Mounadil Omami ist Mitglied in der Nationalen Studentengewerkschaft Marokkos UNEM

Die Organisation arbeitet illegal und versteht sich als progressiv, demokratisch, populär und unabhängig.Die UNEM wird vor allem von Aktivisten von Maoisten und Trotzkisten getragen und hat Tausende Unterstützer an Marokkanischen Universitäten.


In Marokko befinden sich Studenten im Hungerstreik. Warum?

Mitte Mai sind Studenten der Universität in Fes in den Hungerstreik getreten. Inzwischen haben sich ihnen schon 193 Studenten angeschlossen. Sie kämpfen damit gegen eine Universitätsreform in Marokko. Viele Aktivisten sind Anhänger linker Bewegungen. Ihr Motto ist: “Wir sind Kommunisten. Wir lieben das Leben. Dafür sind wir bereit zu sterben.”

Die Universitäten sollen auf Druck der Weltbank bis zum Jahr 2010 völlig privatisiert werden. Auch Studiengebühren sind seit zwei Jahren geplant, aber das konnten wir durch unseren Widerstand bislang blockieren. Die staatlichen Stipendien sollen abgeschafft werden. Gleichzeitig wird das Prüfungssystem so verschärft, daß nur diejenigen Studenten zugelassen werden, die regelmäßig in den Vorlesungen anwesend waren. Doch dies ist für Studierende, die ihr Studium selber finanzieren müssen, kaum möglich.

Es ist auch eine eigene Polizei für die Universitäten eingeführt worden, um die Studenten zu überwachen. Sie arbeitet eng mit dem Geheimdienst zusammen. Aber an den Universitäten, wo die linke Studentenbewegung stark ist wie in in Marakesch, Fes, Oujda, Meknes, Tetouan, Tanger, Agadir und Araschidia trauen sich diese Polizisten nicht in die Öffentlichkeit.

Es gab bereits große Studentenstreiks zwischen Dezember 2004 und März 2005. In Marakesch und Oujda haben die Studenten zwei Mal die Prüfungen boykottiert. Wegen dieser Proteste wurden in Marakesch acht Studenten zu Haftstrafen verurteilt. In Fes geht der Prüfungsboykott weiter. Die Hungerstreikenden fordern auch die Freilassung dieser Gefangenen.

Wie ist die Situation der gefangenen Studenten?

Die Studenten haben Haftstrafen zwischen vier Monaten und drei Jahren bekommen. Eine Menschenrechtsorganisation hat berichtet, daß die Gefangenen mißhandelt werden. Schon vor Gericht konnte jeder sehen, daß sie geschlagen wurden. Die Angeklagten waren voller blauer Flecken. Seit letztem Donnerstag sind auch die gefangenen Studenten in den Hungerstreik getreten, um für ihre Anerkennung als politische Gefangene zu kämpfen. Dann dürfen sie Zeitungen bekommen und Besuch ohne Trennwand und Überwachung empfangen. Daß politische Gefangene solche Privilegien genießen, ist das Ergebnis langer Kämpfe. In den 80er Jahren sind gefangene Studenten in Hungerstreiks gestorben, um diese Rechte durchzusetzen.

Während einer Straßenschlacht mit der Polizei am 1. Mai 2005 wurde unser 22-jähriger Genosse Amin Al Kentaui, ein Jurastudent, festgenommen und zu einem Jahr Haft verurteilt. Vor Gericht ist er sehr mutig aufgetreten. Er hat mit erhobener Faust erklärt: “Ich bin Marxist-Leninist. Ich kämpfe für die Revolution in Marokko.” Die Gerichtsverhandlung war fast schon eine Demo.

Der arabische Fernsehsender Al Jazeera zeigte Ende letzter Woche Bilder von Protesten im Rif-Gebiet. Um was ging es?

Viele Menschen haben dort im Februar 2004 durch ein Erdbeben ihre Häuser verloren. Es gab zwar Hilfsgelder aus aller Welt, aber das meiste Geld verschwand durch Korruption der Behörden und jede Familie bekam nur 300 Euro. Am 19. Mai forderten daher 7000 Menschen in Tamassint vor den Gouverneurssitz den Wiederaufbau der Region. Die Erdbebenopfer sind im “Verein für die Wohnungslosen in Tamassint” organisiert, der von Linken geführt wird. Noch vor der Demo hat der Geheimdienst den Vorsitzenden des Vereins Moatassim le Ghalbzouri und zwei weitere Vereinsmitglieder, darunter einen 70jährigen Aktivisten, verschleppt. Am 26. Mai soll der Gerichtsprozeß wegen Störung der öffentliche Ordnung stattfinden. Die Demonstration wurde brutal angegriffen. Polizei und Armee haben aus Hubschraubern mit Gummigeschossen und Tränengasgrananten auf die Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, geschossen. Selbst in den Bergdörfern hat die Polizei Häuser gestürmt. 20 Demonstranten wurden festgenommen und sehr viele verletzt.

In der europäischen Presse wurde König Mohamed VI., der Ende der 90er Jahre seinem Vater Hassan II. nachfolgte, als demokratischer Hoffnungsträger gefeiert. Was hat sich seit seinem Regierungsantritt geändert?

Als Mohamed VI. König wurde, hat er Tausende linke Gefangene, darunter viele Maoisten, die seit den 70er und 80er Jahren inhaftiert waren, freigelassen. Es wurde auch eine Wahrheitskommission gegründet, um die Verbrechen unter König Hassan II. aufzuklären. In Wirklichkeit ist diese Kommission nur auf Druck der EU und USA zustande gekommen und dient dem Regime als demokratische Maske. In Marokko herrscht immer noch eine monarchistische Diktatur. Der König wird in der Verfassung für heilig erklärt. Er kann die Regierung und das Parlament auflösen, wann er will. Die Ministerien Verteidigung, Justiz, Religion, Inneres und Äußeres sind ihm direkt unterstellt und auch der Premierminister wird vom König eingesetzt. Die Liberalen bezeichnen Mohamed IV. als “König der Armen”, weil er zum Ramadan in dem Armenvierteln Schälchen mit Essen verteilte und sie ansonsten auf Allah vertröstete. Wir nennen ihn deswegen “Schälchen-König”.

Wie ist die soziale Lage in Marokko?

80% Prozent der Marokkaner leben unter der Armutsgrenze und haben weniger als einen Dollar am Tag zum Leben. Ein Drittel der Bevölkerung ist arbeitslos, darunter eine Viertel Million Universitätsabsolventen. Mehr als 100 Aktivisten der “Vereinigung arbeitsloser Akademiker” stehen jetzt wegen ihrer Proteste für Arbeitsplätze vor Gericht.

Neben den Universitäten wird auch das Gesundheitswesen auf Druck der Weltbank privatisiert. Da sich nur die Reichen eine Krankenversicherung leisten können, war die Behandlung bisher kostenlos. Jetzt wurden Behandlungsgebühren eingeführt. Dagegen gab es im südmarokkanischen Tata im März und Mai Großdemonstrationen, die von Schülern, Studenten und Arbeitslosenorganisationen sowie der Lehrergewerkschaft und der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes unterstützt wurden. Der Gesundheitsminister, der die Reform geplant hat, ist Mitglied der ex-kommunistischen “Partei für Entwicklung und Sozialismus”. Daher haben die Ex-Kommunisten zusammen mit den Islamisten am selben Tag einen Aufmarsch organisiert, um den Protest zu spalten.

Jetzt gibt es gibt es Gesundheitszeltlager vor dem Gouverneurssitz von Tata. Die Demonstranten verlangen Verhandlungen mit dem Gesundheitsministerium.

Viele junge Marokkaner denken an Auswanderung?

Viele junge Marokkaner versuchen, mit völlig überfüllten kleinen Booten illegal nach Europa zu kommen. Tausende sind so schon in der Straße von Gibraltar ertrunken. Jeden Tag sterben mehrere Jugendliche. Gleichzeitig gibt es in Nordmarokko von der EU finanzierte Auffanglager für afrikanische und algerische Flüchtlinge, die nach Europa wollten. Inzwischen unterstützten linke marokkanische Organisationen diese Flüchtlinge und die Familien, der bei der Emigration umgekommenen Menschen.

Wie stark sind Islamisten in Marokko?

Als 1973 die Marokkanische Linke sehr stark war, hat König Hassan II. eine islamistische Organisation gegründet und finanziert. Ihre erste Aktivität war die Ermordung des bekannten sozialistischen Gewerkschafters Omar Ben Jeloun in Casablanca. Mit staatlicher Hilfe und Gewalt sind die Islamisten in die Universitäten gekommen. Als Islamisten 1989 die Linken in Fes an der Uni angriffen, hat die Polizei zugeschaut und anschließend Linke verhaftet. Damals wurden auch zwei linke Studenten von Islamisten ermordet. Die Islamisten haben das Volk mit Lügen aufgehetzt und z.B. behauptet, die Linken hätten auf den Koran gepinkelt. Diese Lüge wurde auch in den Medien des Regimes verbreitet.

Heute gibt es drei Gruppen von Islamisten. Die “Partei für Entwicklung und Fortschritt” hat zwölf Parlamentsabgeordnete und regiert viele Kommunen. Diese Partei hängt mit der türkischen Regierungspartei AKP zusammen und vertritt einen konservativen Kurs.

Die stärkste Gruppe ist illegal. Es sind Sufis. Aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen Lage, Armut und Analphabetentum können sie in den Slums leicht Anhänger gewinne. Die dritte Gruppe ist wahabitisch und wird mit Petrodollars aus Saudi-Arabien finanziert. Eine Abspaltung dieser Organisation war für die Bombenanschläge letztes Jahr in Casablanca verantwortlich.

Heute gibt es zwischen der radikalen Linken und den Islamisten ein Gleichgewicht. Zwar gibt es keine radikale linke Partei, die legal wäre. Aber vor allem unter Studenten, Arbeitslosen, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen findet sich eine breite linke, gegen den Neoliberalismus gerichtete Bewegung.


Interview: Nick Brauns

Solidaritätserklärungen mit den hungerstreikenden Studenten an: zarwalabdlatif@yahoo.fr