Neue Wahlalternative und neue Arbeiterpartei

Die gegenwärtige Debatte um die Schaffung einer Wahlalternative oder einer neuen Arbeiterpartei kann von niemandem auf der Linken ignoriert werden. Gleichgültig, welche Stellung zu ihnen bezogen wird, polarisieren die entstandenen Initiativen bereits vor der Entstehung einer neuen Partei die Perspektivendebatten. Ein erfolgreiches Parteigründungsprojekt würde unweigerlich in die Gewerkschaftsbewegung, in Protestbündnisse und Initiativen hineinwirken und Positionsbestimmungen erzwingen.

Anmerkungen zum gesellschaftlichen Kontext:

1. Immer größere Teile der Arbeiterklasse sehen ihre Erwartung enttäuscht, daß der Kapitalismus einen beständig steigenden Lebensstandard garantiert. Eine wachsende Minderheit sieht das bisher erreichte Lebensniveau in Frage gestellt. Teile der Lohnabhängigen erfahren mit dem Sturz in die Arbeitslosigkeit einen immer systematischeren sozialen Abstieg. Angst, Unsicherheit, Wut, aber auch zunehmende Kampfbereitschaft prägen das Bild. Die trotz aller Desorientierung und Führungslosigkeit breiter werdenden Widerstandsaktionen gegen den Sozialabbau sprechen eine deutliche Sprache.

2. Auf der politischen Ebene deuten sich die Veränderungen im Massenbewußtsein des Proletariats seit Jahren in wachsender Wahlabstinenz, abnehmenden Parteibindungen etc. an. Die reformistischen oder besser: reformerischen Parteien SPD und PDS geraten dabei in tiefgreifendere Glaubwürdigkeitskrisen. SPD und PDS beweisen dabei, daß nichts so sehr zur Entzauberung des Reformismus beiträgt wie die kapital-loyale Besetzung von Regierungsposten durch Galionsfiguren des Reformismus. Beide reformistischen Parteien haben dadurch inzwischen erhebliche Teile ihrer linken Basis verloren. Die Führungen beider Parteien sind dennoch wild entschlossen, die Anpassung an die Forderungen der Bourgeoisie bis zur Selbstvernichtung der von ihnen geführten Parteien treiben zu lassen. Die Grünen haben dabei bedeutend weniger Probleme, da ihre älter gewordenen Wählerschichten sich mit den führenden Grünen nach rechts bewegt haben.

Die Krise der Linken

3. Das wirklich herausragende Moment dieser Selbstentzauberung des Reformismus ist, daß aus keiner der Parteien eine starke organisierte linke Strömung hervorgegangen ist, die für ihre politischen Perspektiven einen über die jeweilige Partei hinausweisenden Kampf geführt hätte, geschweige denn klare sozialistische Perspektiven verteidigt hat.

4. Die extreme Linke war nicht in der Lage oder willens, in die Krisen der reformistischen Parteien einzugreifen. Sie war aber auch nur sehr sehr bedingt in der Lage, von der tiefgreifenden Unzufriedenheit großer Teile des Proletariats organisatorisch zu profitieren. Die DKP pflegte ihr anhaltendes politisches Siechtum. Die MLPD hat sich nur als Sekte konsolidiert. Lediglich einige der trotzkistischen Organisationen entwickelten sich, ohne sich jedoch überzeugend als neue revolutionäre Parteien aufzudrängen.

Welcher Neuanfang?

5. Die Frage nach einem Neuanfang linker Politik wird in dieser Lage von unzufriedenen Kräften aus dem sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Bereich ebenso gestellt wie von erheblichen Teilen der Protestbewegung gegen den Sozialabbau. Bei den Antworten, die von den verschiedenen Organisationen und Initiativen gegeben werden, machen sich allerdings deren bisherigen bekannten politischen Defizite geltend:

5.1. Der Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit, maßgeblich ins Leben gerufen von bayrischen IG-Metall-Funktionären wie Klaus Ernst aus Schweinfurt, Thomas Händel aus Fürth, Gert Lobodda aus Nürnberg, Professor Schui und Kräften aus dem attac-Beirat, dürfte es in Teilen zunächst weniger darum gegangen sein auszuloten, ob Chancen für eine neue Reformpartei bestehen, sondern darum, Druck auf die SPD auszuüben, ihren neoliberalen Kurs nicht zu weit zu treiben. Daneben bildete sich mit der "Wahlalternative 2006" ein Projekt von Exponenten aus dem hauptamtlichen Apparat beim verdi-Vorstand und PDS-nahen Kräften aus der im Gewerkschaftsapparat einflußreichen Zeitschrift "Sozialismus" wie Joachim Bischoff und Rudolf Krämer. Ihnen hat sich auch der Ex-Bundesgeschäftsführer der PDS, Uwe Hiksch, angeschlossen. Beide dieser inzwischen eng miteinander kooperierenden Initiatorenkreise, die inzwischen mehrere Tausend Interessierte gesammelt haben, propagieren die Schaffung einer breitestmöglichen Sammelbewegung, die von unzufriedenen Mitgliedern der CDU-Sozialausschüsse über Ex-Grüne, Sozialdemokraten bis hin zu frustrierten PDS-Reformisten reichen soll. Nur so, hoffen diese Strömungen, läßt sich eine neue parlamentarische Repräsentanz der Protestbewegung schaffen.

5.2. Enthusiastisch aufgriffen wird der Gedanke einer "neuen Linkspartei" als Sammelbewegung von Linksruck. Ihr Ziel ist eine offene, allumfassende "Partei der Bewegung", die "Arbeitslosen, Rentnern, Kranken, Arbeitern und Schülern und Studierenden eine Stimme gibt, die die Antikriegsbewegung wie die verschiedenen politischen Strömungen repräsentiert, die sich dem Neoliberalismus widersetzen." Dieselbe Linie wird auch von der isl (Internationale Sozialistische Linke) vertreten, die sich dabei allerdings auf die Europäische Antikapitalistische Linke konzentriert.

5.3. Ausdrücklich eine neue Arbeiterpartei propagiert demgegenüber die SAV. Sie ruft dazu auf, nicht auf grünes Licht von Spitzenfunktionären zu warten, sondern von unten mit dem Aufbau einer neuen Partei zu beginnen. Sie fordert, daß eine neue Partei, für "ArbeitnehmerInnen und Erwerbslose" kämpferisch, offen und demokratisch sein muß, sich als Bestandteil der außerparlamentarischen Kämpfe sehen muß, als Partei, die verbinden soll und den Kämpfen eine politische Perspektive geben muß. Die SAV fordert dazu auf, mit für die sozialistische Ausrichtung einer neuen Arbeiterpartei zu kämpfen.

5.4. Die Gruppe Arbeitermacht will ebenfalls an der Bewegung für eine neue Arbeiterpartei teilnehmen, aber dabei den "utopisch-reaktionären Gehalt einer (links-) reformistischen Perspektive in der gegenwärtigen Epoche" entlarven und dem eine klare revolutionäre Perspektive entgegensetzen und einen unverhüllten Kampf für ein revolutionäres Programm führen. Auch die GAM fordert dabei eine offene Debatte um die Politik einer neuen Arbeiterpartei, insbesondere in den Gewerkschaften.

5.5. Der RSB (Revolutionär-Sozialistische Bund) distanziert sich einerseits von den o.g. Wahlalternativen und fordert eine "neue ArbeiterInnenpartei, die mit der Logik des 'kleineren Übels' bricht", will sich aber auf eine "aktive und kämpferische Gewerkschaftsbewegung" konzentrieren. Hierzu werden jedoch nur ökonomische Forderungen aufgestellt und im übrigen politische Abstinenz praktiziert - eine spezielle Form der politischen Selbstisolation.

6. attac lehnt von Seiten seiner Führung die Teilnahme an der Schaffung einer neuen Partei strikt ab. Attac sieht sich als außerparlamentarisches Reformbündnis, nicht als Partei oder möglichen Bestandteil einer Partei. Für attac kommt deshalb die Transformation in eine Partei oder die Teilnahme an einer "Wahlalternative" nicht in Frage, weil dadurch die Breite des attac-Bündnisses speziell auf seinem rechten Flügel gefährdet würde, obwohl seine strategische These, daß der Sozialstaat auch heute noch finanzierbar und demzufolge restaurierbar ist, von den Initiatoren wenigstens der "Wahlalternative 2006" nicht in Frage gestellt wird.

Elemente einer marxistischen Positionsbestimmung

7. Die marxistische Antwort auf die Frage nach einer neuen Partei muß zunächst eine Antwort sein auf die Fragen, die durch die sich seit den siebziger Jahren akzentuierende Stagnationskrise des Weltkapitalismus aufgeworfen worden sind:

Warum sind alle Reformparteien der letzten Jahrzehnte gescheitert? Weshalb enden alle Reformisten als Handlanger neoliberaler Politik, sobald sie Regierungsposten besetzen? Weshalb werden bislang aus radikalen Reformstrategen Schönredner des Kapitalismus? Weshalb ist es seit Beginn der weltweiten Stagnationskrise nirgendwo gelungen, eine Reformstrategie auch nur in wesentlichen Ansätzen zu verwirklichen? Ist unter diesen Voraussetzungen eine Reformstrategie realistisch? Stellt sich nicht doch die Frage nach Reform oder Revolution? Wer ist bzw. kann nur das Subjekt sozialistischer Politik sein? Die Fragen stellen, heißt sie zu beantworten. Es kommt nicht von ungefähr, daß die Reformstrategen immer wieder beschwören, daß "sich" solche Fragen nicht stellen. Marxisten stellen solche Fragen, weil sie der Arbeiterklasse durch die Krisenentwicklung der Gesellschaft aufgedrängt werden.

8. Die Arbeiterklasse braucht eine Partei, die konsequent ihre Interessen vertritt. das beginnt beim Kampf zur Verteidigung der bisher erreichten Errungenschaften, beim Kampf gegen Militarismus und Krieg und endet beim Kampf für die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft. Eine marxistische, revolutionäre oder kommunistische Partei wäre eine neue Partei, weil eine solche, ihren Namen verdienende Partei leider noch nicht einmal als minoritäre Partei der Arbeiterklasse bzw. der Arbeiterbewegung existiert.

9. Jeder Ansatz zu einer Partei, die am Klassenkampf teilnimmt, an außerparlamentarischen Kämpfen, benötigt eine Analyse der aktuellen Klassenverhältnisse auf nationaler wie internationaler Ebene. Ohne ein gemeinsames Verständnis der klassenpolitischen Lage ist gemeinsames strategisches Handeln nicht möglich. Ohne gemeinsame Handlungsperspektive wird es keine Partei geben, die tatsächlich fähig ist, den Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit in der außerparlamentarischen Bewegung zu finden.

Eine Sammelbewegung unterschiedlicher politischer Strömungen mit unterschiedlichen Auffassungen und Einschätzungen der politischen Lage, der diese Situation bestimmenden Kräfte und der Bewegungstendenzen dieser Gesellschaft wird weder außerparlamentarisch noch in Parlamenten handlungsfähig sein. Hieraus wird sich letztlich eine Beliebigkeit politischer Inhalte und eine Totalkonzentration auf parlamentarische Politik mit der physischen Anwesenheit im Parlament als Selbstzweck als einziger gemeinsamer Perspektive ergeben. Wie sich solche Sammelbewegungen entwickeln, kann am Beispiel der Grünen in der BRD, aber auch am Beispiel der brasilianischen PT studiert werden. Aus der letzteren werden gerade die Linken herausgesäubert.

10. Eine sozialistische, eine revolutionäre Partei kann sich nur als Partei der Arbeiterklasse verstehen. Das bedeutet aber nicht, daß sie von der Arbeiterklasse bereits als ihre Partei angesehen wird. Ziel muß sein, zunächst einmal zur Partei einer aktiven Minderheitsströmung der Arbeiterklasse zu werden, zu einer Partei, die in der organisierten Arbeiterbewegung als Partei handlungsfähig ist, die politische Initiativen ergreifen kann und für andere Strömungen der Arbeiterbewegung damit auch ein ernsthafter und nicht zu vernachlässigender Bündnispartner wird, nicht zuletzt für die sozialdemokratische.

So wünschenswert es ist, daß die zu schaffende Partei die Mehrheit der bisherigen Teilnehmer der Protestbewegungen gewinnt, so absurd ist die Vorstellung, eine Partei könne allein zur Repräsentanz einer sozialen Protestbewegung werden. Bewegungen sind notwendig pluralistisch. jeder Versuch einer politischen Strömung, Bewegungen politisch vereinnahmen zu wollen, wird sich notwenig schädlich auf weitere Mobilisierungen auswirken. Faktisch handelt es sich selbst bei einer zunächst erfolgreichen Vereinnahmung einer Bewegung um einen Spaltungsakt.

11. Die Vereinnahmung einer Bewegung insgesamt ermöglicht es aber auch, auf der ideologischen Ebene, die Frage nach dem Verhältnis der neu zu schaffenden Partei zu den anderen, den "alten" Parteien der Arbeiterbewegung zu verdrängen. Deren Anhängerschaft bleibt ja zu einem nicht unerheblichen Teil in den Protestbewegungen. Gerade solche Kräfte drängen häufig auf Bündnisse und die Verständigung mit ihren Parteien. Sie sehen in kleinen revolutionären Parteien häufig genug nur willkommene pressure groups, die ihren alten reformistischen Führungen nur neue reformistische Beine machen sollen. Auf diese Weise kann es passieren, daß "die reale Bewegung" gerade in etwas ruhigeren politischen Konjunkturen eine neue und dynamische Partei nach rechts zu drängen sucht. Das ist beispielsweise bei den Grünen in den achtziger Jahren so gelaufen. Eine neue sozialistische Partei muß deshalb mehr sein als bloße Partei der Bewegung. Sie benötigt klare Grundsätze und die Fähigkeit zu taktischer Disziplin, will sie nicht wie so viele ihrer Vorgänger kläglich im Schoß des Kapitalismus landen.

12. Die Initiatoren der Wahlalternative 2006 und Kräfte wie Linksruck sind daher Teil des Problems und nicht Teile der Lösung. Die SAV nötigt insofern Respekt ab, weil sie mit ihrer Losung des eintägigen Generalstreiks eine greifbare Perspektive für den proletarischen Widerstand gegen die neoliberale Politik propagiert. Der SAV fehlt es jedoch an einer offensiven taktischen Orientierung für den Kampf um die Perspektiven einer neuen Partei. Faktisch wird der reale Ansatz dazu den Reformisten und Linksruck überlassen. Das Bekenntnis der SAV zum Sozialismus bleibt daher farblos und abstrakt, nicht zuletzt, weil keine offensiven Antworten nach dem Charakter der jetzigen Entwicklungsetappe des Imperialismus gegeben werden. Ohne solche Antworten, verbunden mit der Frage nach Reform oder Revolution, ist dieser Kampf schon verloren.

13. Dem vorerst letzten Aufgebot des Reformismus müssen wir entgegenhalten, daß es eine generalisierte Reformperspektive im Kapitalismus, die "andere Welt", die attac propagiert, nicht gibt. Die von den Reformisten angestrebte Restauration des Sozialstaats ist angesichts der Stagnationskrise des Weltkapitalismus nicht möglich. Gemeinsame Aktivitäten zur Verteidigung der noch bestehenden Reste des Sozialstaats sind natürlich möglich und notwendig. Dem reformistischen Utopismus setzen wir aber die Notwendigkeit und Möglichkeit entgegen, ausgehend von hartnäckigen und entschlossenen Abwehrkämpfen auf breitestmöglicher Basis die notwendige Revolution, den Systemwechsel in den Kämpfen von heute vorzubereiten. Marxisten verfolgen eine Übergangsperspektive. Sie nehmen die heutigen Rahmenbedingungen nicht als unabänderliches Schicksal hin, sondern arbeiten daran, die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.

14. Der taktische Ausgangspunkt der marxistischen Auseinandersetzung mit dem Reformismus ist, daß es ein Leben nach Wahlen gibt. Wir werden die Frage aufwerfen müssen, wie sich eine neue Partei zu den Bewegungen und in den Bewegungen verhalten soll, welche Beiträge sie zur Entwicklung von Bewegungen leisten will, wie sie es sich vorstellt, Sprachrohr von in sich widersprüchlichen, pluralistischen Bewegungen zu sein und wie sie ihr taktisches Verhältnis zu den in der Praxis zu Neoliberalen gewendeten Reformisten bestimmen will, solange sie zwar schon zum Faktor geworden, aber noch nicht mehrheitsfähig ist. Wir werden dabei auch vor unangenehmen Fragen danach nicht zurückschrecken, was die Reformisten gegen die neoliberale Politik ihrer Herkunftsparteien getan haben und was sie zu tun gedenken, damit sich die Geschichte nicht als weitere Farce wiederholt

Wir als kleiner marxistischer Zirkel werden realistischerweise nur begrenzten Einfluß ausüben können, sollten aber das uns Mögliche tun und an den kommenden Debatten teilnehmen. Wir sollten das als Chance sehen, den politischen Klärungs- und Organisierungsprozeß der marxistischen Kräfte auf prinzipieller politischer Grundlage voranzubringen.