Eckpunkte für eine andere Welt?

Anmerkungen zum Programm der künftigen Linkspartei.

Die Vorstände von Linkspartei.PDS und WASG verlautbarten, daß sie am 22. Oktober 2006 in Erfurt gemeinsame programmatische Eckpunkte beschlossen haben. Diese seien, so verkünden sie, ein ausreichend stabiles Fundament, um darauf eine neue Partei der Linken zu gründen. Haben wir deshalb Anlaß, uns den 22. Oktober 2006 als geschichtsträchtiges Datum zu merken? Wohl nicht. Das, was als Grundlage für eine völlig neuartige Partei der Linken angepriesen wird, präsentiert sich bereits auf den ersten Blick als Formelkompromiß ohne politische Substanz.

Hier ist nicht der Platz, über die Rechtsverschiebung zu lamentieren, die unter Berufung auf Einzelformulierungen in ersten Stellungnahmen beklagt wurde. Die Veränderungen beruhen nicht auf einem politischen Diskussions- und Klärungsprozeß. Sie erlauben nur Rückschlüsse auf die Kräfteverhältnisse zwischen den Strömungen des Parteiapparats der Linkspartei.PDS. Diese äußern sich jedoch nur in taktischen Differenzen. Über die strategische Ausrichtung der künftig vereinten Partei sind sich die Vorstände einig.

Der von den Vorständen proklamierte plurale Charakter, “Linke einigend, demokratisch und sozial, feministisch und antipatriarchal, offen und plural, streitbar und tolerant, antirassistisch und antifaschistisch, eine konsequente Friedenspolitik verfolgend”, wird durch die Praxis der beiden Parteivorstände ad absurdum geführt.

Nicht die Linke soll geeint werden, sondern diejenigen Kräfte, die sich mit neoliberalen Regierungsbeteiligungen abfinden. Die Vorstände von WASG und Linkspartei.PDS sowie ihre “Steuerungsgruppe” besingen mit ihrem “top down-Projekt” lauthals die Demokratie, aber gängeln und bevormunden ihre Parteien. Ungezählte Presseerklärungen der Mandatsträger mit Forderungen nach sozialer Politik kontrastieren mit der Beteiligung an kapitalistischer, neoliberaler Krisenverwaltung. Antirassismus und Antifaschismus bleiben plakativ und werden auf die Forderung nach besserer Finanzierung von Sozialarbeit reduziert, während Nazis ungehindert “national befreite Zonen” schaffen. Das Bekenntnis zu vorgeblich konsequenter Friedenspolitik verhindert nicht, daß in den Eckpunkten schon eine Diskussion darüber angekündigt wird, unter welchen Bedingungen Militäreinsätze unter der Fahne der UNO als Friedenspolitik verkauft werden können. Offenheit und linker Pluralismus enden im Eckpunktepapier nicht erst da, wo der Sozialismus als Ziel ins Auge gefaßt wird. Selbst Lafontaines soziale Rhetorik geht dem PDS-Apparat schon gegen den Strich und wurde ausgebremst.

Die vereinten Parteiführer in spe sind sich noch nicht einmal darüber einig, ob sie den Einsatz für die Interessen und Bedürfnisse der abhängig Arbeitenden und der sozial Benachteiligten zur Grundlage ihrer Politik machen oder ob sie mit abstrakten höheren “Werten” hausieren gehen wollen. Zuguterletzt erklären die vereinten Vorstände deshalb folgerichtig, daß sie gemeinsam darüber rätseln wollen, ob es Klassen gibt, ob sie den Klassenkampf anerkennen wollen oder gar, ob überhaupt ein Bezug auf Klasseninteressen sinnvoll sein könnte.

In Grundfragen konfus, aber mit vielen frommen Wünschen gewappnet, schreiben sie den “erneuerten solidarischen Sozialstaat” auf ihr Papier. Ihre “Alternative zum entfesselten Kapitalismus ist die solidarische Erneuerung und konsequent demokratische Gestaltung der Gesellschaft”, mithin ein gebändigter, sozial regulierter Kapitalismus. Die Eigentumsfrage, die Kernfrage der kapitalistischen Gesellschaft, übergehen sie mit Schweigen. Besser kann man in Eckpunkten zu den programmatischen Grundlagen einer neuen Partei kaum klar machen, daß die kapitalistischen Verhältnisse im Kern unangetastet bleiben sollen.

Während sie in Koalitionsregierungen mit der SPD sitzen und sich in kapitalistischer Krisenverwaltung üben, wollen sie dennoch das Kunststück vollbringen, die Fehlentwicklungen und Spaltungen der realen kapitalistischen Gesellschaft mit einer Demokratisierung aller Lebensbereiche zu beheben und dabei noch den Kapitalismus in einem “transformatorischen Prozeß” überwinden - wenn auch nur in homöopathisch kleinen Dosen. Die Anhänger müssen nur daran glauben. In ihren “Nachbemerkungen” stellen die Strategen der künftigen “Linken” zu allem Überfluß die realsatirischen Fragen, ob “dazu kapitalistische Eigentumsverhältnisse aufgehoben werden” müssen und wie eine “demokratische Steuerung der Grundlinien der wirtschaftlichen Entwicklung realisiert werden” kann. Auf dem Weg dahin wollen sie zur Diskussion stellen, ob die von ihnen noch nie energisch verfochtene Forderung nach Vollbeschäftigung noch sinnvoll ist. Offenbar fürchten die neoliberalen Mandatsträger der Linkspartei.PDS, daß sie daran gemessen werden könnten, was sie für die Realisierung dieser Forderung tun.

Leben in anderen Welten

Die Parteiführer der künftig vereinten, neuen “Linken”, die sich ja bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zum Realismus bekennen, diagnostizieren, daß die Welt bereits seit den sechziger Jahren in eine ökonomische Krise geraten ist. Für diese seien die sinkenden “Wachstumsraten der schwerfälligen Planwirtschaften des Staatssozialismus” kennzeichnend gewesen und die mit der Ölkrise beginnende “krisenhafte Entwicklung der Weltwirtschaft”. Die kapitalistischen Länder hätten mit neoliberaler Politik den Ausweg aus dieser krisenhaften Entwicklung gesucht.

Diese oberflächlichen Feststellungen sind bereits auf den ersten Blick frei von jeder Andeutung einer Ursachenanalyse (mehr müßte in Eckpunkten ja nicht unbedingt sein). Die Wachstumsprobleme der “staatssozialistischen Länder” fanden ihre Ursache darin, daß diese Länder zu wenig sozialistisch waren, daß die reale Arbeiterklasse dieser Länder von allen wesentlichen Entscheidungen ausgeschlossen war. Die Krise dieser Länder hatte völlig andere Ursachen als die Stagnationskrise der kapitalistischen Weltwirtschaft. Der Kapitalismus hat sich im übrigen noch nie anders entwickelt als zyklisch und krisenhaft. Die in den Eckpunkten klammheimlich aufgestellte These, daß die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus mit der Ölkrise vom Himmel gefallen sei, beweist, daß die vereinten Vorstandspolitiker von WASG und Linkspartei.PDS sich von jeder ernsthaften Analyse der Wirklichkeit längst verabschiedet haben.

Unsere neokeynesianistischen Vorständler ignorieren mit diesem sozialhistorischen Blackout die für sie peinliche Tatsache, daß die kapitalistische Welt seinerzeit in allen imperialistischen Industriestaaten unter dem hochgehaltenen Banner keynesianischer Politik in die Stagnationskrise geraten ist. Die herrschenden Klassen der imperialistischen Länder haben sich aus eben diesem Grund davon verabschiedet und sich neoliberalen Konzepten verschrieben.

Daß materielles Elend, unbehandelte Krankheiten, Hunger, Durst, Leben in Slums, Analphabetismus und andere Skandale der kapitalistischen Welt wie permanente Kriege, Ressourcenverschwendung und Raubbau an der Natur nach einer “anderen Welt” schreien, wird jeder unterschreiben, der mit diesen Elendserscheinungen konfrontiert ist und sich nicht zu sozialdarwinistischen oder faschistischen Ideologien bekennt. Der Ruf von Gutmenschen nach einer anderen Politik ist deshalb so wohlfeil, weil er zu nichts verpflichtet, weil er eine Lösungsperspektive für reale gesellschaftliche Probleme nicht einmal andeutet, sondern stattdessen nur ohnmächtigen Protest zum Ausdruck bringt. Er ist letztlich nichts anderes als ein Appell an die Mächtigen dieser Welt, sich der Elenden zu erbarmen. Er könnte genausogut an einen Weltgeist gerichtet werden.

Eine wirklich andere Welt kann nur eine sozialistische Welt sein.

Unsere vereinten Vorständler erkennen an, daß “die Herrschafts- und Eigentumsstrukturen des modernen Kapitalismus” einer Humanisierung der Gesellschaft entgegenstehen. Sie proklamieren die Notwendigkeit einer solchen Gesellschaft. Aber sie wollen dem Klassenkampf von oben weder den Klassenkampf von unten entgegensetzen, noch sind sie bereit, für den Sozialismus zu kämpfen. Diejenigen unter ihnen, die sich trotzdem zur Formel vom demokratischen Sozialismus bekennen, berauben den Begriff seines Inhalts. Sie verstehen darunter einen sozialstaatlich von oben regulierten Kapitalismus.

Das hindert sie nicht daran zu behaupten, eine umfassende Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, eine friedliche Welt, Arbeit und Wohlfahrt für alle innerhalb einer regulierten kapitalistischen Gesellschaft verwirklichen zu können: Sie träumen von einer breiten “neuen Sammlungsbewegung”, die “hochqualifizierte Beschäftigte und Kernbelegschaften wie auch in unsicheren und Teilzeitarbeitsverhältnissen Tätige sowie Erwerbslose, Selbständige und sozial orientierte Unternehmerinnen und Unternehmer, Beamtinnen und Beamte zusammenführt”. Gestützt sowohl auf sozialen Protest der von der Krise Betroffenen als auch auf ein solches Wunschbündnis zwischen Angehörigen antagonistisch gegenüberstehender Klassen soll unter dem Codewort “Gestaltungsanspruch” gleichzeitig regiert, sollen “unter den gegebenen kapitalistischen Verhältnissen” Reformalternativen entwickelt und Ansätze gefunden werden, die über diese Gesellschaft hinausweisen.

Unangenehm ist dabei nur, daß alle geschichtlichen Erfahrungen belegen, daß Bündnisse mit “sozial orientierten” Kapitalisten nur zum Preis des Verzichts auf sozialen Protest (sprich: Klassenkampf) möglich sind. Diejenigen, die solche klassenübergreifenden Bündnisse in Bewegungen propagieren, sind bisher noch immer als Bremse dieser Bewegungen in Erscheinung getreten, die Zurückhaltung predigen, um die von ihnen angestrebten utopischen Bündnisse nicht zu gefährden.

Noch unangenehmer, daß gerade dann, wenn aufgrund der kapitalistischen Krisenhaftigkeit der Widerstand der von der Krise Betroffenen anwächst, die Verteilungsspielräume für soziale Reformen immer kleiner werden und den Konzepten für eine schrittweise, allmähliche Transformation der Gesellschaft der Boden entzogen ist. Dies wiederum kann Regierungssozialisten, die die Lasten der kapitalistischen Krise auf die Arbeiterklasse abwälzen, nur diskreditieren und schwächen. Das, was nötig ist, einen Beitrag zur Veränderung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses nach links zu leisten, können sie daher gerade nicht liefern, eher schon arbeiten sie in die entgegengesetzte Richtung.

Am peinlichsten ist schließlich, daß noch so gut wie alle reformistischen Regierungssozialisten auf dieses Dilemma damit reagiert haben, daß sie sich vom vielbeklagten überzogenen Anspruchsdenken ihrer Basis distanziert haben und sich von ihr ablösen. Das Beispiel der Linkspartei.PDS in Berlin spricht Bände.

Die schöne “andere Welt” eines sozialen Gutmenschenkapitalismus, die die vereinten Vorstände von WASG und Linkspartei.PDS proklamieren, gibt es nicht. Das von ihnen proklamierte Ziel, eine bedarfsorientierte, in allen Bereichen demokratisierte, dem inneren und äußeren Frieden verpflichtete und dazu noch krisenfreie kapitalistische Wohlfahrtsgesellschaft, ist eine lebensfremde Phantasterei, die schlechteste aller Utopien. Wer eine Welt verändern will, muß sie erst einmal zur Kenntnis nehmen, wie sie ist, nicht wie er sie sich wünscht. Der von ihnen offerierte Weg, die Kombination von sozialem Protest, einem Bündnis unter Einschluß von Kapitalisten und die Mitgestaltung der kapitalistischen Krise, ist nichts Neues, sondern ein sehr ausgetretener Pfad. Noch dazu einer, der bisher stets zu Niederlagen, Demoralisierung, Frustration und Enttäuschung geführt hat. Die Berliner Erfahrung mit dem rot-roten Senat ist in dieser Hinsicht eine lehrbuchmäßige Demonstration.

Die andere Welt, die sie proklamieren, ist nicht von dieser Welt. Der von ihnen gewiesene Weg zu einer vorgeblich anderen Welt schafft nicht einmal eine bessere kapitalistische Welt. Insofern sie den sozialen Protest und Teile der Linken notwendig in eine politische und strategische Sackgasse führt, ist das Projekt dieser vereinten Vorstandslinken nur ein weiteres Unternehmen, das zur Stabilisierung des Kapitalismus beiträgt. Ob freiwillig oder unfreiwillig, braucht dabei gar nicht diskutiert zu werden. Die neue Linke wird mit dieser programmatischen Grundlage nur die abgestandene, alte Linke sein.

Dieter Elken (Marxistische Initiative),

Mitglied des Koordinierungskreises des Netzwerks Linke Opposition