Ingo Wagner

Die “Aufgaben der Linken” — Linke Alternative heute?

- Notate zum Nachdenken -

Beitrag (Vortrag) auf der Konferenz “Kapitalistische Wirtschaftskrise und die Aufgaben der Linken” am 19. Juni 2004 in Leipzig;

 

Veranstalter: Marxistisches Forum Sachsen, Geraer Dialog/Sozialistischer Dialog, KPF-Sachsen, RotFuchs-Verein Region Leipzig und Marx-Engels-Stifung Wuppertal

I.

Jeder Konferenzteilnehmer weiß, daß die heutige Lage aller linken Kräfte — im weitesten Sinne — äußerst schwierig und vielschichtig ist. Ich kann hier weder auf die Ursachen dieser mißlichen Lage eingehen, noch auf die Frage, ob es geeignete geschichtliche Erfahrungen gibt, die helfen könnten, unsere heutigen Probleme zu lösen. Ich will mich hier vielmehr auf einige Notate — fragmentarisch — zu den “Aufgaben der Linken” beschränken, die im Konnex einer der veränderten Realität entsprechenden Strategie, Programmatik und praktischen Politik angesiedelt sind.

Was sind überhaupt Linke heute? Die Begriffe “rechts” und “links” finden nach wie vor im politischen Sprachgebrauch uneingeschränkt Anwendung. Bleiben wir bei “links”. Angesichts der Komplexität und Neuartigkeit der Probleme, welche sich in den gegenwärtigen politischen Bewegungen zeigen, gibt es nicht nur eine Linke; es gibt viele Linke — wie es auch viele Rechte gibt - , natürlich unterschiedlicher Couleur. Aber die “Sprache der Politik” ist eine Sprache bewertender Begriffe, die vielfach unbestimmt, das heißt mehrdeutig und damit für politische Programme und praktische Politik verwendungsfähig geworden sind. Mit anderen Worten: Die Bezeichnung “links” ist mehrdeutig. Der pragmatische Gesichtspunkt dieses Begriffs zielt darauf ab, Gefühle hervorzurufen, Handeln auszulösen und zu bewerten. Man kann von ihm deskriptiv, axiologisch und historisch Gebrauch machen. Dies möchte ich nunmehr “auszugsweise” etwas in Sicht des Konferenzthemas illustrieren.

Die SPD, die traditionell als “links” bezeichnet wird, ist offensichtlich zu einer bürgerlichen Partei mutiert, die neoliberale soziale Konterrevolution vollstreckt. Ihre Parteilinke ist impotent. Punktuelle Abweichungen von den mehr oder weniger gleichen Aussagen von CDU und CSU, die als Rechte agieren, sind eine Karikatur auf links. Damit hat die SPD als eine solche linke Kraft ausgedient, wie sie noch Peter Glotz nach der Niederlage des Sozialismus 1992 im Sinn hatte: Und zwar “als die Kraft, die die Begrenzung der Logik des Marktes verfolgt, oder vorsichtiger ausgedrückt, die Suche nach einer Rationalität, die mit der Marktwirtschaft vereinbar ist; die Sensibilisierung für die soziale Frage, das heißt die Unterstützung des Sozialstaates und bestimmter demokratischer Institutionen; die Umsetzung der Zeit in neue freiheitliche Rechte; die tatsächliche Gleichstellung der Frauen; der Schutz des Lebens und der Natur; der Kampf gegen den Nationalismus.”[1] Diese Zeit ist passé. Die SPD hat sich mit ihrem Übergang auf neoliberale Positionen zur tragisch-komischen Figur entwickelt, die nunmehr den verdienten Tritt in den Hintern bekommt und an ihrer Selbstvernichtung aktiv mitwirken darf.

In welchem Sinne ist die PDS eine Linkspartei? Sie hat sich mit der Annahme ihres Chemnitzer Parteiprogramms vom Marxismus und authentischen Sozialismus verabschiedet. Die PDS hat sich damit voll als eine Partei des kleinbürgerlichen Sozialreformismus ausgeprägt; sie ist zu einer sozialdemokratischen Partei sui generis mutiert, die programmatisch und praktisch durch den “Modernen Sozialismus” geprägt wird: Sozialismus durch Kapitalverwertung auf dem Boden und im Rahmen des Kapitalismus selbst. Das ist kapitalistischer Sozialismus. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte: Die PDS versucht jetzt, die soziale Rolle einzunehmen, die der SPD immer mehr abhanden kommt, nämlich Linke den sozialen und ökonomischen Erfordernissen des Kapitals unterzuordnen, sie in den politischen Mainstream der bürgerlichen Gesellschaft einzuordnen und in deren kulturelle Hegemonie einzubeziehen. Hiervon zeugen anschaulich die Koalitionen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. Das politische Anliegen der programmatischen Neuorientierung der PDS ist insofern die Erhaltung und das Funktionieren des Kapitalismus; und zwar durch Beschneidung seiner extremen Auswüchse und zugleich durch Lähmung der revolutionären und wirklich antikapitalistischen Kräfte. Als “Gebrauchswert” für die Bourgeoisie wird sie noch benötigt. Ergo. Die PDS agiert so als linker Flügel der Bourgeoisie. “Links” kann hier nur Bourgeoisiesozialismus bedeuten. Die marxistische Linke in der PDS ist ohne Chance; sie hat ausgedient. In concreto verweise ich auf mein Buch “Eine Partei gibt sich auf”[2]

Wir alle wissen, daß die Lage in der kommunistischen und linkssozialistischen Bewegung gleichfalls mehr als besorgniserregend ist. Die organisatorischen Formen dieser Bewegung haben ihre eigene Tradition, ihren eigenen Erfahrungshorizont und somit auch derzeit ihre eigene “Existenzberechtigung”, die die Zersplitterung der kommunistischen Kräfte, Konfusion und in erheblichem Maße Meinungsverschiedenheiten widerspiegelt — alles Fragen, die besonderer Überlegungen bedürfen. Insofern gibt es nicht nur eine Linke, sondern viele Linke, deren Benennung oft verwirrend ist.[3] Ohne auf den begrifflichen Eiertanz und auf die Frage nach (intellektuell und praktisch-politisch) emanzipatorischen Linken hier einzugehen, wäre es sicherlich erst einmal sinnvoll, eine marxistische Linke im universellen Sinne abzuheben — in einem Sinn, der sich mit Bezug auf Marx, Engels und Lenin zum Antikapitalismus als Möglichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus bekennt und damit zugleich zu einem sozialistischen Egalitarismus — nach Noberto Bobbio: “Der Kampf für die Abschaffung des Privateigentums — für die ... Kollektivierung der Produktionsmittel, ist für die Linke immer ein Kampf für die Gleichheit, für die Gesellschaft der Gleichen gewesen.”[4] Für eine wirklich Linke war dieses “Ideal der Gleichheit immer der Polarstern ..., den sie angeschaut hat weiterhin anschaut, eindeutig und klar.”[5]

Diese elementare Prämisse ist Boden und Rahmen, um überhaupt von einer marxistischen Linken zu sprechen — abstrahiert von allen historischen, theoretischen und politischen Differenzen innerhalb dieser Linken. Nur diese Sicht ermöglicht es, für die Aktionseinheit der deutschen marxistischen Linken zu plädieren und einige gegenwärtige Trends zu bewerten.

II.

Hans Modrow meinte anläßlich der Gründung einer Linken Europäischen Partei (EL), daß dies “ein Anfang, der voller Hoffnung ist und eine Chance, die genutzt sein will.”[6] Und Fausto Bertinotti betrachtet dieses Projekt als Geburt eines neuen politischen Subjekts, “als wichtigen Akteur beim Aufbau einer neuen Arbeiterbewegung in Europa, (damit) wieder kraftvoll die Frage nach der Revolution aufgeworfen werden” könne.[7] Weiter: “Die EL bleibt offen für kommunistischen genauso wie für nichtkommunistische Kräfte. Die Vermischung der verschiedenen politischen Kulturen bringt eine attraktive kapitalismuskritische Kraft hervor.”[8] So weit — so gut. Schaut man allerdings hinter die Fassade dieses “revolutionären Pathos”, so entpuppen sich die beschworenen Werte und Traditionen der “sozialistischen, kommunistischen und Arbeiterbewegung” als eine Fata Morgana. Eine Annäherung an die gegenwärtige Sozialdemokratie ist die EL wohl nicht; denn diese ist zu einer bürgerlichen politischen Formation mutiert, die die neoliberale soziale Anliegen praktiziert. Die EL will vielmehr “die Profitdominanz in Frage stellen und die Herrschaft des Kapitalismus überwinden.”[9] Aber nicht den Kapitalismus als ökonomisches Phänomen. Die Folge kann deshalb nur ein kapitalistischer Sozialismus sein, wie er im Chemnitzer Programm der PDS verankert ist. Als Prototyp eines solchen “Sozialismus” ist die EL faktische ein politisches Projekt von EU-Gnaden. Sie ist in das bürgerliche Wertesystem einbezogen und von EU-Subventionen abhängig. Das liest sich bei Helmut Scholz, Internationaler Koordinator beim Parteivorstand der PDS, so: “Die Europäische Linkspartei wird auch den Antrag an die EU stellen, entsprechend der Verordnung über die Finanzierung europäischer politischer Parteien, aus dem Steuer gefüllten Säckel des EU-Haushalts die uns zustehenden Gelder zu erhalten.”[10] Auch dies signalisiert, daß die EL nur als “linker” Flügel der Bourgeoisie selbst als Bourgeoisiesozialismus fungieren kann. Ein solcher “Linkssozialismus” ist in Wirklichkeit moderner Sozialimperialismus. Der beschworene Antikapitalismus verbleibt in diesem Rahmen. Er impliziert nicht die Möglichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus, sondern eine solche transformatorische Reform des Kapitalismus, der keinen Ausweg aus dem welthistorischen Spannungsfeld “Sozialismus oder Barbarei” eröffnet. Die EL ist also auf Sand gebaut. Welche politisch-soziale Rolle will eine solche “linke” Partei eigentlich in den sozialen Bewegungen als Teil dieser Bewegung spielen. Wolfgang Gehrcke, außenpolitischer Sprecher des PDS-Parteivorstands, lebt wahrscheinlich auf einem anderen Stern, wenn er darauf beharrt, “daß der Marxismus eine Grundlage in der Zusammenarbeit” ist.[11] Nachdem sich die PDS mit ihren Chemnitzer Parteiprogramm vom Marxismus verabschiedet hat, kann es ihm in Wirklichkeit wohl nur darum gehen, “noch bestehenden kommunistischen Parteien ihre kommunistischen Ideen auszutreiben. Der Linken im EU-Bereich soll der marxistische Giftzahn gezogen werden.”[12] Ergo: Die EL spaltet mehr als sie eint. Sie ist eine Schimäre, und dies ist deshalb äußerst besorgniserregend, weil selbstverständlich für das Entstehen einer neuen europäischen Arbeiterbewegung auf linker, marxistischer Grundlage solche Formen einer politischen internationalen Zusammenarbeit nötig sind, die auch die (neuen) sozialen Bewegungen tangieren.

In diesem Konnex möchte ich allerdings abheben, daß für diesbezügliche Aufgaben der marxistischen Linken nach wie vor der eigene nationale Staat primär Boden und Rahmen bleibt — und damit auch das entscheidende Feld des Klassenkampfes. Ich weise somit Auffassungen vom Schrumpfen des Staates zurück, die daraus abgeleitet werden, daß mit der Produktivkraftentfaltung im Imperialismus heute im Gefolge der digitalen Revolution durch die Akkumulation des Kapitals auf einer immer höheren Ebene eine zunehmenden Ausschaltung der Konkurrenz durch neue Monopolbildungen erfolgt.[13] Noch sehen die mächtigsten Kapitalgruppen die weltweite Konkurrenz und nicht das nationale Kapital. Diese Internationalisierung des Kapitals rüttelte zwar an den staatlichen Grenzen — aber der nationale Staat existiert kraftvoll weiter. Denn er soll dem freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte mehr freien Raum geben, Konkurrenz herstellen. Wenn aber in historischer Sicht die Phase der sprunghaften Produktivitätssteigerung durch die Anwendung der neuen Technik überschritten bzw. abgeschlossen ist, treten uneingeschränkt die ökonomischen Gesetze wieder in Kraft, “die für die Normalität kapitalistische Produktionsweise gelten: Es sinkt die Profitrate; es herrschen Überproduktion und Unterkonsumtion; die zyklische Krise kommt wieder und wird zur großen Krise, wenn der Boom der ‚Gründerjahre’ beendet ist. Dann beschleunigt sich die Konzentration des Kapitals verstärkt, die Arbeitslosigkeit steigt weiter, die Armut wird größer und der Kampf der übriggebliebenen Kapitalgesellschaften verschärft sich. Er wird nun nicht mehr in erster Linie für Weltmarktanteile und zum Zwecke der Ausschaltung kleiner Kapitalien geführt, sondern wird zum existentiellen Kampf dieser Wirtschaftsgiganten miteinander.”[14] In dieser Sicht scheint mir die hohe Zeit, die die Entwicklung zum Konkurrenzkapitalismus förderte, überschritten zu sein. Damit zeichnet sich zugleich ab, daß der Staat wieder gebraucht wird, “nicht um die Konkurrenz herzustellen, sondern um sie einzuschränken ...”[15] Er wird wieder genutzt werden, um Monopolgewinne zu ermöglichen und die national verankerten Monopole in ihrem globalen Kampf gegen ausländische Monopole zu unterstützen. Und der offene Kampf um das Überleben der eigenen nationalen Monopole schließt ein, daß dabei — früher oder später - auch militärische Macht eingesetzt wird. Ergo. Der Staat, der als Staat des Kapitals die “gemeinschaftlichen Gesetze” des Monopolkapitals verwaltet, verschwindet nicht. Er wird vielmehr durch die angedeutete Dialektik des monopolkapitalistischen Kapitalismus geprägt — modifiziert hinsichtlich seiner Funktionen und Struktur.

Diese angedeuteten Probleme können nur in anderen Zusammenhängen weiter erörtert werden. Folgern möchte ich allerdings hieraus: bleiben wir hier auf dem Boden des deutschen Staates und gehen wir in dieser Sicht zunächst der Frage nach: Hoffnung auf eine neue Linkspartei?

Hierzu gibt es zur Zeit ein Stimmengewirr in der Presse; und zwar angestoßen durch Bayerns linke SPD-Rebellen, die aus Protest gegen die Reformpolitik der rot-grünen Bundesregierung drohten, eine neue Linkspartei zu gründen. Das Echo auf diese “Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit” (ASG) ist zwiespältig. Einerseits verstärken sich die Anzeichen zur Gründung einer neuen Linkspartei. Die ASG erfreut sich weiteren Zulaufs. In dieses Vorhaben schalten sich auch andere Kräfte - ebenfalls marxistisch unterschiedlicher Provenienz - ein. Stephan Kimmerle, Mitglied der Bundesleitung der sozialistischen Alternative (SAV) meint, daß in “einer solchen Partei ... Sozialisten offen für ihre Ideen eintreten (sollten), da sie die einzige Garantie dafür sind, nicht vom Sumpf von Kahlschlag und Kürzungen zu ertrinken — wie SPD, Grüne und PDS.”[16] Christine Buchholz von Linksruck spricht davon, daß “eine neue linke politische Kraft entsteht. Mit Uwe Hiksch, Ex-Bundesgeschäftsführer der PDS, und anderen Aktiven von der Wahlalternative ‚Arbeit und soziale Gerechtigkeit’ wollen wir überlegen, wie eine solche Kraft aussehen kann.”[17] Andererseits gibt es Ablehnung. Peter Luckmann, Sprecher der “Initiative für soziale Gerechtigkeit Gera” schreibt, daß die “Unabhängigkeit von jedweden Parteien und Organisationen ... einer unserer Grundsätze” ist.[18] Ulrich Brand, Mitglied der Bundskoordination Internationalismus (BUKO) lehnt die Initiativen für eine neue Linkspartei mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner ab: “Eine Parteigründung wäre eine falsche Antwort. Eine Partei homogenisiert, ist hierarchisch strukturiert und weil sie sich notwendigerweise auf die Wahllogik einläßt, muß sie das Medienspiel mitmachen und für alle Probleme einfache Antworten bereithalten.”[19] Gerd Lobodda, Mitbegründer der ASG möchte nicht, daß seine Bewegung in eine linke Ecke geschoben wird; sie will nichts mit der PDS zu tun haben.[20]

Michael Aggelidis und Ekkehard Lieberam sehen im “Aufbau einer antikapitalistischen Partei und — wie wir meinen — marxistisch mit beeinflußten Partei mit Masseneinfluß ... eine ganz wichtige Aufgabe zur Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses.”[21] In abstracto könnte in meiner Sicht eine solche Partei aber nur eine im Sinne eines solchen demokratischen Sozialismus sein, wie ihn Friedrich Engels für die Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb: Diese “demokratischen Sozialisten” waren “entweder Proletarier, die über die Bedingungen der Befreiung ihrer Klasse noch nicht hinreichend aufgeklärt sind, oder sie sind Repräsentanten der Kleinbürger ...”[22] Sie wollen nicht den Sozialismus, sondern solche “Maßnahmen, welche hinreichend sind, um das Elend aufzuheben und die Übel der jetzigen Gesellschaft verschwinden zu machen.”[23] Ich meine, daß der Niedergang der Partei des Demokratischen Sozialismus, ihr Übergang zum Bourgeoisiesozialismus eindeutig veranschaulicht, daß einer solchen Partei eine ähnliches Schicksal beschieden sein könnte — einmal ganz davon abgesehen, daß in meinen Augen das gegenwärtige Maß für die Gründung einer neuen linken Partei weder in den sozialen Bewegungen noch in den sozialen Bedingungen gegeben ist. In der “Arbeiterstimme” kann man hierzu lesen: “Jede linke Parteigründung muß zur Luftnummer werden, solange nicht aus den Betrieben und Gewerkschaften Basisbedingungen entstehen und diese die linken Gruppen nicht bedrängen, ihre Differenzen zurückzustellen im Kampf um aktuelle Zwischenziele. Ohne vorherige inhaltliche Klärungs- und Vereinheitlichungsprozesse würde ein solches heterogenes Gebilde bei den ersten Streitfragen wieder auseinanderbrechen.”[24] Ich stimme in dieser Sicht deshalb Andreas Gründwald vom Hamburger Sozialforum zu: “Die Diskussion über eine Parteineugründung wurde in meinen Augen zu früh angestoßen. Eine Linkspartei ist zum Scheitern verurteilt, wenn es an der notwendigen Verankerung in einer Massenbewegung fehlt. Es kommt zunächst entscheidend darauf an, einen außerparlamentarischen Zusammenhang aufzubauen. Ist das Bündnis groß und stark genug, können einzelne auch über eine parlamentarische Vertreten nachdenken.”[25] Dieses Meinungsbild ist natürlich weiterhin zu vervollständigen und zu bewerten.

Das (bisherige) Fazit: Die Bestrebungen, eine neue Linkspartei zu gründen, sehe ich skeptisch. Mir scheint, daß dieser Weg in eine historische Sackgasse führt. “Ja” sage ich zu einer breiten sozialen Bewegung, in der sich auch Norbert Blüm als “Linker” in der CSU bemühen kann, wenn er meint: “Aber die Arbeiterbewegung muß aus dem Dornröschenschlaf geweckt und wieder gestärkt werden.”[26] Inwieweit sich hieraus eine wahlpolitische Alternative 2006 ergibt, für die Aggelidis und Lieberam plädieren, bleibt für mich fraglich. Ich schließe mich hier — allerdings historisch-abstrakt — der Meinung von Winfried Wolf an, “daß die Bewegung an der Basis mit Gewerkschaften, unabhängigen Erwerbsloseninitiativen und sozialen Bewegungen entscheidend ist.”[27] Auf der historisch-konkreten Ebene möchte ich allerdings einen gleichermaßen substantiellen “Zusatz” anbringen.

III.

Es ist natürlich unbestritten, daß diese “Basis” durch Lernen aus Erfahrungen für die politische Wiedergewinnung des Selbstbewußtseins der Arbeiterklasse letztlich unentbehrlich ist. Und die soziale Bewegung wird — zunächst mehr oder weniger spontan — eine Phase der Formierung durchlaufen; sie wird neue Kampfformen entdecken — aber auch solche Formen und Ideen — gewissermaßen zum zweiten Male — praktizieren, die eigentliche Geschichte sind. Sie könnte so als “proletarische” im ursprünglichen Marxschen Sinne - d. h. als eine nicht an das Privateigentum gebundene - wiedergeboren werden. Heute schließt sie den Bauernprotest ebenso ein wie den Unmut der Intellektuellen, sie berücksichtigt den Widerstand der neuen “technischen Eliten” gegen das Kapital sowie die Erhebung der Völker an der “Peripherie” gegen die Willkür des Zentrums. Insofern ist sie mehr als nur eine “proletarische”. Eine solche Bewegung wird natürlich elementar, spontan theoretische Fragen aufwerfen, die die Bewegung selbst stellt — auch solche, die auf radikale Reformen innerhalb des Kapitalismus abzielen. So weit — so gut.

Aber ich bestreite entschieden, daß ein wirklich politischer antikapitalistischer Neuanfang ohne eine marxistische Partei möglich ist. Es gilt wohl heute mehr denn je, daß die marxistische Linke eine revolutionäre Partei braucht, die den Kampf um Gesellschaftsveränderung - letztlich um sozialistische Neuorganisierung der Gesellschaft -begreift und führt.[28] Sonst bleibt die soziale Bewegung ein Spielball in der Hand der Herrschenden. Auch heute gilt Lenins Ablehnung, “’den Sozialismus als das Klasseninteresse des Proletariats’” zu betrachten. Eine solche Gleichsetzung bezeichnet er als äußerst ungenau, zweideutig und gefährlich. “Eine solche Identifizierung ist völlig falsch ... das ‚Klasseninteresse’ zwingt die Proletarier, sich zu vereinigen gegen den Kapitalismus zu kämpfen, über die Bedingungen ihrer Befreiung nachzudenken. Das ‚Klasseninteresse’ macht sie für Sozialismus empfänglich. Aber der Sozialismus, als Ideologie des proletarischen Klassenkampfes, ist den allgemeinen Bedingungen der Entstehung, Entwicklung und Festigung seiner Ideologie untergeordnet, d. h. er fußt auf dem gesamten Rüstzeug des menschlichen Wissens, setzt eine hohe Entwicklung der Wissenschaft voraus, erfordert wissenschaftliche Arbeit usw.”[29] Auch heute ist wissenschaftlicher Sozialismus das Gebot der Stunde. Ein neues revolutionäres Projekt, welches sich in der weltweiten Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung verankert, ist nicht denkbar, ohne ein modernes marxistisches Sozialismusbild in diese Bewegung einzubringen. Nur so kann der Marxismus in diesen Bewegungen, “selbst wenn er nicht von allen Mitstreitern akzeptiert werden wird, für alle das Symbol des Kampfes um eine neue soziale Ordnung” werden.[30] Das hat überhaupt nicht damit zu tun, in diesen Bewegungen irgendein Hegemonie- oder Vertretungsanspruch zu entwickeln. Eine marxistische Partei kann sich also nicht “an sich” zum Bestandteil einer pluralistischen sozialen Bewegung bzw. einer sich entfaltenden Arbeiterbewegung machen; denn dies würde zur Aufgabe der marxistisch-sozialistischen Positionierung in der Gesamtentwicklung von sozialen Bewegungen und somit so zur politischen Niederlage führen.

Weil das so ist, plädiere ich seit Jahr und Tag für die Rekonstruktion der deutschen marxistischen Linken, für die auch Lenins Parteitheorie weitergedacht unabdingbar ist.[31] Im “imperialistischen Deutschland (ist)die Schaffung einer stärkeren, größeren und einheitlichen Partei aus Kommunisten und Sozialisten, die auf dem Boden des Marxismus-Leninismus steht, eine strategische Aufgabe, ein historischer Imperativ.”[32] Für eine solche marxistische Partei gibt es noch keine realen Bedingungen — auch nicht in der gegenwärtigen sozialen Bewegungsphase — ganz abgesehen von der besorgniserregenden Lage in der kommunistischen Bewegung in Deutschland. Die Schaffung einer revolutionären marxistischen Partei, die den Monopolen Paroli bieten könnte, ist sicherlich kein Akt der Spontaneität und kurzer Zeiträume. Aber richtig ist auch, mit der historisch notwendigen langfristigen Gestaltungsordnung einer solchen Partei bereits jetzt ideologisch, politisch-aktiv und theoretisch-programmatisch zu beginnen. Denn spontan wird sich eine solche Partei niemals entwickeln. Obwohl man sie natürlich nicht auf Reißbrett konstruieren kann: Für einen geschichtlich überschaubaren Zeitraum scheint mir auch in einer nicht revolutionären Zeit eine solche, wenn auch kleine marxistische Partei möglich zu sein, die sich zunächst um Masseneinfluß bemüht. Hierfür sind zunächst die diesbezüglichen Kräfte zu sammeln, zu schulen und zu formieren. Nach der Niederlage des Sozialismus kommt hierbei besondere Aufmerksamkeit für eine wahrscheinlich längere Zeit zu, daß “der entschlossene und hartnäckige Kampf für die Grundlagen des Sozialismus ... wieder auf die Tagesordnung tritt.”[33]

Ich habe mich gefreut, daß dies auch bei Aggelidis und Lieberam anklingt, wenn sie ausgehend von dem in der PDS noch vorhandenen Widerstandspotential gegen die Neoliberalismus und die Kriegspolitik der Regierenden “auch die Debatte mit den Initiatoren einer neuen Linkspartei bzw. mit denjenigen (suchen), die sich für den Aufbau einer pluralen Partei marxistischer Kräfte mit Masseneinfluß als strategische Aufgabe einsetzen.”[34] Allerdings: Auch eingedenk der Misere mit dem “Pluralismus” in der PDS kann ich mir eine solche Partei als plurale “marxistischer Kräfte” nicht vorstellen. Meines Erachtens zeigt sich in linken Formationen, die ich Eingangs per Festsetzungsdefinition als “marxistische Linke” in einem bestimmten Sinne bezeichnete, nicht nur Revisionismus, sondern auch ein besorgniserregender Dogmatismus — eine Art linker Revisionismus. Radikale “linke Genies” zeichnen voluntaristische Bilder — die mit einer marxistischen Analyse der Wirklichkeit nichts zu tun haben, die vielmehr zerstörerisch wirken Die Erörterung hierzu steht auf einem anderen Blatt. All das zeugt von tiefen Meinungsverschiedenheiten in dieser Linken. Etwas salopp gesagt: “Die Architekten und die Bauleute künftiger Geschichte finden nicht zusammen, weil die einen sich im Rückblick auf ihre Selbstrechtfertigung konzentrieren und die anderen planlos Steine klopfen.” (Hanfried Müller)

Abschließend: Nur in einem längeren historischen Prozeß wird es möglich sein, daß Sozialisten und Kommunisten verschiedener Couleur in unterschiedlichen Organisationsformen und als Individuen ihre aus der Historie stammenden Differenzen in der praktisch-politischen Bewegung sozialistisch und kommunistisch überwinden. Daß hier auch die EAL ihren Platz hat, steht für mich außer Zweifel. Die Gestaltungsformung einer solchen Aktionseinheit schließt selbstverständlich den Kampf um die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus gemäß den Erfordernissen unserer Zeit mit einem diesbezüglichen Diskussionsrahmen sowie die Auseinandersetzung mit dem theoretischen und praktischen Opportunismus (Revisionismus/Opportunismus) — aber auch mit dem Dogmatismus in seinen heutigen Erscheingsformen ein — verbunden mit der Fähigkeit, mit anderen Parteien und Formationen der Arbeiterbewegung in einen Dialog einzutreten und damit ein Minimum an Toleranz zu praktizieren. Orientierungen, diesen Weg sofort mit der “Vereinigung” zu verbinden, sind irreal; sie verhindern diese Aktionseinheit.[35] Die im Februar 2004 an der Karl-Liebknecht Schule der DKP in Leverkusen von einem breiten Unterstützerkreis durchgeführte Konferenz zu “Übergänge zum Sozialismus” eröffnete einen solchen theoretischen Streit unter Linken. Er sollte fortgeführt werden und könnte so vielleicht früher oder später zu solchen“Übergangsforderungen” mit praktisch-politischer Relevanz und theoretisch-historischer Reflexion führen, die auch die marxistische Formierung der Linken voranbringt. Die Debatte sollte deshalb in dieser Intention fortgesetzt werden.

Leipzig im Juni 2004


[1]Die Linke nach dem Sieg des Westens (Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1992).
[2]I. Wagner: Eine Partei gibt sich auf, edition ost, Berlin 2004.
[3]Dies verdeutlicht die jüngst in junge Welt geführte Debatte (Streit unter Linken) zu Fragen, die Übergänge zum Sozialismus zum Gegenstand haben.
[4]Norberto Bobbio: Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994, S. 88.
[5]Ebenda, S. 90.
[6]ND vom 14. Mai 2004.
[7]Nach Damiano Volgerlio, in: junge Welt vom 10. Mai 2004.
[8]F. Bertinotti, junge Welt vom 19. Mai 2004, S. 3.
[9]Berliner Aufruf zur Gründung der Partei der Europäischen Linken, in: PDS International, Sonderheft April 2004, S. 2.
[10]Disput 4.2004, S. 11.
[11]W. Gehrcke, außenpolitischer Sprecher des Bundesparteivorstandes der PDS, in: junge Welt vom 5. Mai 2004.
[12]F. S. Parteder, Voritzender der Landesorganisation Steiermark der KPÖ, in: junge Welt vom 28.4.2004. Siehe auch K. Steiniger: Am Brüsseler Tropf, in: RotFuchs, Juni 2004, S. 1.
[13]Ich folge hierzu Peter Römer: “Globale Gesellschaft, Privateigentum und Staat” in: Topos, Heft 21, Napoli 2003, S. 115 ff.
[14]Vgl. ebenda, S. 135.
[15]Ebenda.
[16]junge Welt vom 25. Mai 2004.
[17]Ebenda.
[18]junge Welt vom 24. Mai 2004.
[19]ND vom 21. Mai 2004.
[20]Siehe junge Welt vom 12./13. Juni 2004.
[21]junge Welt vom 15./16. Mai 2004.
[22]In MEW, Bd. 4, S. 378.
[23]Ebenda.
[24]Arbeiterstimme, Winter 2003, S. 15.
[25]junge Welt vom 26. Mai 2004.
[26]ND vom 15./16. Mai 2004.
[27]junge Welt vom 25. Mai 2004.
[28]Siehe H.-H. Holz, “Was für eine Partei braucht die Marxistische Linke?” in: uz vom 11.10.2002.
[29]Werke, Bd. 6, S. 155.
[30]A. Schaff: Was gibt uns heute der Marxismus?, in Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 25, März 1996, S. 109.
[31]Siehe I. Wagner: Für eine Rekonstruktion der deutschen marxistischen Linken ist Lenin Parteitheorie weitergedacht unabdingbar (Thesen, Probleme, Vorschläge). Teil 1 in: Offensiv 11/03, S. 32 ff.; Teil 2 in: Offensiv 13/03, S. 30 ff.
[32]Klaus Steiniger, RotFuchs, März 2002, S. 5.
[33]Lenin, Werke, Bd. 17, S. 27.
[34]a. o. O.
[35]Ich folge prinzipiell R. Steigerwald: Gegen perspektivlosen Dauerstreit, in: junge Welt vom 18. Juni 2004.