Wahlnachlese Frühjahr 2006:

Regierende Minderheiten.

Die demokratische Diktatur der Bourgeoisie läßt die Hüllen fallen.

Die Sprecher der Parteien der großen Koalition in Berlin machen zufriedene Naslöcher. Die repräsentative Demokratie läuft wie geschmiert. Quertreibereien des Bundesrats auf Initiative der FDP sind vorerst nicht mehr zu befürchten. Die SPD wird in zwei Ländern zumindest dabei sein, wenn die maßgeblichen Posten verteilt werden, die CDU ebenso. Die Erleichterung über diesen Triumph der bürgerlich-demokratischen Ausgewogenheit lassen sich die großen Koalitionäre nicht durch Bedenkenträger vermiesen, die mit Blick auf die Wahlbeteiligungen Erklärungsbedarf anmelden. Merkel droht schon forsch und mit werbewirksam hochgestellten Mundwinkeln mit der nächsten Welle von "Reformen".

Die Nachdenklichen im bürgerlichen Lager haben dennoch recht. Wenn in Sachsen-Anhalt 55,6 % der Wähler den Wahlurnen fernbleiben, in Hessen bei den Kommunalwahlen 54,4 %, in Rheinland-Pfalz und selbst im wohlhabenden Baden-Württemberg die Wahlbeteiligung auf historische Niedrigststände sinkt, dann signalisiert das eine beginnende Legitimationskrise des politischen Herrschaftssystems der Bourgeoisie. Das bürgerlich-demokratische Herrschaftssystem fußt auf der Zustimmung der Beherrschten zum politischen und sozialen System der herrschenden Klasse. Wenn die parlamentarischen Mehrheiten nur noch kleine Minderheiten der bürgerlichen Gesellschaft repräsentieren, wenn die prokapitalistischen Parteien insgesamt aufhören, gesellschaftliche Mehrheiten zu repräsentieren, dann geraten die ideologischen Fundamente der bürgerlichen Klassenherrschaft ins Wanken.

Den stillen Wahlboykott der von der herrschenden Politik und ihren Parteien Frustrierten kann man nicht mehr auf schlechtes Wetter zurückführen. Das hat es früher auch schon gegeben. Es reicht auch nicht aus, die apathische Haltung gegenüber den Wahlen mit der Ideen- und Konzeptlosigkeit des herrschenden Parteienkartells zu erklären. Die meisten derjenigen, die Wahlabstinenz üben, haben von den Ideen dieses Parteienkartells längst die Nase gestrichen voll. Die Feststellung, daß die Parteienbindung abgenommen hat, erklärt nichts. Daß sich die gesellschaftlichen Milieus verändert haben, die dafür am häufigsten genannte Begründung, genausowenig. Auch die Parteien haben sich verändert. Doch gehen die Veränderungen der Parteien und ihrer jeweiligen Wählerklientel offenbar in verschiedene Richtungen.

Das Ergebnis der letzten Bundestagswahl illustrierte, daß es nicht mehr nur um periodische Wechsel zwischen personellen und politischen Scheinalternativen ging. Selbst die CDU mußte erschreckt erkennen, daß sie nicht ungestraft permanent und offen gegen die Interessen ihrer wenigstens zum Teil proletarischen Wählerbasis Politik machen kann. Ihr Bekenntnis zu brachialem Neoliberalismus war nicht mehrheitsfähig. Die SPD wiederum mußte sich, um ein totales Desaster abzuwenden, im Wahlkampf von ihrer eigenen neoliberalen Politik distanzieren. Die von beiden gebildete Koalition aber setzt die neoliberale Politik Schröders bruchlos fort. Sie ist so nach links und rechts nur eine Koalition politischer Betrüger. Ihre Politik wird das Heer der Nichtwähler vergrößern.

Die neuen Nichtwähler fühlen sich von den Parteien nicht mehr vertreten, die sie in der Vergangenheit gewählt haben. Die Nichtwähler sind viele und es werden immer mehr. Diese Nichtwähler haben ein soziologisches Profil: Es sind die Verlierer der immer hektischeren kapitalistischen Entwicklung. Es sind Arbeitslose, Rentner, Arbeiter, aber auch vom sozialen Abstieg bedrohte und betroffene Angehörige der (proletarischen) Mittelschichten.

Sie gehen nicht mehr wählen, weil sie das Gefühl haben, daß sie - egal, was sie wählen - auf jeden Fall eine Politik bekommen, die sie nicht wollen. Zum Unbehagen und zur mehr oder weniger stillen Wut gesellt sich das Gefühl der Ohnmacht. Die Opfer des scheinbar unaufhaltsamen und triumphierenden Kapitalismus sehen sich den tragenden Parteien dieses Systems ausgeliefert. Diese Parteien treten ihnen tatsächlich als politische Klasse gegenüber, als ein herrschender, übermächtiger Block. Obwohl dieser herrschende Block seine demokratischen Rituale in regelmäßigen Abständen zelebriert, wird er von immer größeren Teilen der beherrschten Klasse als soziale Diktatur erfahren. Und er ist tatsächlich der politische Ausdruck der Klassendiktatur.

In Lenins Terminologie: Er ist das politische Gesicht der demokratischen Diktatur der Bourgeoisie.

Die Nichtwähler sind in aller Regel die letzten, die die schleichende Veränderung der gesellschaftlichen Lage analytisch voll erfassen. In der Regel verkehrt sich der Frust über die eigene Lage in eine Mischung aus Wut, Apathie und in ein Desinteresse an Politik. Das Desinteresse wird von der Mehrheit allenfalls sporadisch durchbrochen, gestützt von aufflackerndenHoffnungen auf schnelle Veränderungen, manchmal durch Protestwahlverhalten oder sogar Revolten. Eine Minderheit ist aber auch ansprechbar für systematische politische Arbeit gegen das kapitalistische System. In der BRD ist diese Minderheit leider noch sehr klein. Aber sie hat ein beträchtliches Wachtumspotential. Merkel, Müntefering, Glos & Co. arbeiten daran, dieses Potential zu vergrößern. Unter der scheinbar stabilen Oberfläche der formierten Gesellschaft beginnt es zu gären.

Noch machen sich erst hier und da die ersten Anzeichen bemerkbar, daß in den Tiefen der Arbeiterklasse elementar die Bereitschaft wächst, die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage zu stellen. Aber diese Anzeichen sind inzwischen unverkennbar.

Wie positioniert sich die Linke zu dieser Entwicklung?

Garnicht. Gregor Gysi schwadroniert darüber, daß die Linkspartei/PDS in Sachsen-Anhalt ein ausgezeichnetes Ergebnis eingefahren hat, das zeigt, daß "ein klarer Kurs auch Unterstützung findet". Er übersieht, daß auch die L/PDS in Sachsen-Anhalt Stimmen verloren hat. Gegenüber der letzten Landtagswahl 2002 17.589 und gegenüber der letzten Bundestagswahl 143.472 Stimmen.

Was sagt uns dieses Ergebnis? Es belegt, daß die Linkspartei/PDS in Sachsen-Anhalt vom Großteil derjenigen, die an der gesellschaftlichen Lage leiden und an ihr verzweifeln, nicht als Alternative zum herrschenden Parteienblock gesehen wird, sondern als ihr (bestenfalls linkester) Bestandteil.

Daß die L/PDS ihre Verluste besser als andere begrenzen konnte, ändert nichts an der Diagnose. Die Funktionärsgarde der L/PDS präsentierte sich als Anwärterin für einen Platz an den Schalthebeln der Macht, als bessere Verwalterin der maroden kapitalistischen Realität im Armenhaus der Republik. Sie strebt nach Anerkennung als Dienstleister der herrschenden Klasse. Damit hat sie den Opfern der neoliberalen Politik weder die Hoffnung auf einen Weg aus der Misere noch irgendeine mobilisierende Perspektive zu bieten. Sie hat mit diesem schlafenden Riesen (diese Kennzeichnung trifft in der Ex-DDR zu) schlicht so gut wie nichts zu tun. Ihr Apparat hat in diese Richtung auch keinerlei Ambitionen und diese auch noch nie gehabt. Bewegung ist ihm ein Greuel.

Gerade in Sachsen-Anhalt, wo der Kapitalismus in Deutschland seine häßlichste Fratze zeigt, bedeutet die von der L/PDS betriebene Politik der Anbiederung an die herrschende Klasse zugleich deutlicher als anderswo den Verzicht auf gesellschaftliche Opposition gegen die kapitalistischen Verhältnisse. Es wird gar nicht erst versucht, die Opfer des kapitalistischen Politik zu gewinnen, sie zu mobilieren und zu organisieren.

Diese Politik impliziert den realen Verzicht auf die Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Die L/PDS hält damit Kurs auf die neoliberale Verwaltung der kapitalistischen Krise. Es kommt nicht von ungefähr, daß sich die L/PDS Sachsen-Anhalts zur Berliner Koalitionspolitik bekannt hat. Sie läßt Unklarheiten gar nicht erst aufkommen. Da aber selbst kleinste fortschrittliche Reformen ohne die Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nicht durchzusetzen sind, läuft diese Poltik wie in Berlin auf die politische Liquidierung der Linken sogar als reformistische Kraft hinaus. Gysis Bekenntnis zu diesem Kurs zeigt, wohin der Zug fahren soll.

Quo vadis WASG?

Die Wahlergebnisse der WASG in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Hessen werden schön geredet. Gysi nennt sie "beachtlich" und verschweigt geflissentlich, daß es auch dort nicht nur nicht gelang, das Wählerpotential auszuschöpfen, sondern daß die Ergebnisse weit hinter den eigenen Hoffungen zurückblieben (5%+X).

Gysi macht dafür die Querschüsse der Berliner WASG verantwortlich. Dabei verweist die Unfähigkeit, von den Opfern des neoliberalen Kapitalismus als Alternative zum herrschenden Block akzeptiert zu werden, weit eher darauf, daß es die Verbandelung mit der Linkspartei/PDS und der von ihr betriebenen Berliner Senatspolitik ist, die das Wachstum der WASG behindert. Das Verkaufsargument der "Einheit" und der "Schaffung einer starken Linken" kann auf die Dauer niemanden darüber hinwegtäuschen, daß die einheitliche Fassade der Linken reale gesellschaftliche Stärke nicht ersetzen kann. Die kommunalen Erfolge in Hessen sind kein Gegenargument, weil die Wahlbeteiligung dort extrem niedrig war und die West-PDS mit der Ost-PDS nicht gleichzusetzen ist.

Die Opfer des Neoliberalismus sind ungeduldig. Sie erwarten hörbare und sichtbare Opposition, die Organisierung von ernsthaftem Widerstand und den Bruch mit parlamentarischer Routine. Der von Leuten wie Dietmar Bartsch, Stefan Liebich, Lothar Bisky, Harald Wolf und Wulf Gallert ausgestrahlte staatstragende Bürokratencharme verbreitet nur den trüben Muff der Flure von JobCentern, Arbeits- und Sozialämtern.

Leute wie Klaus Ernst und Thomas Händel verstehen nicht, daß sie ihrem ersten Schritt weg von der Sozialdemokratie weitere Schritte folgen lassen müssen, wenn sie diese Wählergruppe ansprechen wollen. Diejenigen, die als von den Segnungen des Neoliberalismus Betroffene die Abkehr von der Sozialdemokratie vollziehen, gewinnt man nicht, in dem man Kreide frißt und sich als Neuausgabe der staatstragenden Sozialdemokratie präsentiert. Dies in einer Lage, in der sich die Einsicht verbreitet, daß ein radikaler Wandel nötig ist. Weil sie die politische Logik dieser Radikalisierung nicht begreifen, halten sie an den Rezepten für ruhige Zeiten fest: Bloß nicht die Wähler verschrecken! Bloß nicht zu radikal wirken!

Damit steckt die neokeynesianische Führungsmehrheit der WASG, der die Posten im Parlamentsbetrieb über alles gehen, in einer Zwickmühle: Setzt sie ihre Politik fort, ist sie auf Gedeih und Verderb der L/PDS ausgeliefert. Sie kann dann ihre Hoffnungen auf die Gewinnung von gediegenen Altsozialdemokraten begraben. Ein Linksschwenk hieße nach Lage der Dinge den Bruch mit der Linkspartei/PDS riskieren, die nicht im Traum daran denkt, sich auch nur einen Zentimeter nach links zu bewegen. Ein solcher Bruch würde Klaus Ernst und seinen Freunden eine Menge abverlangen: das Leben in Ungewißheit hinsichtlich der eigenen parlamentarischen Zukunfstaussichten, Konflikte in den Gewerkschaftsapparaten, die alles andere als kampfentschlossen sind und wider alle Analysen und Vernunft immer noch auf die freiwillige Rückkehr der herrschenden Klasse zum sozialen Ausgleich hoffen. Kuscht die WASG-Führung vor den Diktaten der L/PDS und geht sie gegen die WASG-Linke vor, verliert sie jede Manövriermasse und macht sich zur Geisel der Liebich & Co.

Der WASG-Linken ist zu wünschen, daß sie in dieser Lage am Kampf für eine sozialistische Perspektive festhält. Dabei sollten Marxisten sie unterstützen. Die WASG-Linke sollte sich erfolgreich gegen die Versuche behaupten, praktische linke Politik zugunsten der Einheit mit den Neoliberalen der L/PDS auszuschalten. Als erstes sollte sie die Versuche zur bürokratischen Gleichschaltung durch die Altsozialdemokraten zurückweisen, die immer nur dann von Disziplin faseln. wenn es ihnen in den Kram paßt, aber linke Mehrheitsentscheidungen niemals respektieren.

Dieter Elken, Strausberg 29.03.06