Wer gewann den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion?

von Peter Feist

In wenigen Tagen jährt sich der Tag der Befreiung, der 8. Mai, oder der Tag des Sieges, der 9.Mai. Und natürlich wird dieser Tag von Linken und Sozialisten als eine welthistorische Befreiungstat gewürdigt werden. Und wie jedes Jahr wird sich in diese berechtigte Feier ein Mißklang einschleichen, den wir den “Alt-Gläubigen” zu verdanken haben: sie werden J.W. Stalin als den Sieger über den Faschismus feiern.

Es ist bekanntlich ihre letzte “Rückzugslinie”: die Morde und Repressalien gegen die eigenen Genossen und das eigene Volk, die Vertreibung “missliebiger” Völkerschaften und die vielen anderen Verbrechen des “Großen Führers” zu leugnen oder reinzuwaschen, das tun nur noch die hartleibigsten unter ihnen. Für die meisten gilt allerdings immer noch, “Wo gehobelt wird, da fallen Späne”, und angesichts der welthistorischen Befreiungstat solle man nicht so zimperlich sein. So heißt es dann immer wieder: Er hat den Krieg gewonnen, keiner außer ihm hätte die SU retten können und im Vergleich dazu sind die anderen Sachen zwar nicht zu rechtfertigen, aber doch irgendwie aus der Zeit heraus zu verstehen usw. usw. usw.

So widerlich, weil inhuman, mich diese ständige Arie deucht, so muß man ihr doch auch sachlich in zweierlei Hinsicht immer wieder schärfstens entgegentreten.

1. Es widerspricht dem historischen Materialismus.

Ein welthistorisches Ereignis, wie den Sieg der Anti-Hitler-Koalition über den Faschismus aus dem “genialen Wirken” eines großen Mannes zu erklären, widerspricht dem historischen Materialismus. Die geschichtsbildende Kraft sind nach diesem Verständnis die Volksmassen mit ihrer das Gesellschaftsganze ständig reproduzierenden Kraft (die tagtäglich-ständig wirkt) und ihrer Fähigkeit zur entscheidenden geschichtsverändernden Tat (die nur in jenen Sekunden der Weltgeschichte aufblitzt, die wir als Revolutionen bezeichnen). Die “Führer” der Massen hingegen sind Gestalten, die diesem Willen des Volkes im gegebenen geschichtlichen Augenblick mehr oder weniger gut Ausdruck zu geben verstehen. Das heißt auch, sie sind vollständig abhängig vom historisch konkreten Niveau des Handelns dieser Volksmassen, sie sind nichts weiter als ihr Exponent, auch wenn sie den Verlauf bestimmter einzelner Ereignisse beeinflussen können. Anders gesagt bestimmen die Volksmassen den Inhalt der Bewegung, die Führer manchmal die Form dieser. Insofern hat in jedem Fall das sowjetische Volk über den Faschismus gesiegt (mit jener spezifischen Qualität gesellschaftlichen Handelns, für das sich in der SU der Begriff “Massenheroismus” eingebürgert hatte) und Stalin konnte dabei unterstützend oder hemmend, aber niemals allein und entscheidend, wirken.

2. Die Taten des “großen Generalissimus” sind eine Legende.

Die militärhistorischen Tatsachen sprechen eine deutliche Sprache: die vielen Fehler, verbrecherischen Entscheidungen und Dummheiten Stalins hätten im Herbst 1941/ Frühjahr 1942 beinahe zum vollständigen militärischen Zusammenbruch der Sowjetunion geführt und ihr Überleben hing mehrfach am seidenen Faden, den andere, nicht Stalin, wieder zu einem dicken Strick gedreht haben.

Wenn es überhaupt ein direktes persönliches Verdienst von ihm gibt, dann besteht es darin, daß er ab Sommer 1942 zunehmend seinen Marschällen die Führung der Kämpfe überlassen hat und sich immer weniger in die operativen Entscheidungen einmischte. Außerdem hat er unwidersprochen gewisse Verdienste bei der Umwandlung der Sowjetgesellschaft in ein “großes Militärlager” (Lenin), insbesondere bei der Evakuierung der Betriebe der Verteidigungsindustrie in den Osten, was die Voraussetzung für die gigantischen Produktionsleistungen der sowjetischen Werktätigen war, die überhaupt erst den Sieg über den Faschismus in materieller Hinsicht ermöglichten.

Natürlich kann hier nicht in aller Ausführlichkeit auf alle Details des militärischen Versagens von Stalin eingegangen werden, wie ich das andernorts schon wiederholt getan habe, aber auf einige wichtige Tatsachen will ich kurz hinweisen.

1. Frage: Wer enthauptete die Rote Armee?

Im Jahr 1937 wurde der begabteste Heerführer der Roten Armee, Marschall Tuchatschewski, verhaftet, kurz darauf mit anderen hingerichtet und im nachhinein von einem Tribunal wegen angeblichen Verrats an der Sowjetunion zu Gunsten Hitlerdeutschlands zum Tode verurteilt. Danach wurde in einer grausamen Säuberungswelle die große Mehrzahl der höheren und mittleren Kommandeurskader der Roten Armee ermordet oder in die Verbannung geschickt.

Im Einzelnen: In den Jahren 1937/38 wurden 20-35.000 Offiziere der Roten Armee liquidiert (ca 50% des Bestandes), besonders im höchsten und hohen Offizierskorps waren die größten Verluste zu beklagen: 3 von 5 Marschällen, 13 von 15 Armeeoberbefehlshabern, 57 von 85 Korpskommandeuren, 110 von 195 Divisionskommandeuren, 220 von 406 Brigadekommandeuren oder anders gesagt 90% aller Generale, 80% aller Obristen (so eine Quelle, selbst wenn die Angaben in den verschiedenen Quellen geringfügig differieren, ändert dies nichts an der Dimension, die man nur mit “Enthauptung” zutreffend beschreiben kann).

Das heißt: 4 Jahre vor dem Krieg stand die Rote Armee fast ohne akademisch gebildete und kriegserfahrene Kommandeure da, ein Sieg vor dem Krieg, den Stalin Hitler geschenkt hatte. Auch das wichtigste militärische Erbe Tuchatschewskis, die großen operativen Panzerverbände, die er und seine Mitstreiter geschaffen hatten und deren überragende Rolle in einem zukünftigen Krieg er lange vor den führenden Militärs Westeuropas erkannt hatte, wurden abgeschafft. Der Panzer wurde von Stalins neuen militärischen Helden Kulik und Woroschilow wieder zur Infanteriebegleitwaffe zurückgestuft. Als dieser Fehler nach den Erfahrungen der deutschen Blitzsiege in Westeuropa durch die Neuaufstellung von Panzerkorps korrigiert werden sollte, traf es die meisten Verbände bei Kriegsbeginn unvorbereitet: in der Aufstellung oder Umbewaffnung befindlich. Guderian hatte von der Roten Armee den Einsatz großer Panzerverbände in den Manövern der dreißiger Jahre gelernt und lehrte jetzt die Rote Armee mit gewaltigen Kesselschlachten das Fürchten.

2. Frage: Wer ist verantwortlich für die strategische und operative Überraschung der Roten Armee am 22. Juni 1941.

Daß die SU vom Kriegsbeginn überrascht wurde, ist hinlänglich bekannt. Aber, so hat man in den Nachkriegsjahren immer wieder gefragt, ist nicht jeder Kommandeur für die Gefechtsbereitschaft seiner Truppen verantwortlich, unabhängig davon, ob die oberste Führung auf Gefahren hinweist? Selbstverständlich!

Aber es kommt auch auf das Klima an, in dem die Kommandeure handeln. Das Klima der unmittelbaren Vorkriegszeit war noch immer von Mißtrauen und Angst geprägt, keiner hatte die Säuberungen von 1937/38 vergessen und das NKWD war auch in den Streitkräften allgegenwärtig und allmächtig.

Aber konkret: Natürlich gab es hohe und höchste Kommandeure in den Grenzmilitärbezirken, denen der deutsche Aufmarsch an der Grenze nicht verborgen blieb und die versuchten, ihre Truppen vor einem Überraschungsschlag zu schützen. Wenige Tage vor Kriegsbeginn erschien eine TASS-Erklärung, die aussagte, daß Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg zwischen der SU und Deutschland nur böswillige Verleumdungen seien, um die guten Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu trüben. Was soll der Kommandeur, der Politarbeiter in der Provinz denken, wenn seine Regierung öffentlich jede Kriegsgefahr verneint, wenn darüber hinaus strikte Befehle ergehen, die das Verlegen von Truppen aus den Kasernen ins Gelände verbieten, die verbieten, deutsche Verletzungen des sowjetischen Luftraums zu unterbinden, wenn die Politabteilungen die Aufgabe erhalten, gegen Provokateure vorzugehen, die in “Überschätzung des Gegners” vor einem bevorstehenden Angriff warnen?

Was sollen der Verteidigungsminister und der Chef des Generalstabs machen, wenn der “große Führer der Werktätigen” die vielfältigen Warnungen sowjetischer Agenten vor einem Kriegsbeginn (Richard Sorge ist nur das berühmteste Beispiel) einfach als Provokation von Churchill abtut?

So gelingt die strategische Überraschung.

Am Vorabend des deutschen Angriffs gibt es eine dramatische Szene im Kreml: Der Verteidigungsminister (Timoschenko) und der Chef des Generalstabs (Shukow) gehen zu Stalin mit einer Direktive unter dem Arm, die für die Grenzmilitärbezirke sofort die Herstellung der vollen Gefechtsbereitschaft (für den Laien: Alarmzustand) befehlen soll. Letzter Anlaß für den Besuch der beiden Generale war das Auftreten von Überläufern, die an der Grenze mitgeteilt hatten, daß und wann der Angriff bevorsteht. Stalin weigerte sich strikt, den Befehl zu geben, stattdessen wird eine allgemeine Warnung rausgeschickt, daß mit Grenzprovokationen zu rechnen sei, die auch noch so spät übermittelt wird, das sie die Stäbe zum Teil erst erreicht, als schon die ersten deutschen Bomben auf sowjetische Städte fallen.

Die Mehrzahl der grenznahen Truppen wird schlafend in den Kasernen angegriffen und bombardiert, in den westlichen Militärbezirken verliert die rote Luftflotte zwischen 60-80% ihrer Flugzeuge am ersten Tag, vor dem ersten Start …..

So gelingt auch die operative, zum Teil sogar die taktische Überraschung.

3. Frage: Warum gehen die deutschen Angriffe im Mittelabschnitt wie das heiße Messer durch die Butter?

Bekanntlich ist die deutsche Wehrmacht mit drei Heeresgruppen aufmarschiert: Nord mit Ziel Leningrad, Mitte mit Ziel Moskau, Süd mit Ziel Wolgamündung. Man musste kein Gedankenleser sein, um diese strategische Ausrichtung der Deutschen vorauszusehen. Darüber hinaus war die SU durch ihre Spionage auch über die Einzelheiten des Planes “Barbarossa” unterrichtet. Trotzdem gelingt den Deutschen im Mittelabschnitt in den gewaltigen Kesselschlachten z.B. bei Smolensk oder Wjasma-Brjansk ein eindrucksvoller Sieg nach dem anderen, während im Südabschnitt das Vormarschtempo deutlich geringer ausfällt.

Selbstverständlich hatte vor dem Krieg die Dislozierung der Streitkräfte (ihre Verteilung im Raum) eine zentrale Rolle im sowjetischen Generalstab gespielt. Obwohl man sich dort einig war, daß der Feind seine Hauptanstrengungen in der Richtung Minsk-Smolensk-Moskau (Mitte) unternehmen würde, widersprach Stalin und setzte durch, daß die Hauptmasse der stärksten sowjetischen Verbände im Südabschnitt zur Verteidigung des Donezk-Beckens und der Erdölfelder von Baku konzentriert wurden. Deshalb wäre Moskau fast erobert worden.

4. Frage: Wer ist verantwortlich für die Katastrophe von Kiew?

Die größte Kesselschlacht der ersten Periode des deutsch-russischen Krieges ist die von Kiew, etwas, das heute fast vergessen ist. Es gelang der Wehrmacht hier 5 sowjetische Armeen ganz oder teilweise einzukesseln und aufzureiben (zum Vergleich: in Stalingrad war eine Armee mit ca. 130.000 Mann im Kessel).

Eine gesamte sowjetische Front (Heeresgruppe) war geschlagen, mehr als 600.000 Mann gerieten in Gefangenschaft, mehr als 3700 Geschütze und 800 Panzer wurden erbeutet oder vernichtet, praktisch brach die gesamte Südfront der SU zusammen. Diese Katastrophe hatte sich über mehrere Wochen angekündigt, der Chef des Generalstabes Shukow verlangte mehrfach vom Oberbefehlshaber Stalin, Kiew aufzugeben, um die Südfront vor der Einkreisung zu bewahren - vergeblich. Als der Mahner lästig wurde, setzte Stalin mitten im Krieg seinen Generalstabschef ab, schickte ihn an einen zweitrangigen Nebenabschnitt der Westfront (Jelnabogen, wo Shukow sogleich den ersten, bescheidenen Sieg der Roten Armee erfocht), verlangte weiterhin starrsinnig die Verteidigung Kiews und ermöglichte so Guderian und anderen ihren größten Sieg im 2. Weltkrieg.

Man könnte das fortsetzen mit der Frage, wer am Scheitern der Winteroffensive 1942 schuld war und weiteren Fragen, es käme immer dasselbe raus: in allen Punkten ist Stalin allein (!!!) schuldig, denn er handelte selbstherrlich gegen den Rat der militärischen Profis, der Genossen an der unsichtbaren Front, die unter Einsatz ihres Lebens die richtigen Informationen beschafft hatten und vieler anderer.

Nein, nicht Stalin hat den Krieg gewonnen, sondern die Völker der Sowjetunion, trotz des kläglichen Versagens ihres Staatsoberhauptes in militärischen Fragen. Die mindestens 20 Millionen sowjetischer Opfer waren der Preis für den Sieg, ein Preis der ohne die Verbrechen und Fehler Stalins nicht so hoch gewesen wäre.

Ehre wem Ehre gebührt:

Ewiger Ruhm den Helden der

Sowjetarmee!

April 2006