Ingo Wagner

Referat (Thesen) auf der Leipziger Konferenz “Die Linke nach der Bundestagswahl” am 5. Oktober 2002, Veranstalter: Marxistisches Forum Sachsen, Kommunistische Plattform Sachsen, die Plattform Internationalismus Sachsen und das Netzwerk Linke Opposition in und bei der PDS.

Quo vadis marxistische Linke in der PDS?

Die zugebilligte knappe Redezeit macht es erforderlich, daß ich meine Überlegungen in Thesen vortrage

- also in solchen Behauptungen, die das Wesentliche aus einem Komplex von Aussagen pragmatisch vermitteln und deren Wahrsein durch Tatsachen belegt ist.

In medias res.

1. Ich gehe mit solchen Auffassungen konform, die man so auf den Punkt bringen kann: Eine marxistische Partei in Deutschland ist historisch notwendig.[1] Für eine marxistische Massenpartei gibt es allerdings noch keine realen Bedingungen. Obwohl man sie nicht am Reißbrett konstruieren kann: für einen geschichtlich überschaubaren Zeitraum scheint mir immerhin eine solche marxistische Partei möglich zu sein, die sich (zunächst) um Masseneinfluß bemüht - insbesondere durch Aktionseinheit aller antiimperialistischen Kräfte und Revitalisierung des Marxismus gemäß den Erfordernissen unserer Zeit. Hierfür ist es in längerer Zeit erforderlich, die diesbezüglichen Kräfte zu sammeln, zu schulen und zu formieren. Es ist sicher wie das Amen in der Kirche, daß hinsichtlich der PDS eine solche Entwicklungsperspektive völlig ausgeschlossen ist. Für sie ist es ein Buch mit sieben Siegeln, daß es trotz der Niederlage des Sozialismus ein weiteres epochales Fortschreiten von Kapitalismus zur planetaren kommunistischen Zivilisation gibt - objektiv determiniert durch die gewaltige Vergesellschaftung der Produktion im Gefolge der digitalen Revolution, und daß dieses “Fortschreiten” nur durch die Formierung eines geschichtsmächtigen subjektiven Faktors praktisch-politisch effektiv werden kann.

2. Das Wahldebakel der PDS ist letztlich eine Stigmatisation ihres Charakters; es zeugt vom Bankrott des Modernen Sozialismus. Die PDS hat sich als eine Partei des kleinbürgerlichen Sozialreformismus mit gegenwärtiger linker sozialdemokratischer Ausrichtung ausgeprägt. Sie wird wesentlich durch die sogenannten Reformsozialisten geprägt, deren “moderner Sozialismus” als ein soziales Produkt des modernen Kapitalismus selbst in dieser Transformation strategische Triebfeder war ist und bleibt. Die Strukturen der kapitalistischen modernen Gesellschaften sollen durch Reformen so verändert werden, daß dabei die Dominanz der Kapitalverwertung zurückgedrängt und letztlich überwunden werden kann. Das ist “Sozialismus” durch Kapitalverwertung auf dem Boden und im Rahmen des Kapitalismus. Hierauf beruht (u. a.) der Programmentwurf der PDS. Diese Positionierung wird durch die sogenannten Reformpraktiker breit unterstützt. Diese wichtige Gruppe in der PDS bemüht sich vor allem in der parlamentarischen Arbeit insbesondere um soziale, wirtschaftliche, kulturelle und ökologische Anliegen in praxi; sozialistische Ziele, Programmatik und ideologische Fragen sind nicht (so sehr) ihre Sache. In meinen Augen fällt ein solcher Sachverhalt insgesamt hinter Bernstein zurück, der als reformistischer Sozialist wollte, daß die Sozialdemokratie die kapitalistische Produktionsweise überwindet - obwohl seine politischen wie ökonomischen und philosophischen Theorien nicht geeignet waren, die sozialistische Ordnung zu verwirklichen. Die PDS ist insofern keine klassische reformistische Partei. Ihre reformsoziale Prägung mit “modernem sozialistischen” Antlitz bedeutet Abschied vom Marxschen authentischen Sozialismus überhaupt. Linke werden den sozialen und ökonomischen Erfordernissen des Kapitals untergeordnet; sie werden in den politischen Mainstream der bürgerlichen Gesellschaft eingeordnet und in deren kulturelle Hegemonie einbezogen. Hiervon zeugt anschaulich die Berliner Koalition. Das politisch-ideologische Anliegen der führenden PDS-Strömung ist somit das Funktionieren des Kapitalismus; und zwar durch die Lähmung der revolutionären und wirklich antikapitalistischen Kräfte. Die PDS wird (früher oder später, so oder so) im kapitalistischen Orkus enden. Und A. Brie träumt bereits von einer neuen “kooperationsfähigen Linken in Deutschland ... mit völlig neuen Formen, aber unter Nutzung der vorhandenen Potenziale” - mit Gysi und Lafontaine an der Spitze.[2] Und der Brief von Gregor Gysi und André Brie an Oskar Lafontaine spricht eine beredte Sprache[3] In historischer Sicht soll so der Kurs des Modernen Sozialismus als Bourgeoisiesozialismus modifiziert fortgesetzt werden - entweder in einer neuen Linkspartei in Deutschland oder in zwei “veränderten Linksparteien”. Die Folgerung: Das Wahldesaster der PDS ist kein Produkt einer mißglückten Wahlkampagne, sondern das einer langfristigen Strategie mit bestimmter ideologisch-theoretischer Substanz, woraus sich der Komplex der “Fehler” ursächlich erklärt - abgesehen von den politisch-taktischen Dummheiten der Wahlkampfführung.

3. Die PDS wird unabhängig von den Ergebnissen der Bundestagswahl ihren generellen Kurs - wenn auch modifiziert - fortführen und zum Programm erheben. Sie wird so versuchen den Platz einzunehmen, den die SPD mit ihrer Entwicklung zu einer der Staatsparteien des kapitalistischen Systems endgültig geräumt hat. Die sozialintegrierende Funktion eines solchen Ziels ist die Erhaltung dieses Systems durch Beschneidung seiner extremen Auswüchse. Die marxistischen Linken in dieser Partei - Marxistisches Forum, Kommunistische Plattform u. a. - haben bislang kein wirkliches Paroli entfalten können; sie verzeichneten “kleinere Erfolge und große Niederlagen.”[4] Die ursächlichen Gründe hierfür: Das Marxistische Forum strebte eine Synthese von marxistischer Theoriebildung und praktischer Politik an. Ihr Schwachpunkt war, daß es sich vor allem auf “Abwehr” konzentrierte, die dann nachträglich selektiv theoretisch-politisch untersetzt wurde. Deshalb konnten weder eine eigene generelle theoretisch-programmatische Positionierung mit einem modernen marxistischen Sozialismusbild, noch ein radikaldemokratisches Konzept für Reformen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, die den historisch langfristigen Übergang zum Sozialismus im Blick haben und ihn einleiten, erarbeitet werden. Die Folge war Isolierung - gepaart mit kurzfristigem politischen Aktionismus und partikulären theoretischen Reflexionen. Die Kommunistische Plattform begleitete den Prozeß der Deformation und Degradation der PDS kritisch - vor allem taktisch-politisch - verbunden mit Illusionen und einer Unterschätzung des Modernen Sozialismus.[5] De facto wurde so die theoretische Auseinandersetzung mit dem Modernen Sozialisten verhindert und die Kommunistische Plattform den Reformsozialisten untergeordnet; sie wurde absorbiert, paralysiert. Insgesamt: die marxistische Linke in der PDS wurde so (nach und nach) in die Rolle gedrängt, als Feigenblatt der sozialreformistischen Parteiführung zu fungieren.

4. “Was tun?” Marxisten in der PDS in folgender Situation: “Hoffnungen auf eine marxistische Erneuerung der PDS sind allerdings nach allen historischen Erfahrungen und infolge des Kräfteverhältnisses innerhalb der PDS wenig realitätsnah.”[6] Ja! Ursächlich bedingt ist dies u. a. dadurch, daß die Parteibasis einen wirklich praktisch-politischen “Korrekturkampf” nicht mehr führen kann. Hierfür gibt es viele Gründe: die Altersstruktur, die soziale Zusammensetzung, das Fehlen jeglicher theoretischer Bildungsarbeit u. a. m. Deformierend wirkt sich vor allem der jahrelange ideologisch-geistige Druck auf die “Köpfe” aus, den “Richtungswechsel” zu akzeptieren. Er bleibt nicht ohne Wirkung. Damit einher geht eine verstärkte Manipulierung der Parteitage; Demokratie und Statut werden zunehmend ins Gegenteil verkehrt. Die programmatische Debatte ist für viele schwer durchschaubar, da die “Erzählerkunst” der Verfasser die totale Absage an den Marxschen Sozialismus verschleiert. Hieraus wäre wohl zu folgern, daß die Parteiführung “ihre” Basis in den “ihr” genehmen Griff hat. Aber in einer solchen Basis gibt es noch viele theoretisch gebildete und politisch aktive Marxisten. Und auch die Zahl der emotional mit dem wissenschaftlichen Sozialismus verbundenen Basismitglieder ist nicht gering. Und dies involviert die Frage: Wäre es nicht zumindest für einige Jahre möglich, zu einem “historischen Kompromiß” zu kommen?: die sozialreformistisch-bourgeoisiesozialistische “Linie hat politisch und personell die Führung, solange sie auf den Gebieten Frieden, Sozialpolitik und Antifaschismus/Antirassismus Brauchbares abliefert; die Linke bringt sich theoretisch auf den Stand unserer Zeit, organisiert und vernetzt sich und dringt in den öffentlichen Diskurs vor.”[7] Die marxistische Linke in der PDS würde dadurch sicherlich im Interesse der Rekonstruktion der deutschen marxistischen Linken insgesamt Zeit gewinnen. Allerdings ist eine solche Intention, obwohl wünschenswert, gleichfalls fraglich. Eine gewisse (minimale) Chance besteht darin, die noch in der PDS-Basis mit dem Sozialismus (theoretisch und emotional) verbundenen Kräfte für die Erhaltung des pluralistischen Status des noch geltenden PDS-Programms zu aktivieren - gleichfalls im Interesse dieser Rekonstruktion. Die im dialektischen Spannungsverhältnis “Basis/Parteiüberbau” vorhandenen “Hauptstreitpunkte” (Differenzen) lassen sich allerdings nicht mittels eines “gleichberechtigten Diskurses” mit anschließender Beschlußfassung bereinigen. Mit Bitten, Appellen und “Mittelgroßen Ratschlägen” kommt man hier nicht weiter. Eine gewisse Erfolgschance ist nur real, wenn sich die marxistische Linke in der PDS künftig entschieden organisatorisch und vor allem theoretisch-programmatisch zur Wehr setzt und politisch entschlossen handelt. Und dieses muß auch das Risiko der “Trennung” - offen ausgesprochen - involvieren, um den Ernst der Lage und die Notwendigkeit wenigstens einer “Korrektur” nachdrücklich zu demonstrieren.

5. Es gibt jedoch keinen Zweifel an der weiteren kapitalistischen Versumpfung der PDS - als Sozialdemokratie sui generis, d. h. bourgeoisiesozialistischer Prägung. Insofern ist der Rubikon für die marxistische Linke in der PDS bereits überschritten. Diesen Niedergang mag man als eine Niederlage der “Linken” bedauern. Eine (noch) zu erkämpfende Atempause der marxistischen Linken in der PDS aber mit der Illusion zu füllen, diese Partei zu retten, sie zurückzuerobern und mit ihr wirklich linke Politik zu machen, ist entweder naiv - oder zielt bewußt gewollt, aber auf jedem Fall auf die völlige Entmannung der wirklich Linken in der PDS. Die Frage ist vielmehr, wie man sich - früher oder später - in die Rekonstruktion der marxistischen Linken in unserem Land einbringt. Die Antworten stehen auf einem anderen Blatt. Niemand weiß, wie sich diese Rekonstruktion in praxi vollziehen wird. Generell gilt wohl, daß der Marxismus des 21. Jahrhunderts nur als Marxismus des subjektiven Geschichtsfaktors Erfolg haben kann. Und dies involviert: Ohne die Existenz und das theoretisch-ideologische und politische Wirken marxistischer Partein ist dies - und damit zugleich die Chance für wirklich sozialistische Bestrebungen - nicht zu haben. Deshalb darf eine solche Partei als Teil einer (neuen) sozialen Bewegung in theoretisch-ideologischer Hinsicht niemals pluralistisch sein und sich auf bloße Spontaneität verlassen. Sie muß als revolutionäre Vorhutpartei agieren, auf außerparlamentarische Bewegung setzen und ihr marxistisches Sozialismusbild in diese Bewegung einbringen. Abschließend: Es wird Zeit, mit der linken Tarnung der PDS durch die marxistische Linke Schluß zu machen; notwenig ist es, langfristig die Gestaltsformung einer massenwirksamen marxistischen Partei ins Visier zu nehmen.


[1]Auch im RotFuchs wird seit Jahr und Tag für eine solche Partei plädiert. So ist nach Klaus Steiniger im “imperialistischen Deutschland ... die Schaffung einer stärkeren, größeren und einheitlichen Partei aus Kommunisten und Sozialisten, die auf dem Boden des Marxismus-Leninismus steht, eine strategische Aufgabe, ein historischer Imperativ.” (März 2002, S. 5) Und Dieter Itzerott mahnte prononciert an, daß eine solche Partei “die besten Erfahrungen aus Ost und West in sich auf(nehmen)” muß. (Juli 2002, S. 7).
[2]Mitteldeutsche Zeitung vom 3.8.2002.
[3]Frankfurter Rundschau vom 4.9.2002
[4]U.-J. Heuer: Im Streit. Ein Jurist in zwei deutschen Staaten, Baden-Baden 2002, S. 456; vgl. S. 415 ff.
[5]So bereits durch Michael Benjamin in: Notizen im Vorfeld des 7. Parteitages, junge Welt vom 5.9. und 6.9.2002.
[6]F.-M. Balzer, E. Lieberam, H. Münchow, UZ vom 5.7.2002.
[7]C. Kneffel, in: Kalaschnikow, Ausgabe 15, Herbst 2000, S. 39.