleme nicht gelöst werden, reproduziert sich das Problem auf immer höherer Stufenleiter. In dieser Spirale hat der Terror die Tendenz, sich zu verselbständigen. Der Terror ist integraler Bestandteil dieser Gesellschaften, worauf noch eingegangen wird.

Das Resultat: nach meiner Meinung handelt es sich um eine "subjektlose Gesellschaft", soll heißen, jedes Subjekt, jede entwickelte Individualität wird zur Gefahr, weil sie die Legitimität der herrschenden Bürokratie in Frage stellen kann. Sie muß und wird deshalb unterdrückt werden. Verkümmerte Individualität, Begrenzungen der Freiheitsrechte (Freizügigkeit) führen auf diesem Gebiet zu einem Rückfall hinter die bürgerliche Gesellschaft.

Einen anderen Rückfall in quasi “feudale” Strukturen stellen auch die Privilegien dar. In einer "Gesellschaft der Gleichen" gab es ungleichen Zugang zur Macht, so z.B. Herrschaftswissen, Informationshierarchie, Kaderauslese, gibt es einen ungleichen Zugang zu den Konsumtionsmitteln. Hier ist nicht das Ausmaß entscheidend (Wandlitz), sondern der Fakt an sich. Diese Priviegien erfüllen den Zweck, die herrschenden Bürokraten in das System einzubinden, sind also nicht zufällig, sondern notwendig.

2.1. Wie funktionierte nun diese bürokratische Diktatur?

In den 40 bzw. 70 Jahren seiner Existenz hat sich die Funktionsweise des administrativ-bürokratischen Sozialismus verändert. Meine Betrachtung bezieht sich hier auf die letzten 20 Jahre.

Die Gesellschaft ist in einer solchen Weise formiert worden, das die Anwendung von offenem Terror die Ausnahme darstellte, eigentlich nur noch in Krisenzeiten vorkam. Allerding stellte sein jederzeit möglicher Einsatz, die ständige Bedrohung, einen disziplinierenden Faktor dar.

Hauptform der Machtausübung wurde ein System der Herrschaftsgestaltung, die es einer relativ kleinen Gruppe von Bürokraten ermöglichte, die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten jedes Menschen zu steuern, d.h. es bestand eine fast unumschränkte Verfügungsgewalt über das Individuum. Über Dutzende von politischen und ideologischen Mechanismen wurde die Entwicklung der Menschen so geleitet, daß sie für die Gesellschaft "geformt" sind und möglichst wenig Protest- und Konfliktpotential hervorbringen. Wer sich nicht "anpasste", seine Persönlichkeit nicht in dieser Weise deformierte, wurde mit dem Entzug von Entwicklungschancen (z.B. Studienplätze) oder mit dem gesellschaftlichen Abseits bestraft. Je angepasster, desto bessere Aufstiegsmöglichkeiten. Die dadurch betriebene "negative Selektion", die Züchtung von Mittelmaß, vernichtete oder blockierte kreatives, schöpferisches Potential in großem Ausmaß, was zwangsläufig erst zum stagnativen Niedergang und im weiteren zum Untergang der Gesellschaft führen mußte. (Der Einwand, dies sei in der bürgerlichen Gesellschaft in bestimmten Bereichen genauso, gilt nicht, weil es a.) eben keine bürgerliche Gesellschaft sein sollte und b.) es im bürgerlichen System genügend "Lücken und Nischen" für Innovation gibt).

Ebenfalls typisch für dieses System ist die gesellschaftlich organisierte Trennung von Entscheidung und Verantwortung.

Diejenigen, die entscheiden, müssen sich nicht für die Resultate verantworten, und die Verantwortlichen haben keinen Einfluß auf die Entscheidungsfindung, was sie eigentlich jeder Verantwortung enthebt. Die Folge sind Mittelmaß, Kompentenzwirrwar, wachsende Bürokratie bei zunehmender Ineffizienz, Entscheidungsstau, Willkür, Spontaneität und tendenzielle Anarchie.

Die alles war in den letzten Jahren der DDR, besonders in der Wirtschaft, spürbar, in gewisser Weise sind die Umstände der Maueröffnung ein tragisch-komisches Ende dieses Zustandes.

3. Komplex: Ideologie

Im Gegensatz zu Kunst und Literatur, kommt es auf anderen Gebieten des geistigen Lebensprozesses, insbesondere in Politik und Gesellschaftswissenschaften zu einem Verfall der geistigen Kultur. Dies war für eine Gesellschaft, die in ihrem Selbstverständnis davon ausging, daß sie auf der Basis einer wissenschaftlichen Theorie planmäßig gestaltet und entwickelt wird, eine Katastrophe. Die Ursachen des Verfalls der geistigen Lebens, des Verfalls der philosophischen Kultur sind nicht so sehr in den Fehlern einzelner Funktionsträger zu suchen, sondern sie sind systembedingt und systemnotwendig.

Die stalinistische Variante des Sozialismus als einer administrativ-bürokratischen Herrschaft mit autokratischen Zügen und halbfeudalen Verhaltensweisen der herrschenden Schicht produzierte notwendigerweise eine bestimmte Form der Ideologie und der sie tragenden/begleitenden politischen und geistigen Kultur. Kennzeichnendes Grundelement aller ideologisch-theoretischen Lebensäußerungen dieser Gesellschaft ist der Legitimationszwang. Diese Gesellschaft ist hervorgegangen aus einer philosophisch-theoretisch begründeten Vision von K. Marx u.a., die in der Arbeiterbewegung ihre historische Manifestation fand. In dieser Arbeiterbewegung entwickelte sich ein Wertesystem, eine Zukunftsprojektion, an der sich jede reale Gesellschaft, die sich auf die Ideale des Sozialismus berief und aus ihm legitimierte, zu messen hatte. Je größer nach 1924 die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit wurde, um so mehr mußte/wurde eine ideologische Scheinwelt, eine pseudo-theoretische Wirklichkeitsdarstellung vorherrschend. Da diese Form der verzerrten Widerspiegelung einer deformierten Realität aber auch noch auf das Ideal fixiert war, verlor sie immer mehr an theoretischer Substanz, an Wissenschaftlichkeit und zunehmend an Glaubwürdigkeit. Alle drei negativen Erscheinungen erzwangen gleichstark die Kanonisierung des vorhandenen Wissens, behinderten seine Weiterentwicklung. Paralellen zur mittelalterlichen Scholastik sind keineswegs zufällig. Der sich entwickelnde Dogmatismus vernichtete, bis auf "Nischen", die revolutionären Grundlagen des Marxismus: die Dialektik wurde, in konsequenter Form benutzt, immer mehr zu einer Gefahr für das starre System (siehe: "Kontinutität und Erneuerung", Eliminierung von Widerspruchs- und Konfliktdenken als Methode, Gesetzesfetischismus u.ä.). Der Materialismus als radikale Wirklichkeitsanalyse verwandelte sich auf weiten Strecken in idealistische Sophisterei.

Wie in jeder autokratischen Herrschaft wurde der staatsoffizielle Marxismus/Leninismus (M/L) zu einer Herrschaftsideologie, aber hier zu einer Legitimationsideologie, einer Begründungs- und Rechtsfertigungsideologie der Herrschaftsweise. Er nahm zum Teil unübersehbare Züge einer Religion an, daher auch die (von anderen oft gezogenen) Paralellen zum Mittelalter.

Indem und dadurch daß der M/L Herschaftsinstrument wurde, aber in Form der Klassikertexte, die allgemein zugänglich waren (bis auf Trotzki und die linke Kritik), insbesondere von den Wissenschaftlern auch benutzt wurde, stellte er auf Grund der in den Originalschriften vorhandenen Geistigkeit und Tiefe, ein ständiges Gefährdungs- und Konfliktpotential für die Herrschenden dar. Um den "Häresien" der Wissenschaftler entgegenzuwirken, wurde ein patriarchalisch anmutendes System der Wissenschaftsorganisation (und Veröffentlichungspraxis) geschaffen und Ideologiekontrolle organisiert, dessen Wirkung die Nivellierung des Denkens und Stagnation des geistigen Lebens war. Diese Tendenz zeigt sich besonders in der Geistfeindlichkeit v.a. des Parteiapparates. Seit den 50-ziger Jahren wurde eine "schleichende Diffamierung" der Intelligenz, besonders der künstlerischen und wissenschaftlichen, betrieben, die sich insbesondere in der Gegenüberstellung/Trennung zur Arbeiterklasse äußerte: z.B. Arbeiterkinder zum Studium, Erhöhung des "Arbeiteranteils in den Leitungen" in Krisenzeiten, Manipulationen bei der Bestimmung des sozialen Status von ganzen Beschäftigtengruppen (alle Offiziere galten als Arbeiterklasse).

Aus dieser pauschalen Diffamierung der Intelligenz als unzuverlässige Schicht, als “angekränkelt” (Parallelen zum Faschismus unübersehbar) usw. spricht die Angst des Apparates, der Bürokratie. Der Gedanke von G. Stiehler von der "negativen Selektion" d.h. von der Rekrutierung des Apparates durch das "gezüchtete Mittelmaß", die daraus resultierende, real begründete Angst der Mittelmäßigen vor den Gebildeteren, Besseren usw. findet hier (in der Intelligenzfeindlichkeit) seinen realen Widerschein. Für die Scheinmoral der herrschenden Ideologie spricht, daß die Intelligenz nie offen diffamiert wurde, sondern im Gegenteil als Bündnispartner umworben wurde, aber dafür im o.g. genannten Sinn "strukturell" verdächtigt wurde. Widerschein dieser gesellschaftlichen Cliquenherrschaft ist die Monopolisierung der Wissenschaftsstrukturen. Wie in der Gesellschaft haben sich hier einzelne Leute ein System der Verfügungsgewalt über Verlage, Planstellen etc. geschaffen, mit denen sie die Entwicklungsmöglichkeiten jedes Einzelnen genau beherrschen und auch damit negative Selektion betreiben konnten.

In vielen Institutionen war persönliche Ergebenheit gegenüber dem Chef der sicherste Weg zum “Weiterkommen" (Ausnahmen bestätigen die Regel). Persönliche Streitigkeiten, Karierregerangel wurden oftmals auf der Basis der Zerschlagung irgendwelcher "Ismen" ausgetragen, was zu Anpassungsverhalten, zu einem schablonenhaften Kopieren anderer Arbeiten, einer "Zitierkultur", einer Übernahme von Aussagen bis in die wörtliche Formulierung (aus Angst "neben der Linie zu liegen") hinein, führte. Dadurch entstand nicht bloß eine unkreative Wissenschaftskultur, sondern gähnende Langeweile, was bei den Recipienten zu einer Ablehnung ganzer Wissenschaftsdisziplinen (Philosophie, Geschichte) führte. Die Warnungen der Wissenschaft vor Fehlentwicklungen wurden vom Apparat nicht ernst genommen, aber immer mehr Wissenschaftler verloren auch das Interesse, solche Fragen aufzugreifen, weil das karierreschädigend war.

Der sowjetische Schriftsteller Rybakow (Die Kinder vom Arbat) stellte den moralischen Zustand dieser Gesellschaften so dar: "Ehre bedeutete nicht Übereinstimmung des Handelns mit dem Gewissen, sondern Wahrhaftigkeit den äußeren "Instanzen" gegenüber; die Treue hatte sich nur auf eine bestimmte Person zu richten, die Partei und Volk verkörperte; zu glauben hatte man nicht an das Gute, sondern an die Dogmen. Im Namen des Guten wurden Härte und Unduldsamkeit geübt." Ich könnte dies mit weiteren Beispielen fortsetzen, aber ich will noch einiges zum “Zusammenbruch” sagen.

Das Sozialismusmodell stalinistischer Prägung, das auch in der DDR vorherrschte, erreichte spätestens Mitte der 80-ziger Jahre die absoluten Grenzen seiner Entwicklung. Die Krise brach, mehr oder weniger schnell, offen aus. Ursache hierfür war, verkürzt gesagt, die wissenschaftlich-technische Revolution, die massenhafte Freisetzung von Subjekteigenschaften des Individuums erzwingt, eine Revolution, in der Merkmale wie Freiheit, Freizügigkeit der Information, Flexibilität, Schöpfertum und Risikobereitschaft, also Persönlichkeitseigenschaften einer entfalteten Individualität unmittelbar aus der Produktivkraftentwicklung erzwungen werden. Diesem Handlungsdruck war das starre System nicht gewachsen und es implodierte an seinen eigenen Widersprüchen, fiel zusammen wie ein Kartenhaus.

Zusammenfassung:

1. Das SED-Regime konnte den selbst gestellten Anspruch, Sozialismus zu gestalten nicht einlösen. Dafür sind sowohl geschichtliche, also äußere Ursachen (u.a. Entwicklung in der SU) verantwortlich, aber auch zunehmend die eigenen Fehlstrukturen.

2. Es handelt sich bei diesem Regime um eine bürokratische Diktatur über die Werktätigen. Der nahezu vollständige Mangel an Demokratie verhinderte, das sich diese Gesellschaft von einer nichtkapitalistischen zu einer sozialistischen entwickeln konnte.

3. Der Zusammenbruch des SED-Regimes war nicht das Resultat äußerer Umstände (etwa des "Verrats von Gorbatschow"), sondern Folge jahrzehntelanger Fehlentwicklungen. Er war somit gesetzmäßig, unaufhaltsam und notwendig.(2)

4. Der Zusammenbruch der osteuropäischen "real sozialistischen" Gesellschaften stellt neben einer partiellen Niederlage der Fortschrittskräfte vor allem eine große Chance im Emanzipationskampf dar, weil er eine historische Sackgasse beendete.


Anmerkungen

(1) Die Alternative Enquétekommisson “Deutsche Zeitgeschichte” (AEK) wurde auf Vorschlag von Dr. Wolfgang Harich (1923-1995), mit dem Mandat des “Kuratoriums der Ostdeutschen Verbände”, 1992 gegründet. W. Harich war von der Gründung bis Oktober 1994 ihr Vorsitzender und lud in dieser Eigenschaft den Autor zu dem hier wiedergegebenen Vortrag ein. Der Autor wurde auf Harichs Vorschlag 1993 zum Vorstandsmitglied der AEK gewählt. (Erstveröffentlichung in gekürzter Fassung in INPREKORR 265).

(2) Nachtrag 2005: Seit dem Erscheinen des Artikels bin ich wegen Punkt 3 und 4 mehrfach heftig von führenden Funktionären der Komm. Plattform in der PDS, aber auch DKP-Mitgliedern und Lesern der ZS “Rotfuchs” angegriffen worden, je länger ich aber darüber nachdenke, um sichererer bin ich mir, daß von einem marxistischen Blick auf die Epoche aus, beide Einschätzungen zutreffen.