Dieter Elken (Berlin):

Europäische Verfassungsfragen

Die Entscheidungsträger der Europäischen Union, ihre souveränen Mitgliedsstaaten, wollen sich eine neue Verfassung geben. Wie bei der Entscheidungsfindung in der EU üblich, beruht der Text des Verfassungsvertrages auf einem hinter den Kulissen sorgfältig ausgehandelten Kompromiß der Regierungen der Mitgliedsstaaten. Für die demokratische Mitwirkung der Staatsbürger bei der Ausarbeitung einer Verfassung bleibt kein Raum. Selbst in den Staaten, in denen das Volk abstimmen darf, wird es von Konservativen, Liberalen, vielen Sozialdemokraten und Grünen vor die Scheinalternative "für" oder "gegen" Europa gestellt. Die beiden letzteren gestehen dabei für gewöhnlich zu, daß der Verfassungsvertrag Mängel aufweist. Sie behaupten aber, daß seine Annahme uns einen weiteren Schritt hin zu einem sozialeren und friedlichen Europa brächte. Das ist auch von deutschen Ministern zu vernehmen.

Da der Verfassungsvertrag die EU und ihre Mitgliedsstaaten ganz unverhüllt auf eine kapitalistische Wirtschaftspolitik verpflichtet, und noch dazu auf eine besonders rabiate Variante kapitalistischer Wettbewerbspolitik, den Neoliberalismus, wächst der Widerstand gegen dieses Projekt. Vielen Linken stößt auf, daß sich die europäischen Staaten im Vertragsentwurf auf forcierte Rüstungsanstrengungen geeinigt und zum Aufbau einer gemeinsamen, weltweit operierenden schnellen Eingreiftruppe verabredet haben. Das allein sollte jeden Gedanken an Zustimmung zu diesem Verfassungsvertrag verbannen.

Aber so ist es nicht. Die PDS beglückt die Linke wieder einmal mit einer Schmierenkomödie. Die prinzipielle Gegnerschaft zur neuen Verfassung (so der Parteitag) wird mit einem lächerlichen Formelkompromiß des Parteivorstands umgesetzt : Die PDS-Minister und Senatoren sollen die Verfassung öffentlich ablehnen, aber ihren Koalitionspartnern signalisieren, daß sie einer Zustimmung nicht im Wege stehen. Das alles ließ sich noch steigern. Die Berliner Senatoren und die Mehrheit der PDS-Fraktion des Abgeordnetenhauses (so jedenfalls das offizielle Abstimmungsergebnis) erklärten, sie begrüßten die neue EU-Verfassung, würden sich aber der Stimme enthalten und einer Zustimmung des Landes Berlin im Bundesrat zu eben dieser Verfassung nicht im Wege stehen. Kommentar überflüssig.

Die reformerische Linke, u.a. attac und die WASG, lehnt das EU-Verfassungsprojekt ab. So weit, so gut. Zugleich wird das positive Denken geprobt: Es wird ein Bekenntnis zu einem sozialen und friedlichen Europa abgegeben. Aber es wird nicht darüber nachgedacht, ob ein solches Europa möglich ist.

Es ist schon erstaunlich genug, daß hierzulande so viele Linke glauben, es sei möglich, gegen den erklärten subjektiven Willen der gesamten Bourgeoisie eine grundlegend andere Variante bürgerlicher Politik durchzusetzen, den Neokeynesianismus. Noch erstaunlicher ist der Glaube z.B. der WASG-Mehrheit,

diesem Projekt durch den Verzicht auf antikapitalistische Forderungen bessere Chancen auf Verwirklichung verschaffen zu können. Die weitverbreitete Wunschvorstellung, den Imperialismus dauerhaft friedfertig machen zu können, stützt sich erst gar nicht auf irgendeinen Anschein von Plausibilität. Aber möglicherweise zaubern uns auch diese Reformer ja irgendeinen besonderen deutschen Weg zum Sozialkapitalismus aus dem Ärmel.

Wird bedacht, daß im Falle des Scheiterns der Verfassung erst einmal alles beim Alten bliebe, d.h. daß jede Reform der EU der Einstimmigkeit bedürfte, müßten unsere Reformer ihr Projekt der Verwirklichung eines sozialen und friedlichen Europa auf erfolgreiche sozialdemokratische Reformpolitik als ausnahmslosen Regelfall stützen. Das setzte einen neuen Boom der imperialistischen Wirtschaft voraus. Dieser ist aber nicht in Sicht. Wir befinden uns in einer neuen Phase der Stagnation. Und die Bourgeoisien ausnahmslos aller imperialistischen Staaten sehen keinen anderen Ausweg aus dieser Lage als Sozialabbau, Aufrüstung und die Neuverteilung der Welt.

Daß es angesichts dessen möglich sein soll, alle Regierungen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union - das sind zur Zeit 25 (in Worten: fünfundzwanzig) - übereinstimmend dazu zu bringen, in Zeiten kapitalistischer Stagnation auf Aufrüstung als risikolose Kapitalanlagesphäre und auf die von den realen herrschenden Klassen gewollte bürgerliche Politik zu verzichten, ist wirklich zuviel der guten Mär. Bereits der Sieg tatsächlicher Reformer in nur einem Land der EU würde die Einheit der Europäischen Union zerplatzen lassen.

Das gilt natürlich erst recht für den Fall, daß sozialistische Kräfte in einem Mitgliedsstaat oder gar mehreren siegreich sein sollten. Dann stünde keine Reform der EU an, sondern deren Auflösung. Die Alternative zum Projekt des imperialistischen Europa ist kein nebulöses soziales, friedliches kapitalistisches Europa. Die Europäische Union ist nicht reformierbar. Sie ist aufzulösen und durch ein Rotes Europa zu ersetzen.

09.05.05