Manfred Behrend:

Kapitulation in Berlin

 

 

 

Die Zeit jäher politischer Wendungen, von der Honecker oft sprach, ging mit dem “Realsozialismus” keineswegs zu Ende. Gleich anderen hatten auch wir (inArSti134, S. 5 ff.) mit einer Atempause für die PDS gerechnet, die zur Klärung wichtiger programmatisch-politischer Fragen, darunter der Haltung zu imperialistischen Kriegen und eventuellen Bündnispartnern in etablierten BRD-Parteien, nützlich gewesen wäre. Die Pause blieb aus. In der Nacht zum 4. 12. 2001 brach die FDP Verhandlungen mit SPD und Grünen über eine Ampelkoalition in Berlin ab, da sie Steuern auf Motorboote und alkoholische Getränke sowie eine Erhöhung der Grundsteuer nicht billigen könne. Ähnlich fadenscheinig hatte sie 1966 die Kündigung des Bündnisses mit Ludwig Erhard begründet. Die SPD indes ließ Tage später in Gesprächen mit der PDS die zwei erstgenannten Vorschläge locker fallen. Von FDP-Seite wurde das dahingehend interpretiert, die Vorschläge wären nur ein Vorwand zu dem Zweck gewesen, einen grundsätzlichen Partnerwechsel anzubahnen. Das könnte zutreffen, denn es geht in der Tat um mehr als um ein Bündnis etablierter Parteien. Darum nämlich, die Herrschaftsbasis der BRD um die PDS als neues Mitglied zu erweitern, was schwerwiegende Folgen haben dürfte.

Auf den Anlass zur veränderten Herrschaftsstrategie kam Sahra Wagenknecht in der “jungen Welt” vom 7. 1. 2002 zu sprechen. Sie verwies auf das Berliner Finanzdebakel und konstatierte: “Die Rechnung ist nicht neu und historisch leider schon einige Male aufgegangen. Wenn die schlimmsten Sauereien anstehen, nimmt man gern die Linke mit ins Boot und schlägt so zwei Fliegen mit einer Klappe: Gegenbewegungen werden geschwächt und bleiben alleingelassen, außerdem ruiniert die Linke ihre Glaubwürdigkeit und fällt so auch für die Zukunft als Störfaktor aus. Das Kalkül ist so simpel, dass es fast peinlich ist, darüber zu schreiben. Noch peinlicher ist es freilich, dass es immer wieder funktioniert.” Im PDS-Establishment verdross der Artikel manche und manchen, zumal er einen despektierlichen Titel — nämlich “Drecksarbeit” - trägt. Indes hatte der “starke Mann” und Bürgermeister-Kandidat Gregor Gysi selbst vor der Berlin-Wahl am 21. 10. 2001 verlautbart: “Die PDS wäre in einem rot-roten Senat dafür zuständig, dass die Menschen — selbst wenn sie unter Sparmaßnahmen leiden — das Gefühl haben: Zumindest geht’s gerecht dabei zu.” Es soll ihnen ein derartiges “Gefühl” vermittelt werden, mehr nicht.

PDS-Obere haben ihre vormals bekundeten Standpunkte nun eilends gewechselt. Noch beim Berliner Landesparteitag am 1. 12. 2001 rügte der Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus Harald Wolf SPD, FDP und Grüne wegen der von ihnen geplanten Arbeitsplatzvernichtung im öffentlichen Dienst. Gysi zeigte sich “entsetzt über die geringe intellektuelle Qualität” der damaligen Koalitionsverhandlungen. Statt die Hauptstadtfunktion zu klären und auf dieser Basis die Verwaltung zu reformieren, werde nur an der Haushaltskonsolidierung herumgedoktert, überdies auf Kosten der Bildung, die in Berlin schon die schlechteste in ganz Deutschland sei. Es scheint im Nachhinein, als habe er die später selbst betriebene Politik vorab kritisch eingeschätzt. Damals kündigte er “knallharte Opposition” gegen solche Politik an.

Tage später hatte die Szene gewechselt. Die neuen Verhandlungspartner - Dreierkollektive um den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und um Gysi — kamen schon am 6. 12. 2001 zusammen. Sie legten sich ins Zeug, so dass bereits am 20. 12. die Koalitionsvereinbarung unter Dach und Fach war. Am 7. 1. 2002, nach der Weihnachts- und Neujahrspause, wurden die noch ausstehenden Sahnehäubchen geliefert — die in dieser Form unübliche Präambel und eine Liste der künftigen Posteninhaber.

 

Die Koalitionsvereinbarung

 

Im Drang nach Anerkennung als “regierungsfähige”, d. h. den Herrschenden genehme Partei war die PDS der SPD gegenüber hochgradig konzessionsbereit. Sie erklärte sich verhandlungswillig, bevor der Partner in spe noch bei ihr angefragt hatte. Ungeachtet ihrer damals starken Position stimmte sie der von Sozialdemokraten, FDP und Grünen zu 90 Prozent ausgehandelten Programmatik zu und verzichtete auf bisher verkündete Grundsätze und Forderungen, außerdem auf einen vierten Senatssitz, der ihr rechnerisch zugestanden hätte. So wichtig war es ihr, schnell mit “ans Ruder” zu kommen.

Die Koalitionsvereinbarung ist mit der Präambel 130, ohne sie 117 Seiten stark. Sie geht von einem durch vorangegangene Senate aufgehäuften Schuldenberg von mehr als 39 Mrd. € Ende 2001 aus, der allein im laufenden Jahr Zinsausgaben von 2,3 Mrd. € und damit weitere Neuverschuldung bei den Banken erfordere. Um nur die Geldaufnahme bis 2009 auf Null zu reduzieren, ohne einen Cent Schulden abzutragen, wären nach Auffassung der Partner gravierende Maßnahmen erforderlich:

Erstens Einsparungen. Während die PDS bisher den “Ausbau öffentlicher Beschäftigung” als Programmziel anstrebte und eine “Unterstützung der Gewerkschaften in ihrem Kampf um Umverteilung von oben nach unten” versprach, sollen jetzt bis Ende der Legislaturperiode 2006 Personalausgaben von mehr als einer Mrd. € gekürzt und 15 000 Arbeitsstellen im öffentlichen Dienst vernichtet werden. Gleichzeitig ist eine weitere Einsparung um eine Mrd. € durch “freiwilligen” Verzicht noch Beschäftigter auf Teile ihres Gehalts - etwa beim Weihnachtsgeld oder durch Arbeitszeiterhöhungen ohne Lohnausgleich — vorgesehen. Hier sind die Gewerkschaften gefragt, die zum dementsprechenden “solidarischen Beschäftigungspakt” Ja und Amen sagen sollen. Bei den Lehrern müssten 2230 Stellen abgebaut werden. Knapp die Hälfte der Betroffenen, 1040, soll eventuell allerdings für neue pädagogische Maßnahmen eingesetzt werden. Bei der Polizei ist ein Minus von 990 Verwaltungstellen geplant, ferner der Verzicht auf Orchester und Reiterstaffel. Letztere hat sich unterdes der Bundesgrenzschutz angeeignet. Weitere Sparobjekte sind Sportförderung und Kulturfonds.

Zweitens neue bzw. höhere Steuern und Abgaben. Die Grundsteuer soll um zehn Prozent heraufgesetzt und erstmals eine Konzessionsabgabe für Wasser erhoben werden, was beides auf die Mieten umlegbar ist. Dazu kämen Beiträge von Grundstückseignern zum Straßenbau und die Ausweitung gebührenpflichtiger Autoparkzonen. Überwiegend werden von den Spar- und Besteuerungsmaßnahmen — wie auch von der zu erwartenden Steigerung der Kita-Gebühren — Minderverdienende betroffen sein. Die PDS hatte vordem, als ihre Besten noch nicht in Amt und Würden waren, für ein “sozial gerechtes Steuersystem” plädiert.

Drittens weitere Verkäufe landeseigenen Vermögens. Nachdem die Große Koalition 1996/98 vornehmlich öffentliche Versorgungsbetriebe wie Gasag und Bewag — vielfach zu herabgesetzten Preisen — verscherbelt hatte, stehen nunmehr 12 Hallenschwimmbäder und das Sport- und Erholungszentrum (SEZ), 426 der 852 kommunalen Kindertagesstätten, Wohnungsbaugesellschaften mit Zehntausenden von Wohneinheiten, die Berliner Hafen- und Lagerhausbetriebe, der Großmarkt, Grundstücke, die Feuersozietät und die Öffentliche Lebensversicherung auf der Liste. Ein anderes in Aussicht genommenes Objekt ist das Universitätsklinikum Benjamin Franklin (UKBF), das von der medizinischen Forschung abgekoppelt, folglich nicht mehr durch die Stadt mitfinanziert werden soll. Danach soll es als normales Krankenhaus in Privathand übergehen. Als Privatisierungsobjekt gilt schließlich auch die Berliner Bankgesellschaft, deren drohender Kollaps wegen Unterkapitalisierung 2001 das städtische Finanzdebakel offenbar machte. Doch will der “rot-rote” Senat, nachdem sein rosa-blassgrüner Vorgänger dafür die Weichen gestellt hat, weiter für die Immobilienrisiken der Bank aufkommen, damit diese nicht pleite geht. Das bedeutet, goldhaltiges Wasser auf unbestimmte Zeit in ein leckes Fass zu gießen, resp. nach dem jetzigen Stand, der weiter ansteigen dürfte, Zahlungen von 3,73 Mrd. € an den fonds perdu bis 2030. Unter diesen Umständen ist die Berliner Volksbank bereit, den Bettel zu übernehmen.

Hiervon abgesehen hält der Senat an mindestens zwei weiteren Projekten fest, die ungemein kostspielig sind. Das zur “zügigen Realisierung eines internationalen Verkehrsflughafens Berlin-Brandenburg”, verbunden mit dem Planfeststellungsverfahren zum Ausbau des Airports Schönefeld, ist in der Öffentlichkeit stark umstritten. Ein nicht minder großspuriges zweites Vorhaben hat den Bau von zehn 150-Meter-Häusern auf dem Alexanderplatz nebst zugehöriger Verschandelung der Stadtsilhouette zum Inhalt. Zur Beurteilung der genannten Projekte leisten erneut frühere Programm- und Wahlkampfparolen der PDS gute Dienste. Sie lauten: “Erhalt und Ausbau des kommunalen Eigentums”, “Beendigung der profitorientierten Wohnungsprivatisierung” und “Keine Protzbauten!”

Insgesamt läuft die Koalitionsvereinbarung — durch knapp gefasste “Richtlinien zur Regierungspolitik” inzwischen bekräftigt und aktualisiert - darauf hinaus, die schon unter CDU-Regie eingehaltene Linie zur Umverteilung von unten nach oben, Verschlechterung der Lebensbedingungen der Massen und weiteren Verschuldung zugunsten der Großkopfeten beizubehalten und zu verschärfen. Gleichzeitig damit soll versucht werden — ebenfalls zu Lasten abhängig Beschäftigter und finanziell Minderbemittelter -, den von beutegierigen Kapitalherrn, Staatsdienern und korrupten Politikern verursachten Schuldenberg dennoch zu vermindern. “Die Einschnitte”, so der Parlamentspräsident und frühere Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD), “treffen Kranke, Ältere, Arme und allein Erziehende am stärksten.” Ellen Brombacher von der Kommunistischen Plattform der PDS hat die Mitverantwortung ihrer Partei für “die größten Einschnitte auf dem sozialen Gebiet seit dem Krieg” hervorgehoben.

Die Ursachen des vordem angerichteten Schadens, der nun auf neoliberale Art vermindert werden soll, bleiben in der Koalitionsvereinbarung unanalysiert oder werden verfälscht. Zur Deindustrialisierung im Ostteil der Stadt nach 1989 heißt es, schuld seien der “Zusammenbruch der RGW-Staaten”, nicht etwa die Währungsunion BRD-DDR mit ihren negativen Folgeerscheinungen, beispielsweise Vertragsbrüchen gegenüber vormals “realsozialistischen” Ländern, und dem destruktiven Wirken der Treuhand wider einstige DDR-Betriebe. Mit keinem Wort weisen die Koalitionäre andererseits auf das Erfordernis hin, die Urheber des Berliner Finanzdebakels zur Verantwortung zu ziehen, überhöhte Bankzinsen zu kappen und endlich einmal den Reichen nennenswerte Steuern aufzuerlegen, was Oppositionsführer Gysi einst im Bundestag für die Zeit seiner Mitregentschaft ankündigte. Dass dies wesentlich auf gesamtstaatlicher Ebene geregelt werden muss, ist richtig. Niemand als der neue Senat selbst jedoch hindert diesen daran, sich im Bund entsprechend zu verwenden. Bei fortdauernder sozialer Firmierung zieht er es vielmehr vor, sich beim Eintreiben von Schulden der Reichen weiter an die Werktätigen und Armen zu halten.

Im übrigen hat sich die neue Koalition aufs Bitten und Hoffen verlegt. Da die Stadt “am Rande einer Haushaltsnotlage” sei, erwartet sie laut Vereinbarung, “dass sich der Bund an den auf der Hauptstadtfunktion beruhenden Sonderbelastungen des Landes angemessen beteiligt und auch zusätzlich Aufgaben der gesamtstaatlichen Repräsentation des Landes übernimmt oder hierzu finanzielle Unterstützung gewährt”. Bundesfinanzminister Eichel hat schon vorab im Dezember 2001, auf entsprechende Vorstöße Wowereits und Gysis hin, wissen lassen, er denke nicht an einen derartigen “Berlin-Pakt”.

Verhältnismäßig zahlreich sind im Koalitionspapier Bekundungen guten Willens den Wählern gegenüber. Dazu gehören eine mögliche Bürgerbeteiligung, freilich nur auf Bezirksebene, und Versprechungen, für Chancengleichheit zwischen West und Ost, volle Gleichberechtigung der Geschlechter, Mobilisierung wirtschaftlicher Wachstumskräfte und soziale Gerechtigkeit, gegen Vetternwirtschaft, Filz und Korruption wirken zu wollen. Die Zusage, schrittweise Beschäftigungsmöglichkeiten für 6000 Sozialhilfeempfänger zu schaffen, wirkt angesichts der Hunderttausende von Erwerbslosen aller Art hilflos, wenn nicht gar lächerlich. Der gute Wille gegenüber Ossi-Beamten erschöpft sich in der populistischen Formel, Westbeamte sollten künftig eine halbe Stunde länger am Arbeitsplatz sein, d. h. genau so lange wie ihre Ostkollegen. Positiv sind die Abschaffung der im Kalten Krieg geschaffenen, wiederholt als rechtsextrem aufgefallenen Freiwilligen Polizeireserve, die individualisierte Kennzeichnung uniformierter Polizisten und die auf längere Sicht geplante Aufstellung eines Rosa-Luxemburg-Denkmals auf dem nach ihr benannten ehemaligen Berliner Bülowplatz. Gegen letztere zwei Vorhaben erhob sich Widerspruch von rechts.

 

Geschichtsumdeutung per Präambel

 

Den Präambel-Entwurf verfassten SPD-Landesvorsitzender Peter Strieder, treibende Kraft auf sozialdemokratischer Seite zum neuen Bündnis, und sein Stellvertreter. Die PDS-Delegierten stimmten dem Papier zu. In seinem historischen Teil wird darauf verwiesen, dass mit Berlin “einerseits große historische Leistungen für den menschlichen Fortschritt in Wissenschaft und Technologie, Kunst und Kultur, andererseits aber auch Menschheitsverbrechen ungeheuerlichen Ausmaßes” verbunden sind. Von hier gingen zwei Weltkriege aus. Hier wurden der Mord an den europäischen Juden, an Sinti und Roma organisiert, Tausende Gegner des NS-Regimes gefoltert und ermordet. Die Liste ihrer Versprechungen fortsetzend, legt die Koalition die Verpflichtung ab, “sich jedem Vorstoß von Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Terrorismus entschlossen und aktiv” entgegenzustellen und stets “das Andenken der Opfer der nationalsozialistischen Diktatur” zu ehren. Es fehlt ein klärendes Wort zu jenen zahlreichen Fällen, in denen die Berliner Exekutive das Gegenteil tat, also etwa gegen Antinazis vorging und neofaschistische Provokateure schützte, desgleichen eins zur jahrzehntelangen Diskriminierung kommunistischer Kämpfer gegen den Faschismus bei gleichzeitiger Begünstigung von Altnazis im Westen. Dafür findet sich in der SPD-PDS-Vereinbarung folgender Satz aus der Schatzkammer reaktionärster Totalitarismus-Doktrinen: “Wir wollen eine Bürgerschaft, die mit Zivilcourage und Entschlossenheit jeglichen politischen Extremismus bereits im Entstehen bekämpft” — also auch den sogenannten linken.

Prunkstück dieses Teils der Präambel ist die Abrechnung mit der DDR. Im westlichen Jargon des Kalten Krieges lasten die Koalitionspartner einseitig ihr, der SED und teilweise auch der UdSSR Mauer und “Zwangsvereinigung”, Menschenrechtsverletzungen und die Unterdrückung der Junirebellion 1953 als untilgbare Schuld an. Dabei verschmelzen sie Dichtung und Wahrheit miteinander.

Die Spaltung Deutschlands und Berlins werten die Partner nicht als das, was sie war — Folge und Auswirkung der von beiden Seiten betriebenen Aufteilung der Welt in entgegengesetzte Machtblöcke. Sie verschweigen, dass Unrecht und Verbrechen hier wie dort passierten, und dass die Mauer im Einvernehmen zwischen den Großmächten, die keinen Krieg wollten, entstand. (Näheres darüber inArSti233, S. 32 ff.) Vielmehr wird ihr Bau als einseitiger Gewaltakt östlicher Schurkenstaaten, die aus purer Gemeinheit ein Volk einkerkerten, hingestellt: “Die Berliner Mauer wurde... vor allem zu einem Symbol für Totalitarismus und Menschenverachtung. Die Schüsse an der Berliner Mauer haben schweres Leid und Tod über viele Menschen gebracht. Sie waren Ausdruck eines Regimes, das zur eigenen Machtsicherung sogar das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit missachtete. Die Mauer durch Berlin, das unmenschliche Grenzregime mitten in Deutschland haben Familien und Freunde auseinandergerissen. Wenn auch der Kalte Krieg von beiden Seiten geführt wurde, die Verantwortung für dieses Leid lag ausschließlich bei den Machthabern in Ost-Berlin und Moskau.” In der Tat war damals jeder Tote — auch der von Flüchtlingen in die “Freiheit” und deren West-Helfern umgebrachte DDR-Soldat, einer zuviel. Nebenbei sei aber daran erinnert, dass Grenzwächter “freiheitlicher” Gemeinwesen, so die der USA an der Grenze zu Mexiko oder der BRD an der deutsch-polnischen, gleichfalls zu schießen und zu töten pflegen.

Im Hinblick auf die Vereinigung SPD-KPD 1946 räumt die Präambel ein, der Wunsch hierzu sei in beiden Parteien vorhanden gewesen. Er sei aber, heißt es weiter, missbraucht worden “zu einer Zwangsvereinigung, ohne freie Entscheidung insbesondere der Mitglieder der SPD, die sich im Westteil der Stadt in einer Urabstimmung gegen die Vereinigung aussprachen und im Ostteil an der freien Abstimmung gehindert wurden. Von vornherein beabsichtigte die KPD-Führung, nach der Vereinigung alles sozialdemokratische Gedankengut aus der SED zu verbannen. Für die Verfolgung von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und anderen Teilen der demokratischen Opposition, für die Inhaftierung unter menschenunwürdigen Bedingungen bis hin zum Tod und für die Hinrichtungen Andersdenkender trägt die SED eine bleibende Schuld.” Sehen wir einmal von der Freudschen Fehlleistung ab, auch die Mehrheit der Westberliner SPD habe mit ihrem Votum gegen die sofortige Vereinigungkeinefreie Entscheidung getroffen, desgleichen von der maßlos übertriebenen Darstellung unrechtmäßiger Verfolgungsmaßnahmen sowie der Infamie, einer ganzen, Millionen Mitglieder umfassenden Partei, der SED, die Missetaten einiger ihrer von oben eingesetzten Führer anzulasten. Wichtiger sind zwei hier unter den Teppich gekehrte Tatbestände. Erstens war es die überwiegende Mehrheit der alten und jungen Sozialdemokraten im Osten, die — bei allen negativen Begleiterscheinungen des Prozesses einschließlich Zwangsmaßnahmen — 1945/46 die Einheit gewollt und mit herbeigeführt hat. Viele, wenn nicht die meisten, sind bei ihrer Haltung geblieben. Zweitens wurde zwar der “Sozialdemokratismus” in der SED bald lautstark bekämpft. Er ist aber nicht allein das Ziel gewesen. Kommunisten wurden ebenfalls verfolgt. Die KPD-Führung mag alles Mögliche “beabsichtigt haben”. Ihre Attacken galten trotz gegenteiliger Behauptungen nur den demokratischen, nicht den reaktionär-opportunistischen Traditionen und Wesenszügen der SPD. Diese, die auch in der heutigen Schröder-Variante der Partei fortdauern, waren stalinistischen Verhaltensweisen und der dahinterstehenden Ideologie vielfach adäquat und wurden auch in der Sozialistischen Einheitspartei heimisch.

Zur Junirebellion und zur Verletzung humanitärer Rechte stellen die Präambel-Autoren fest: “Zusammen mit den damaligen Entscheidungsträgern in der Sowjetunion ist sie (die SED) verantwortlich für die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953, den Mauerbau und zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, mithin für das Fehlen grundlegender demokratischer und Freiheitsrechte in der DDR.” Die Pauschalisierung ist hier extrem weit entwickelt. Unterschlagen wird, dass nur ein Teil des Volkes an der Junirebellion beteiligt war, neben progressiven auch reaktionäre Kräfte auftraten und Westagenten mitmischten. Allgemein fehlte es der DDR sicher an Demokratie und Freiheit. Doch gab es gleichzeitig dort größere soziale Rechte, etwa das auf Arbeit, und eine freiere innerbetriebliche Atmosphäre, als es die Arbeitenden der kapitalistischen BRD sich träumen lassen können. Das Schwarz-Malen einer Seite und die alleinige Schuldzuweisung an sie seitens der Präambel-Autoren und derer, die ihnen zustimmten, ist heuchlerisch. Es verleitet zu historischer Halb- oder Unwahrheit, wird doch auf diese Art von Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik, Todesschüssen der Polizei, miserabler Behandlung unerwünschter Zuwanderer, Drangsalierung und Verfolgung linker Oppositioneller usw. abgelenkt. Übrigens sind auch die sonst üblichen Bekenntnisse zum bundesdeutschen Grundgesetz kein Anzeichen höherer demokratischer Gesinnung. Sie müssen mindestens durch die Willensbekundung ergänzt werden, den seit Jahrzehnten betriebenen Demokratieabbau im Verfassungsrecht und die vielfältigen Verstöße gegen dieses Recht entschieden zu bekämpfen.

Der historische Teil der Präambel ist, wie erwähnt, von SPD-Funktionären ersonnen worden. Die PDS-Verhandlungspartner pflichteten ihm ergebenst bei. Der dominierende rechte Flügel dieser Partei will das Papier für die weitere innerparteiliche Diskussion als Waffe nutzen. Er drängt mithin darauf, Sichtweisen von Westpropagandisten des Kalten Krieges, solche, welche die Geschichte z. T. verfälschen würden, in die eigene Programmatik zu übernehmen. Dergleichen würde gegen das noch gültige Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus von 1993 massiv verstoßen.

Letzteres stellten auch Uwe-Jens Heuer, Kurt Pätzold, Harald Neubert, Gerd Friedrich und Harry Nick, Wissenschaftler aus der Ex-DDR, in einer Erklärung zur Präambel im ND vom 22. 1. 2002 fest. Ebenfalls zutreffend konstatierten sie, das Ja der Unterhändler zum “zukunftsweisenden” Präambelteil VII widerspreche außer dem Programm, das den NATO-Austritt fordert, auch Beschlüssen der PDS-Parteitage in Magdeburg 1996, Münster 2000 und Dresden 2001, in denen jede Kriegsteilnahme der BRD abgelehnt wird. Die Präambel schreibt demgegenüber neben einer “besonderen Verpflichtung Berlins... zu bundesfreundlichem Verhalten” die Einbindung in die “westliche Wertegemeinschaft” sowie in das nordatlantische Bündnis fest, das seinerseits die inzwischen dort gültige, von der BRD-Regierung mitbeschlossene Kriegsstrategie “out of area” verficht. Das Ja dazu von PDS-Seite ähnelt der mit Wehners Bundestagsrede vom 30. 6. 1960 bekundeten außenpolitischen Wende der westdeutschen Sozialdemokratie zusätzlich zu Godesberg.

Obwohl die Ausgangslage für ihre Partei günstig war, haben Gysi, der Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus Harald Wolf und der neue Berliner Landesvorsitzende Stefan Liebich mit Koalitionsvereinbarung und Präambel eine Kapitulationsurkunde unterzeichnet, die der Partei schadet und sie in hohem Maße erpressbar macht.

 

Zustimmung zur Koalition und Senatsbildung

 

Landesparteitage der Berliner SPD und PDS votierten am 11. bzw. 12. 1. 2002 für das Regierungsbündnis. Die Abstimmungsergebnisse waren 231 : !6 bei 44 resp. 83 : 13 bei fünf Enthaltungen. Beide Kongresse tagten unter starkem Polizeischutz, da in einem Fall 3000, im anderen 600 Mediziner und Medizinstudenten gegen die geplante Umwandlung des UKBF in ein privates Krankenhaus protestierten. Gleichzeitig wandten sich Mitglieder des Bürgervereins Berlin-Brandenburg gegen den Ausbau des Flughafens Schönefeld, Angehörige mehrerer Gewerkschaften gegen Stellenkürzungen im öffentlichen Dienst und besonders an Schulen. Die SPD ließ keine Abordnungen der Demonstranten in den Saal hinein. Beim PDS-Parteitag kamen dagegen einige Vertreter zu Wort. Ferdi Breidbach vom Bürgerverein warf bei dieser Gelegenheit Gysi vor, eine Gesprächseinladung nicht beantwortet zu haben, worauf der Senator in spe Breidbachs CDU-Mitgliedschaft und den Mangel an Vereinsprotesten gegenüber der früheren Großen Koalition gegen die Protestierer geltend machte. (Er hat sich ihnen im Februar gestellt und mit der Formel, für einen Berlin-Brandenburger Großflughafen zu sein, ein mit viel Lärmbelästigung verbundenes erweitertes Schönefeld aber für ungeeignet zu halten, auch Beifall gefunden.) Ulrich Thöne, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, beschuldigte SPD und PDS wegen der erneuten Abstriche im Bildungsbereich und bei den Kitas, sie hätten ihre Wähler betrogen.

Beim SPD-Parteitag wertete Landesvorsitzender Strieder die von ihm durchgesetzte Präambel zur Koalitionsvereinbarung als Beweis dafür, dass sich die PDS “geläutert” habe. Beim Landesparteitag der PDS erklärte Fraktionschef Wolf: “Die Präambel war für uns eines der einfachsten Teile, weil wir wollten, was da steht.” Sie sei ein Signal für die Stadt, endlich mit der undemokratischen, diktatorischen, menschenrechtsverachtenden SED-Vergangenheit gebrochen zu haben. (Der Redner vergaß, dass das schon beim Gründungsparteitag Ende 1989 geschah.) Wilfriede Otto von der Historischen Kommission beim Parteivorstand nannte die Präambel akzeptabel, weil sie der Verständigung der künftigen Koalitionspartner diene. Sie könne ein “nützlicher Katalysator” für kritische Vergangenheitsaufarbeitung innerhalb der PDS sein. Gysi schwang sich entgegen geschichtsnotorischen Tatsachen, u. a. in der Zeit der Weimarer Republik, zu dem Bonmot auf: “Alles, was mit Gefängnis, Tod, Verfolgung zu tun hat, ist nicht in der Verantwortung der SPD passiert”, wohl aber in jener der SED. Er wertete es als historischen Erfolg, dass aus der Konfrontation mit der SPD eine Kooperation geworden sei, und forderte, “uns jetzt arbeiten zu lassen”. Einwände gegen Kapitulation und Kniefall der Parteioberen blieben bemerkenswert gering.

Am 17. 1. 2002 wählte das Berliner Abgeordnetenhaus den neuen Senat. Hinter ihm stehen 44 SPD- und 33 PDS-Vertreter, also 77 der 141 Mitglieder des Hauses. Der Stadtregierung gehören sechs Sozialdemokraten und drei PDS-Zugehörige an. Erstere sind Klaus Wowereit, weiter Regierender Bürgermeister, die neue Bürgermeisterin und Senatorin für Justiz Karin Schubert (vorher Justizministerin Sachsen-Anhalts), Bildungssenator Klaus Böger (vorher Ressortleiter für Jugend und Sport), Finanzsenator Thilo Sarrazin (1990 Autor von Grundzügen der Währungsunion BRD-DDR, ab 1991 Direktor der Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft, zuständig für Grundstücksverkäufe aus früherem DDR-Besitz, seit 2000 im Vorstand der Deutschen Bahn AG), Ehrhart Körting, weiterhin Innensenator, und Peter Strieder, weiter Senator für Stadtentwicklung. Die PDS wird durch Gregor Gysi, Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen, Heidi Knake-Werner, Senatorin für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz (bisher Parlamentarische Geschäftsführerin der PDS-Bundestagsfraktion), und Thomas Flierl, Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur (seit 1998 Baustadtrat in Berlin-Mitte, vorher kulturpolitischer Sprecher der Abgeordnetenhausfraktion), repräsentiert. Schwierigkeiten ergaben sich dadurch, dass Strieder und Sarrazin im ersten Wahlgang nur je 68 Stimmen erhielten und durchfielen. In der daraufhin einberufenen Krisensitzung drohte Wowereit seiner Fraktion mit Rücktritt, falls Strieder im zweiten Wahlgang von ihr wieder nicht genug Stimmen bekäme.

In Sachen Benjamin-Franklin-Klinikum sah sich der Regierende Bürgerminister nachhaltiger Proteste wegen inzwischen zu einem Rückzieher gezwungen. Gysi und Flierl unterstützten diesen Schritt. Die Umwandlung des UKBF ist demnach ausgesetzt. Eine Expertenkommission soll darüber befinden, was in der gesamten Berliner Hochschulmedizin, auch jener der Charité, eingespart werden kann, um den jetzigen Status der Klinik zu erhalten. De facto dürfte das — mit Zustimmung der angeblich stets Ostinteressen vertretenden PDS-Oberen - auf einen Ausgleich zu Ostberliner Lasten hinauslaufen.

Finanzsenator Sarrazin schockierte die Koalition am 5. und 19. 2. 2002 mit neuen Berechnungen. Zu den Eckdaten des Doppelhaushalts 2002/03 und der Finanzplanung bis 2006 verlautbarte er, 2002 werde mangels Mitteln eine Neuverschuldung von 6,3 Mrd. statt der vereinbarten 3,2 Mrd. € nötig sein, 2003 eine weitere von 3,57 Mrd. Der Schuldenberg wachse dem gemäß bis 2006 von 39 auf 58 Mrd. €. Die Zinsausgaben würden in derselben Zeit von 2,3 auf 3,01 Mrd. € jährlich steigen. Um — wie in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben — bis 2009 einen ausgeglichenen Etat zu erreichen, müssten “unerwartete Entwicklungen”, vormals gemeinhin Wunder genannt, eintreten. Der Senator wertete den gesteigerten Neuverschuldungsbedarf als “abartig” und den wachsenden Stützungsbedarf der Berliner Bankgesellschaft als “bestürzend”. Die für das Bankdebakel Verantwortlichen sollten zwar Schadenersatz leisten, das aber nur symbolisch, weil die Schadenssumme viel zu groß sei. Zugleich setzte der Senator die Gewerkschaften mit dem Ultimatum unter Druck, wenn sie nicht dem bisher von ihnen abgelehnten “Solidarpakt” — also Gehaltsverzichten — zustimmten, würden alle Neueinstellungen storniert und die Arbeitszeit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst ohne Lohnausgleich erhöht. Sarrazin stellte auch die ebenfalls vereinbarte Fusion mit Brandenburg in Frage. In regierungsnahen Kreisen und der Berliner Presse wurde auf die Eröffnungen hin der finanzpolitische Kern der Koalitionsvereinbarung für Makulatur erklärt. Gleichzeitig gab es Mutmaßungen darüber, ob der Senator nicht alles noch schwärzer gemalt habe, um die Beschäftigtenvertreter zu Abstrichen an Lohn und Lebensqualität ihrer Klientel zu zwingen.

Die Gewerkschaftsvertreter haben den sogenannten Sozialpakt bisher zurückgewiesen. Berlins Verdi-Vorsitzende Susanne Stumpenhusen verband das mit dem Hinweis, dass Einsparungen beim Weihnachtsgeld und bei anderen tariflich vereinbarten Leistungen rechtlich nicht machbar seien — was Wowereit und dem Topjuristen Gysi entgangen ist - und der Ausgleich des Berlin-Haushalts nicht durch Senkung der Personalkosten, sondern durch höhere Einnahmen erreicht werden muss. Die Bürgermeister der Berliner Bezirke verwahrten sich gegen finanzielle Abstriche Sarrazins in ihrem Bereich, die einen geordneten Gang der Bezirksverwaltungen unmöglich machten. Einer Politik wegen, die an Auflagen des Internationalen Währungsfonds für industriell unterentwickelte Länder erinnert, stößt der “rot-rote” Senat gerade bei bisherigen Anhängern und Verbündeten auf Widerspruch.

Das Echo von CDU/CSU und FDP auf die neue Koalition in Berlin ist angesichts der sozialfeindlichen Programmatik dieses Senats verhalten. Der erlittenen Pannen wegen kam allerdings Schadenfreude auf. Die einstige DDR-Oppositionelle Bärbel Bohley gab Unsinn wie den von sich, die heutigen Mitglieder der PDS seien “die alten SED-Machthaber”. Vertreter des Großkapitals — unter ihnen der mit Gysi seit längerem in Kontakt stehende frühere Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter, der ehemalige Chef der Deutschen Bank und heutige Beauftragte für Auslandsinvestitionen in Deutschland Hilmar Kopper und der Chefvolkswirt der Allianz/Dresdner Bank Klaus Friedrich - äußerten sich in dem Sinn, dass Investoren an Geschäften interessiert, politisch aber farbenblind seien. “Wie sonst”, meinte Friedrich, “könnte z. B. das kommunistische China das weltweit attraktivste Land für ausländische und insbesondere auch US-amerikanische Direktinvestitionen sein?”

SPD-Politiker begrüßten vorwiegend die in Berlin gefundene Lösung. Andrea Nahles, Exvorsitzende der Jusos und Sprecherin der sogenannten Parlamentarischen Linken in der Bundestagsfraktion, urteilte, mit der PDS lasse sich sozialdemokratische Politik treiben. Erhard Eppler meinte, Funktionäre dieser Partei als Verantwortungsträger machten nichts anderes als das. Der Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns, Harald Ringstorff, verwies aus eigener Regierungserfahrung mit der PDS heraus auf eine fortschreitende Sozialdemokratisierung ihrer Amts- und Mandatsträger.

 

Nachdem manch PDS-Mitglied oder —Sympathisant die Vorentscheidungen für ein künftig “libertäres” und regierungstreues Parteiprogramm als bloße Theorieangelegenheit abgetan haben dürfte, die nicht so wichtig wäre, wurden nun mit der Berliner Koalitionsvereinbarung auch praktisch-politische Maßnahmen getroffen. In krasser Weise widersprechen sie den bisherigen sozialen Vorsätzen der Partei. Was sich “Rot-Rot” geleistet hat, übertrifft alles von vorangegangenen Koalitionen Verübte. Das war man von sozialdemokratischer Seite und seitens der Grünen, aber noch nicht von Seiten der PDS gewohnt. Hinzu kommen die mit der Präambel anvisierten Vorstöße zur Umdeutung der Geschichte. In Sachen Antifaschismus ist die Spitze der PDS den etablierten “Anständigen” nähergerückt. Sie nähert sich dem neuen deutschen Imperialismus auch in der Kriegsfrage. Übrig bleibt die Forderung nach mehr Gerechtigkeit, besonders für Ostdeutsche. Auch sie könnte bald zur Phrase verkommen.

Der linksstehende Strafverteidiger Friedrich Wolff fasste seine Ansicht über das Geschehene so zusammen: “Historisch ist nicht die Berliner Koalition, historisch ist die Tatsache, dass es in Deutschland keine große marxistische, konsequent antikapitalistische Partei mehr gibt. Die Koalition ist nur Ergebnis und Symptom für die Preisgabe der Ideen von Liebknecht und Luxemburg, von Marx und Engels durch die PDS, richtiger durch ihre politische Klasse.” Deren endgültiger Sieg über die demokratisch-sozialistische Partei der Jahre nach 1989 könnte sich bei weitverbreiteter und anhaltender Resignation an der Basis beschleunigen. Ebenso durch die Aussicht auf einen Bundestagswahlkampf gegen Stoiber ähnlich dem von 1980 gegen Strauß, der heterogene Gruppierungen von links und in der Mitte kurzzeitig zusammenschweißte. Dieser Sieg würde die PDS auch als demokratische, nicht nur als antikapitalistische Opposition zum Siechtum verurteilen.

Bundesgeschäftsführer Bartsch hat am 10. 2. 2002 die Wahlaussichten seiner Partei als “noch nie so gut” beurteilt. Er stützte sich auf Umfrageergebnisse, die Stimmungen wiedergeben, welche sich in jüngerer Vergangenheit herausgebildet haben. Mit einigem Recht meint allerdings Parteichefin Gabriele Zimmer, die Koalitionsvereinbarung in Berlin könnte der Partei “auf die Füße fallen”. Bundeskanzler und SPD-Boss Schröder dürfte gleichwohl voreilig gewesen sein, als er kürzlich beim Eröffnen der Berliner Telekom-Repräsentanz schon die Devise “Der Mohr kann gehen” anwandte. Er begrüßte seine Parteifreunde Wowereit und Momper, nicht aber den mit in der ersten Reihe sitzenden Wirtschaftssenator Gysi.

B. M., 24. Februar 2002