Gründung einer neuen Linken mit gescheiterten Rezepten?

Lafontaine, Gysi, Ernst und Bisky präsentierten am 02.06.06 ein Manifest zur Gründung einer neuen Linken. Der Aufruf soll zur politischen Grundlage der Fusion der Linkspartei/PDS mit der WASG werden. Verglichen mit den Programmen der PDS und der WASG wird die fusionierte Partei an der Oberfläche linker positioniert als bisher. Dies ist offenkundig dem Druck der WASG-Linken geschuldet. Doch eine tiefergehende Analyse zeigt, daß die angestrebte "neue Linke" so weiterwurschteln soll, wie die PDS in Berlin und den neuen Ländern schon bisher. Mit allenfalls verbalem Protest und linken Sprüchen soll der parlamentarische Status quo erhalten und gemeinsam mit der SPD in einem "breiten Reformbündnis" nach Berliner Modell der moderne Kapitalismus verwaltet werden.

Regierungsverantwortung und Regierungsmacht

Der Aufruf für die "neue Partei" bekennt sich zum Ziel, die "Hegemonie der neoliberalen Politik" zu brechen und will zu diesem Zweck "den Zeitgeist verändern". Die Linke soll dieses Ziel erreichen mit einer "strategischen Einheit" aus "Protest, Mitgestaltung und Alternativen, die über den Kapitalismus hinausweisen". Man beachte hierbei: Letztere sind dabei nicht Gegenstand der "Mitgestaltung". Die neue (und alte) Linke soll "Regierungsverantwortung" übernehmen, wenn sie "alternative Entwicklungspfade öffnen kann". Eben zu diesem Zweck, so seit Jahren die PDS in Berlin, bekennt sie sich zum Ziel der (neoliberalen = zeitgemäß kapitalistischen) Haushaltssanierung, die irgendwann in der Zukunft neue Reformspielräume eröffnen soll. Die tagespolitische Rechtfertigung für diese Politik der prinzipiellen Mitverwaltung des Kapitalismus besteht darin, die "Lebensverhältnisse der Menschen (zu) verbessern". Tatsächlich ist aus diesem Versprechen längst die kleinlaute, tausendfach wiederholte Beteuerung geworden, noch Schlimmeres verhütet zu haben und weiter verhindern zu wollen.

Die Übernahme von Regierungsmitverantwortung durch die künftig vereinigte Linkspartei/PDS heißt in dieser Zeit der kapitalistischen Stagnation und der immer dreisteren Forderungen des Kapitals nach Umverteilung von unten nach oben, die Glaubwürdigkeit der Linken als aktuelle Interessenvertretung aller Lohnabhängigen zu beschädigen. Die Linke als Mitverwalterin des Kapitalismus diskreditiert sich damit sowohl in der aktuellen Widerstandsbewegung der Arbeiterklasse gegen die sozialpolitischen Schweinereien der herrschenden Klasse wie auch als strategische Alternative. Bestenfalls, wenn es ihr gelingt, auf der Linken konkurrenzlos zu bleiben, mauert sich die neu-alte Linke mit dieser Politik im 5-8%-Ghetto einer parlamentsfixierten Dauerminderheit ein. Die Übernahme von Regierungs-verantwortung heute und die mit ihr verbundene Übernahme der Politik der kapitalistischen Krisenverwaltung schließt die offensive Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse aus. Sie verändert auch nicht den sog. Zeitgeist. Allenfalls macht sie aus ehrlichen Linken zynische Linke.

Die Autoren des Gründungsaufruf enden mit der Feststellung, daß das Kapital heute übermächtig ist und fortschrittliche Politik gegen das Kapital durchgesetzt werden müsse. Den gesellschaftlichen Gegenpart des Kapitals, die Arbeiterklasse, erwähnen sie nicht. Deren Mobilisierung ist für sie buchstäblich kein Thema.

Stattdessen erklären sie ohne jede Erläuterung, "demokratischer Fortschritt" und die "Verbesserung der Lebensverhältnisse für eine große Mehrheit", seien "nur in einem breiten Reformbündnis" erreichbar. Nach Lage der Dinge kämen als Bündnispartner dafür nur die SPD und allenfalls die Grünen in Frage. Es kümmert die Autoren des Manifests ebensowenig wie Harald Wolf und Stefan Liebig in Berlin nicht im geringsten, daß diese Parteien immer wieder unter Beweis gestellt haben, daß sie für eine solche Politik nicht zur Verfügung stehen. Unerwähnt bleibt auch, daß die SPD als Voraussetzung eines eventuellen Bündnisses nicht nur die bedingungslose Unterordnung unter die Forderungen des Kapitals im Innern, sondern auch die Akzeptanz der neueren militaristischen und aggressiven Außenpolitik des BRD-Kapitals verlangt hat. Für die Grünen, die diese Forderungen der Sozialdemokratie erfüllt haben, als diese noch von Lafontaine geführt wurde, gilt nichts Anderes.

Fazit: Unsere Reformstrategen haben für ihr breites Reformbündnis keine Partner. Sie haben auch nicht einmal den Ansatz zu einer Idee, wie diese Situation zu ändern wäre. Ihnen kommt nicht einmal entfernt der Gedanke, daß im Mittelpunkt jeder sozialistischen Strategiediskussion ein Konzept stehen muß, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und, darauf aufbauend, politische Merheitsverhältnisse zu ändern.

Ihr aufgeblasener Popanz der vorgeblichen strategischen Einheit von "Protest, Mitgestaltung und Alternativen, die über den Kapitalismus hinausweisen", entpuppt sich somit als Formel, grundsätzlich so weiterzumachen, wie in Berlin bisher. Selbst, wenn kleine Korrekturen nicht ausgeschlossen werden, bedeutet das die Übernahme kapitalistischer Regierungsmitverwaltung und von -Mitverantwortung bei völlig ungebrochener Duchsetzungsmacht des Kapitals, somit die faktische Unterordnung unter dessen politische Bedürfnisse. Außerparlamentarisch bleibt der "neuen Linken" dann nur noch die Funktion, die Opfer dieser Politik auf bessere Zeiten zu vertrösten.

Bekenntnis zum Antikapitalismus?

Ist diese Kritik nicht unfair? Prangert der Gründungsaufruf etwa nicht die Übel des Kapitalismus an? Spricht er etwa nicht von der Notwendigkeit, "die Barbarei der kapitalistischen Gesellschaft zu überwinden"? Distanziert er sich nicht von den neo-liberalen Ideologen und ihren demagogischen Versprechungen? Ja und nein.

Der Aufruf spricht davon, daß seine Autoren zwar die Barbarei der kapitalistischen Gesellschaft überwinden wollen, nicht aber von der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft. Der zu zivilisierende Kapitalismus entspräche dann ihrem Ideal des demokratischen Sozialismus. Diese Utopie erinnert an die frommen Wünsche zur Wendezeit 1989/90: Man müßte das Gute beider Systeme miteinander kombinieren. Doch, leider, hat die Bourgeoisie nicht mitgespielt.

Die "neoliberalen Ideologen" werden im Aufruf attackiert, aber die neoliberalen Politiker, mit denen sich die Linkspartei verbünden will, werden nicht beim Namen genannt. Die Rolle neoliberaler Politiker in der Linkspartei wird überhaupt nicht erwähnt. Unterdessen bemüht sich Lafontaine, den Terminus "neoliberale Politik" so umzudefinieren, daß der "rot-rote" Berliner Senat wieder als Hort des sozialstaatlichen Reformismus verkauft werden kann.

Die Kapitalismuskritik des Aufrufs ist zu Recht emotional, aber auch impressionistisch, oberflächlich und im Detail falsch. So hat der Kapitalismus, dem der Aufruf bescheinigt, auf ständige Expansion angewiesen zu sein und Absatzmärkte wie Rohstoffquellen auch mit militärischer Gewalt erobern zu müssen, nach dem Zweiten Weltkrieg geboomt - trotz eines geographisch erheblich eingeschränkten Weltmarktes (China, Nordkorea, Nordvietnam und Osteuropa waren dem freien Markt entzogen). Umweltschäden hat es auch vor und nach dem Kapitalismus gegeben. Das Spannungsverhältnis von Umweltzerstörung und Kapitalismus, das im Kapitalismus grundsätzlich nicht aufgelöst werden kann, wird nicht benannt. Es ergäbe sich aus ihm die Notwendigkeit einer demokratischen, ökologische Auswirkungen von Investitionen berücksichtigende Planung. Es werden jedoch nur die internationalen Auswirkungen von Umwelteingriffen beklagt. Es werden Mißstände angeprangert, aber für einen Kampf gegen Hunger, Unterernährung und Elend werden weder Lösungen noch Perspektiven umrissen.

Die emotionalisierte Sprache des Aufrufs verdeckt die ungenügende Analyse der Widersprüche dieser Gesellschaft. Nicht nur der "Raubtierkapitalismus führt in weiten Teilen der Welt zu bitterer Armut", sondern ebenso die friedliche Handelspolitik des demokratisch-zivilisierten Kapitalismus der europäischen imperialistischen Metropolen. Und dieser ganz alltägliche Kapitalismus hat dafür gesorgt, daß bittere Armut auch in Westeuropa und der BRD wieder zum Massenphänomen geworden ist und immer mehr Teile der Arbeiterklasse verarmen.

Die ungenügende Analyse wird zum Skandal, wo sich der Aufruf zu antiimperialistischen Widerstandsbewegungen ausschweigt, nur darüber klagt, daß die bittere Armut in weiten Teilen der Welt "zum Terrorismus" führt. Zudem wird lediglich die US-Politik dafür kritisiert, daß deren völkerrechtswidrige Politik eine "Spirale der Gewalt" fortführt und so neuer Bereitschaft zum Terrorismus Nahrung gibt. Internationale Solidarität beginnt damit, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden. Sie beginnt mit der Solidarität mit Unterdrückten, Ausgebeuteten, Verelendeten und Entrechteten.

Das ist mehr als die von den Führern der Linkspartei geforderte "präventive Politik der Konfliktvermeidung". Wer nicht bereit ist, sich mit den Kämpfen der Unterdrückten zu solidarisieren, soll von Gerechtigkeit schweigen. Die Autoren des Manifests verschließen vor der offenkundigen Tatsache die Augen, daß die Form der imperialistischen Politik nicht von der Friedensliebe und Moral der jeweiligen Regierenden abhängig ist, sondern von den Interessen der jeweils von ihnen vertretenen Bourgeoisie, ihrer realen Macht und der jeweiligen internationalen Kräftekonstellation.

Appelle an die Moral müssen verpuffen, wenn sie den Herrschenden nicht gerade gelegen kommen. In jedem Falle ist es aber schon mehr als geschmacklos, wenn Regierungssozialisten in den imperialistischen Metropolen den Opfern der strukturellen und offenen militärischen Gewalt ihres eigenen Imperialismus Gewaltlosigkeit predigen. Wer hierzulande den Terrorismus bekämpfen will, möge mit dem Staatsterrorismus von NATO-Staaten beginnen und sich für ein sofortiges Ende jeder Form der freundschaftlichen Zusammenarbeit mit diesen Kräften einsetzen.

Dem Wischi-Waschi des Gründungsaufrufs in dieser Frage entspricht die schwankende Haltung der Linkspartei/PDS in der Frage der Ablehnung deutscher Militäreinsätze in der Dritten Welt, ebenso die butterweiche Haltung führender Politiker der Linkspartei zu sogenannten Friedenseinsätzen im Rahmen multinationaler internationaler Instititutionen. Es ist auch bezeichnend, daß sich das Manifest für eine neue Linke zur Europäischen Union bekennt, ohne auf die damit angestrebte Rolle eines Vereinten Europa als militärische und ökonomische Weltmacht einzugehen.

Regulierter Kapitalismus=Sozialismus?

Die Autoren des Gründungsmanifests verschließen sich nicht mehr der Erkenntnis, daß der Kapitalismus für die große Masse der Menschheit eine permanente Katastrophe ist.

Sie schreiben: "DIE LINKE bekennt sich zum demokratischen Sozialismus. Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte." Die ihnen zugetanen und die oberflächlichen Leser dürften geneigt sein, diese Sätze für ein Bekenntnis zur Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus zu halten. Weit gefehlt: "Weil der Schwächere nur frei sein kann, wenn ihn Gesetze und Regeln vor der Willkür des Stärkeren schützen, setzt sie (die neue Linke) auf Regulierung statt auf Deregulierung. Den moralischen Grundwerten der Gesellschaft soll auch in der Wirtschaft Geltung verschafft werden. Gesetze und Regeln müssen sicherstellen, dass die Kapitalverwertung dem Gemeinwohl verpflichtet ist, wie es das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verlangt."

Aus der richtigen Feststellung, daß der Kapitalismus - wie jede andere sozialökonomische Formation der Geschichte vor ihm - abgeschafft werden wird, wird angesichts seiner Unfähigkeit, das Wohl der Menschheit zu gewährleisten, nicht die logisch und historisch einzig mögliche Schlußfolgerung gezogen, daß der Kapitalismus durch ein neues System ersetzt werden muß, den Sozialismus. Stattdessen folgt das Bekenntnis zu einem erneuerten, einem regulierten Kapitalismus. Mehr noch: Dieses Manifest verkündet, daß "der Schwächere" in diesem regulierten Kapitalismus frei sein werde. Welche Art von (gefühlter?) Freiheit das sein soll, die weiter "Schwächere" und "Stärkere" kennt, erklären uns seine Autoren nicht.

Ebensowenig wie das Grundgesetz sind sie in der Lage auszuführen, wie das System der Selbstverwertung von Wert, d.h. der Kapitalverwertung, mit dem Gemeinwohl unter einen Hut gebracht werden kann. Anders als die Neoliberalen, die daran glauben, daß der ungezügelte Markt selbst das Gemeinwohl befördert, wollen sie das Kapital durch Gesetze und Regeln zu seinem regulierten Glück zwingen. Es müßte sich also um eine neue Qualität der kapitalistischen Regulierung handeln. Doch worin sich diese Regulierung von der heutigen imperialistischen Rechtsstaatlichkeit unterscheiden soll, führen sie nicht aus.

Sie stellen aber andererseits die Kapitalverwertung nicht in Frage. Sie stellen sie nicht nur nicht in Frage, sondern entwerfen das Modell einer Rückkehr zu einem frühkapitalistischen Markt ohne den dominierenden Einfluß von Monopolen (den es so nie gegeben hat). Als neubekehrte Ideologen der idealen Marktwirtschaft betonen sie eifrig dessen Rolle zur Steigerung der Effizienz der Wirtschaft. Daß die kapitalistische Konkurrenz mit ökonomischer Notwendigkeit zum Monopolkapitalismus führt und sich deshalb immer wieder selbst aufhebt, wird nicht zur Kenntnis genommen. Die Autoren des Aufrufs kündigen deshalb an, die Kartellgesetzgebung zu verschärfen und die 2,9 Millionen Unternehmen mit einem Jahresumsatz von weniger als 10 Millionen Euro vorrangig zu fördern. Das dürfte der einzige Punkt ihres Konzepts sein, für das sie bei Beibehaltung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses Bündnispartner (bis zur äußersten Rechten) finden dürften.

Unbeirrt von den Niederungen realer Politik posaunen die Autoren des Aufrufs an späterer Stelle, daß sie die Wirtschaftsdemokratie anstreben, die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmern in den Unternehmen erweitern wollen - bis hin zur Entscheidung über existentielle Fragen für die Zukunft von Unternehmen. Derartige Entscheidungsrechte, die jeder ernsthafte Sozialist unterstützen wird, wird sich die Arbeiterklasse selbst erkämpfen müssen. Das Bekenntnis des Gründungsaufrufs sollte von der Linken genutzt werden, die "neue Linke" zu Mobilisierungen aufzurufen. Es steht aber zu befürchten, daß dieses Bekenntnis ein Lippenbekenntnis bleibt.

"Von oben" wird diese Forderung erst dann eingeräumt werden, wenn eine Arbeiterregierung erkämpft worden sein wird, die entschlossen ist, ohne Unterordnung unter Kapitalinteressen ihre Ziele durchzusetzen. Umgekehrt ist klar, daß die reale Bourgeoisie einer solchen Politik heftigen Widerstand entgegensetzen wird. Ohne Mobilisierungsperspektive handelt es sich um eine nicht ernst gemeinte, bloß verbale Konzession an die Linke, die nichts kostet. Außerparlamentarische Proteste und Mobilisierungen sind für die Autoren des Aufrufs aber nur Beiwerk einer parlamentsfixierten Perspektive.

Da die Autoren des Aufrufs konsequenterweise keinen Weg sehen, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu ändern oder wenigstens an dieser Änderung aktiv und initiativ mitzuwirken, werden sie von der Überführung von "Schlüsselbereichen der Wirtschaft und der Daseinsvorsorge in öffentliche Eigentumsformen", die "demokratischer Kontrolle unterliegen", wohl ebenso bis in alle Ewigkeit schwätzen, wie von Chancengleichheit in der Bildungspolitik, der Wiederherstellung des Sozialstaats aus besseren Zeiten des Kapitalismus, vom ökologischen Umbau und nachhaltiger Ressourcenbewirtschaftung.

Merke: Wer die bestehenden Institutionen rückhaltlos akzeptiert und Reformversprechen unter den Vorbehalt ihrer Finanzierbarkeit nach den Grundsätzen bürgerlicher Haushaltspolitik stellt, braucht gleich gar nichts zu versprechen. Grundlegende fortschrittliche Reformen sind ohne energischen Klassenkampf von unten und Konflikte mit den heute bestehenden politisch-institutionellen Rahmenverhältnissen nicht durchsetzbar. Dieser Weg ist schwierig, aber wenigstens möglich.

Der konzeptionelle Blödsinn des Aufrufs wird durch die Proklamation gekrönt, daß den "moralischen Grundwerten der Gesellschaft" auch "in der Wirtschaft Geltung verschafft werden" soll. Zur These von einer klassenlosen Moral der Gesellschaft, die der Moral einer "Wirtschaft" gegenübergestellt ist, dürfen Leser den Autoren des Manifests für eine neue moralische Linke gratulieren. Wir sind neugierig: Welche moralischen Grundwerte hat diese Gesellschaft, die nicht kapitalistisch bestimmt sind? Marxisten sind immer davon ausgegangen, daß die herrschenden Ideologien und Moralvorstellungen immer die der herrschenden Klasse sind. Wenn die Ghostwriter Gysis und Lafontaines recht haben, haben wir etwas verpaßt.

Der Aufruf will schließlich "eine gerechtere Verteilung der Erwerbsarbeit durch Arbeitszeitverkürzung und die Schaffung von Arbeitsplätzen in gesellschaftlich sinnvollen Bereichen, vor allem im Öffentlichen Dienst und im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor". Es ist zwar nur die Rede von einer gerechteren Verteilung" und nicht die Rede von der Beseitigung der Arbeitslosigkeit, aber kein Linker wird diesem Wunsch widersprechen. Jeder Leser dürfte neugierig sein, was die neuzugründende Linke als Konzept präsentiert, um diese Ziele duchzusetzen. Immerhin würde ein erfolgreicher Kampf zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit die Krise aller Sozialversicherungssysteme schlagartig beenden. Letztere Tatsache wird in der bürgerlich-medialen Öffentlichkeit sorgfältig verdrängt, um die gesellschaftspolitische Debatte vom zu lösenden Grundübel abzubringen: der Massenarbeitslosigkeit. Die vielen kleinen Organisationen sind derzeit nicht stark genug, die gesamte Arbeiterbewegung auf Trab zu bringen. Von einer "neuen", nichtsektiererischen Linken, mit immerhin parlamentarischer Präsenz sollte ein brauchbares Konzept für eine Mobilisierungskampagne erwartet werden, ein entsprechender Aufruf an Gewerkschaften und alle linken Kräfte, ein Aktionsbündnis für Vollbeschäftigung zu schließen und dann energisch durchzusetzen.

Doch ein solches Konzept fehlt. Sein Fehlen wird von den Autoren rasch überspielt mit dem Wunsch nach einer "Wirtschaftsordnung, die allen Menschen die Möglichkeit gibt, sich am Erwerbsleben zu beteiligen." Die Autoren bekräftigen diesen Wunsch, indem sie darauf hinweisen, daß "erzwungene Arbeitslosigkeit" nur allzuoft "zu Vereinsamung und Ausgrenzung führt, auch wenn es jenseits der klassischen Erwerbsarbeit sinnvolle Tätigkeiten gibt, die wir fördern wollen." Damit haben sie das heikle Schiff des sofort und unmittelbar dringlichen Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit erfolgreich auf das Terrain geleitet, wo es der Politik entzogen wird, nämlich das der zusätzlichen und gesellschaftlich nützlichen Beschäftigung im sogenannten Zweiten Arbeitsmarkt und der fürsorgerischen Sozialarbeit. Der notwendig zu führende Klassenkampf von unten wird durch staatliche Wohlfahrt von oben ersetzt und die Arbeitslosen auf Wunschvorstellungen vertröstet.

Wem das nicht reicht, dem versichert der Aufruf für eine neue Linke: "Die LINKE tritt für ein erneuertes Verständnis von Solidarität zwischen Vollzeitbeschäftigten, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit ungesicherten Arbeitsverhältnissen und Erwerbslosen ein." Der Aufruf verspricht dazu den Einsatz für den Erhalt der sozialen Sicherungssysteme und für soziale Mindeststandards, die gegen Armut schützen sollen. Mit anderen Worten: Die Massenarbeitslosigkeit wird als unabänderliches Schicksal hingenommen. Diese Art von Versprechen verpflichtet zu nichts und unterscheidet sich nicht von den Sprüchen der Schröder, Merkel, Müntefering oder Harald Wolf, die auch bei jeder Gelegenheit behaupten, sie würden den Sozialstaat modernisieren um ihn zu retten.

Diese Linke hat so keine Zukunft. Sie wird sich nur so lange halten können, wie es den marxistischen Kräften nicht gelingt, eine Alternative zu schaffen.

Dieter Elken (Marxistische Initiative), 06.06.06