Anfang Juni 2011
2005 wurde von über 170 Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft die Kampagne Boykott, Desinvestment und Sanktionen (BDS) ins Leben gerufen. Sie soll Druck auf Israel ausüben, um eine friedliche und gerechte Lösung im Verhältnis zu den Palästinensern herbei zu führen. Sie lehnt sich konzeptionell an die weltweite Kampagne gegen das Apartheid-Südafrika an, die dazu beigetragen hat, die Herrschaft einer weißen Minderheit über die schwarze Bevölkerungsmehrheit zu beenden. Die Abschlusskonferenz der sozialen Bewegungen beim Weltsozialforum im brasilianischen Belém 2009 stellte sich hinter die Kampagne und empfahl weltweite Aktionen. BDS genießt inzwischen die Unterstützung zahlreicher Organisationen, Menschenrechtsgruppen und Persönlichkeiten (wie Prof. Judith Butler, Prof. Noam Chomsky, Bischof Desmond Tutu, die globalisierungskritische Autorin Naomi Klein) darunter bedeutende kirchliche Verbände und Persönlichkeiten, Gewerkschaften (wie CUT Brasilien, COSATU, TUC), Politiker und politische Parteien, Kulturschaffende, Universitäten und Wissenschaftler. BDS wird von tausenden jüdischer FriedensaktivistInnen unterstützt und findet in Israel selbst eine Unterstützerbasis.
Die Kampagne richtet sich gegen alle Unternehmen und Institutionen, die von der israelischen Besatzung und Annexion profitieren, die an der Apartheidpolitik, an Mauer- und illegalem Siedlungsbau mitwirken oder davon profitieren - sei es ökonomisch, wissenschaftlich oder künstlerisch. Sie appelliert auch an jene Künstler oder Sportler, von ihrem Auftreten in Israel oder ihrem Mitwirken an Veranstaltungen, die staatlich gefördert sind, Abstand zu nehmen, da diese dazu dienen, die israelische Politik gegenüber den PalästinenserInnen als normal erscheinen zu lassen.
BDS zeigt Wirkung: Wichtige Investitionsvorhaben von Konzernen wie Veolia oder der DBAG in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten wurden eingestellt. Unternehmen wie Heidelberger Zement, der Baumaschinenhersteller Caterpillar, Motorola oder Soda Club stehen unter Druck. Die israelischen Agrarexporte (z.B. des Unternehmens Agrexco, das 60 — 70% der landwirtschaftlichen Produkte in israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten anbaut) haben spürbare Rückgänge zu verzeichnen. Die Rüstungs- und “Sicherheits”-Beziehungen mit Israel — darunter die Lieferung von deutschen U-Booten und Panzerkomponenten - werden immer wieder kritisch thematisiert. Viele international bekannte KünstlerInnen (jüngst Roger Waters) haben Auftritte in Israel abgesagt. Inzwischen droht die israelische Regierung Unterstützern von BDS mit harten Strafen und Einreiseverbot.
Der Parteivorstand der LINKEN lehnt eine Unterstützung von BDS ab. Gerade in Deutschland, so wird argumentiert, verbiete sich eine Unterstützung, weil sie die Naziparole “Deutsche kauft nicht bei Juden” aufgreife bzw. in Kauf nehme, dass man sie damit assoziiere. Einer ernsthaften und breiten Debatte darüber ist die Partei bisher allerdings ausgewichen. Teilen der Partei und einzelnen Mitgliedern, die sich für BDS ausgesprochen oder die Legitimität der Kampagne anerkannt haben, wurden schwer wiegende Vorwürfe gemacht. Aus der veröffentlichten Meinung wird die LINKE massiv angegriffen und ihr unterstellt, sie habe ein “Antisemitismusproblem”. In einer “Aktuellen Stunde” des Bundestags wurde gegen die Linksfraktion ein Scherbengericht veranstaltet. Diese Vorwürfe sind inhaltlich an keiner Stelle nachgewiesen, auch nicht von jenen, die sie besonders lautstark vorbringen wie gewisse Online-Plattformen (u.a. Honestly Concerned), politische Gegner und parteiinterne Gruppierungen wie BAK Shalom. Mit einem so schwerwiegenden Vorwurf wie dem des Antisemitismus darf unserer Auffassung nach nicht leichtfertig umgegangen werden. Deshalb fordern wir nachdrücklich, dass DIE LINKE endlich auf breiter Basis sachlich und demokratisch über unsere Verantwortung im sog. Nahost-Konflikt und selbstverständlich auch über den Antisemitismusvorwurf diskutiert. Dazu gehört eine Diskussion und Entscheidung über Formen und Instrumente der internationalen Solidarität wie BDS.
Die Ablehnung der BDS-Kampagne durch die LINKE hat kritische Fragen in der internationalen Solidaritätsbewegung aufgeworfen und ihrer Glaubwürdigkeit geschadet. Wir erwähnen beispielhaft den Offenen Brief von 717 jüdischen Friedensaktivistinnen aus 29 Ländern vom April 2009, die sich für Maßnahmen gegen Israel aussprechen, aber einräumen, dass man durchaus darüber diskutieren könne, welche Form der Boykott haben soll und gegen welche Objekte bzw. Interessengruppen er sich richten soll. (1) Wir erwähnen des Weiteren den Offenen Brief des Palästinensischen Nationalkomitees für BDS an die LINKE vom 30.03.2009, das seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck bringt, dass die LINKE BDS nicht unterstützen will. (2) Und schließlich möchten wir an den Offenen Brief vom 26.03.2010 von über 100 israelischen Linken an die LINKE erinnern, die ebenfalls eine klare Positionierung erwarten und eine Reihe von Maßnahmen vorschlagen.(3) Uns ist bekannt, dass der Parteivorstand auch aktuell mit vielen kritischen Stellungnahmen konfrontiert ist. DIE LINKE sollte die Kritik und die Forderungen von israelischer und palästinensischer Seite, von zahlreichen jüdischen FriedensaktivistInnen aus aller Welt sowie der Solidaritätsbewegung mit Palästina hierzulande ernst nehmen. Wir brauchen den ständigen Dialog und die intensive Zusammenarbeit zwischen allen, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts in Israel/Palästina einsetzen.
BDS wird von der israelischen Regierung und politischen Gegnern demagogisch mit “Deutsche kauft nicht bei Juden” gleichgesetzt. Wir weisen diesen Vorwurf entschieden zurück. Bei BDS geht es um die Durchsetzung von Menschen- und Völkerrecht, bei den Nazis ging es um Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung von Menschen und schließlich um Völkermord. BDS richtet sich nicht “gegen Juden”, sondern gegen staatliche und wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Akteure, die völkerrechtswidrig an der Unterdrückung mitwirken, davon profitieren oder ohne jede Kritik Israels Taten gutheißen. Dies betrifft internationale Konzerne und Universitäten genauso wie Unternehmen aus Israel. Hören Besatzung und Unterdrückung auf, gibt es keinen Grund mehr für Boykott und Sanktionen. Eine rassistische Ausgrenzung “von Juden” würde genau diese Bedingung nicht formulieren.
BDS appelliert nicht nationalistisch an “Deutsche”, sondern an alle Menschen, die sich den Sinn für Recht und Unrecht bewahrt haben.
BDS ist genauso wenig “israelfeindlich” wie die Sozialbewegungen oder die LINKE “deutschlandfeindlich oder “christenfeindlich” sind, wenn sie die antisoziale Politik der Regierung Merkel oder die Militarisierung ihrer Außenpolitik kritisieren und dagegen mobilisieren. BDS mit Nazi-Propaganda gleichzusetzen und zu diffamieren, ist buchstäblich die letzte Karte, die ausgespielt wird, weil man einer ehrlichen Debatte ausweichen will.
Gerade in Deutschland muss DIE LINKE dazu beitragen, die Verbrechen der Nazizeit endlich ernsthaft aufzuarbeiten. Verdrängte Schuld darf nicht länger dazu missbraucht werden, um Unterdrückungsverhältnisse in Nahost zu rechtfertigen und rechtsradikalen Regierungen in Israel diplomatische und politische Unterstützung zu geben. Es darf keine weiteren Waffen- und “Sicherheits”geschäfte zwischen der Bundesrepublik bzw. der EU und Israel mehr geben, weil sie schweren Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtswidriger Unterdrückung Vorschub leisten. Wir kritisieren die de facto-Mitgliedschaft Israels in der EU und die Aufnahme in die OECD, obwohl die Vertragsgrundlagen dieser Zusammenschlüsse die Einhaltung von Völker- und Menschenrecht voraussetzen.
Gerade in Deutschland dürfen Antisemitismus-Vorwürfe nicht inflationär und missbräuchlich eingesetzt werden, gerade in Deutschland müssen Antisemitismus und jede Form von Rassismus ernsthaft identifiziert und bekämpft werden. Die Gleichsetzung von BDS mit Nazi-Propaganda soll ein zivilgesellschaftliches Instrument der unterdrückten Palästinenser diffamieren. Für uns ist die Kampagne legitim und ein wichtiges, friedliches Mittel für Millionen Menschen, solidarisch etwas zu tun und nicht nur hilflos an Regierungen zu appellieren, die dann doch weiter machen wollen wie bisher.
Aber gerade weil die unredliche Gleichsetzung von BDS mit Nazipropaganda in Deutschland soviel Verwirrung stiftet und ständige Defensivkämpfe erfordert, brauchen wir eine besondere Ausprägung der Kampagne. Das wissen wir aus vielen Gesprächen mit Israelis, Palästinensern und internationalen Unterstützergruppen, die sich für BDS einsetzen und gerade von der LINKEN Solidarität erwarten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil ein Gesetz in Israel BDS-Unterstützern inzwischen mit schweren Strafen droht, sie für Schäden haftbar machen will und internationale Unterstützer mit Einreiseverbot nach Israel bedroht.
Ergänzend müssen wir uns nachdrücklich gegen jeden Versuch zur Wehr setzen, kritische Nahost-Veranstaltungen oder Ausstellungen wie über die palästinensische Katastrophe von 1948 (die Nakba) in öffentlichen Räumen zu unterbinden oder Zensurforderungen nachzukommen. Und schließlich geht es überhaupt nicht darum, keine Beziehungen zu Israel zu unterhalten. Wir wollen ausgeprägte Beziehungen zu politischen Freunden, linken Organisationen und Menschenrechtsgruppen in Israel, genauso wie nach Palästina. Gerade die politische Opposition in Israel erwartet noch viel engere Beziehungen mit uns und Friedensaktivisten aus aller Welt, weil sie einen schweren Stand, aber die Hoffnung nicht verloren hat. Die weitreichenden Veränderungen in der arabischen Welt und das Kairoer Versöhnungsabkommen der palästinensischen Parteien zeigen: Die Bedingungen für einen gerechten Frieden, der Palästinensern wie Israelis Frieden und Sicherheit, Versöhnung und menschenwürdige Verhältnisse bringt, reifen heran. Aber ohne umfassende gemeinsame politische Initiativen und Aktivitäten der Solidaritätsbewegung und der breiten politischen Linken drohen sie verspielt zu werden um den Preis von weiteren Katastrophen.
Mit freundlichen Grüssen
(Angaben zur Funktion dienen nur der persönlichen Identifikation der/des Unterzeichnenden)
Abu Khalil, Nicola (Vorstandsmitglied im Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein)
Afifi, Ahmed (Zürich)
Ahrendt, Erhard (Das Palästina Portal, Dortmund)
Althaler, Birgit (Übersetzerin, Basel)
Asfour, Ruth (Offenbach)
Behr-Taubert, Ursula (Berlin)
Behr, Wolfgang (Herdwangen-Schönach)
Belz, Winfried
Bieri Susanne (CH)
Binz, Anita (Erlinsbach, CH)
Born, Helmut (Landesvorstandsmitglied DIE LINKE NRW)
Bosshart, Ruedi (Zürich)
Bräutigam, Volker (Autor)
Bruns, Michael (KV DIE LINKE, Lippstadt)
Bulling, Andreas, Dr. (Biologe, Grenzach-Wyhlen)
Bulling, Hans (Palästina-Komitee Stuttgart)
Butterweck, Annelise, Dr. (Mitglied Kölner “Frauen in Schwarz”)
Collectif Judéo-Arabe et Citoyen pour la Paix (Strasbourg)
Dalen, v., Alfred (KV DIE LINKE Kamp-Lintfort)
Dano, Ika, Alternative Information Center, Palästina
Davidsson, Elias (Musikpädagoge, Bonn)
Deeg, Sophia (Journalistin/Autorin, Berlin)
Dierkes, Hermann (Vorsitzender der Ratsfraktion DIE LINKE Duisburg)
Diethelm, Urs (Bauführer, Basel)
Dietrich, Michel, G. (Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Palästina, Rueschlikon, CH)
Eckert, Irene
El-Hakim, Yasmin
El Shorafa, Nabegh (Berlin)
Emawi, Ashraf
Falkenstörfer, Helmut (Pastor i.R. Schorndorf)
Falkenstörfer, Ilse (Schorndorf)
Feldmann, Detlef, Dr. (KV Die LINKE Duisburg)
Fischer, Franz (Sekretär der Partei der Arbeit, Basel)
Friedland, Gabriele (Betriebsärztin, Hamburg)
Friedrich, Andreas
Fruchtman, Ruth (Berlin)
Ganzfried, Ron (Gesellschaft Schweiz-Palästina)
Gauer, Wolfgang (Journalist)
Geiler, Enrico (Camorino, CH)
Gueye, Birane (Afrika-Verein Duisburg)
Häberle, Renate (DIE LINKE Stuttgart)
Hamad, Khaled, Dr. med. (Vorsitzender der Deutsch-Palästinensischen Medizinischen Gesellschaft)
Hecht-Galinski, Evelyn
Helck, Tamara (Düsseldorf)
Hohnerlein, Thomas (Berlin)
Institut für Palästinakunde e.V. Bonn
Jochheim, Matthias (IPPNW)
Jüttner, Heiner, Dr. (Aachen)
Kamel, Isam (Berlin)
Karas, Claudia (Frankfurt)
Kaya, Cigdem (Soli-Gruppe Handala, Marburg)
Kellner, Manuel, Dr. (DIE LINKE Köln/Mitglied des Vorstands der Jakob-Moneta-Stiftung)
Khatab, Jules (Online-Zeitung DIE FREIHEITSLIEBE, Köln)
Klein, Angela (Redakteurin der Sozialistischen Zeitung/Mitglied des Vorstands der Jakob-Moneta-Stiftung)
Klepzig, Annette (Wilhelmsfeld)
Kötzel, Waltraud (Herdwangen-Schönach)
Kouchakji, George A., Ph.D. (CH)
Kroymann, Hannelore (Düsseldorf, Rachel-Corrie-Stiftung)
Kroymann, Henning (Düsseldorf, Rachel-Corrie-Stiftung)
Kruse, Rainer
Küng-Schaub, Agnes (Basel)
Kuhlmann, Wolfgang (Friedenstreiberagentur)
Mehren, Margarethe (OstR i.R, Franziskanerin)
Messerschmid, Clemens
Meurer, Elisabeth
Mughrabi, Hael, Dr. Prof. i.R. (Nürnberg)
Nahostkomitee in der Berliner Friedenskoordination
Nehls, Gertrud (Hagen)
Neven-du Mont, Christian (Freiburg)
Nicolidi, Anna-Lise (Präsidentin der Basler Frauenvereinigung für Frieden und Fortschritt (BFFF)
Palästina-Solidarität Region Basel
Pumphrey, Doris (ipk Berlin)
Pumphrey, George (ipk Berlin)
Rajab, Attija (Palästina-Komitee Stuttgart)
Rajab, Verena (Palästina-Komitee Stuttgart)
Rath, Günter (KV DIE LINKE Pforzheim Enzkreis/Palästina-Komitee Stuttgart/AK Gerechter Frieden in Nahost)
Rochlitzer, Barbara (Kreisvorstandsmitglied DIE LINKE, Stuttgart)
Rohlfs, Ellen (Publizistin)
Rutledge, Edwin (Palästina-Komitee München)
Ruf, Werner, Prof. em. (Edermünde)
Rumpf, Ingrid
Schaper, Helmut (Mitglied des Rates der Stadt Mönchengladbach)
Schenk, Günter (Strasbourg)
Schmidt, Johannes (Kreisvorstandsmitglied DIE LINKE Stuttgart)
Schmidt, Karl (SPD-Mitglied, Pfr. i.R., Stuttgart)
Schneider, Gerhard (Sprecher des OV DIE LINKE Ellwangen)
Thomas-Ohst, Veronika (stv. Vorsitzender Aachener Friedenspreis e.V.)
Traub, Karl (Nürtingen)
Von Ruepprecht-Bulling, Waltraud (Palästina-Komitee Stuttgart)
Vonwiller, Laurent (Schweiz)
Waltz, Viktoria, Dr.
Weil-Goldstein, Jochi (Zürich, Initiator des Appells besorgter JüdInnen an die israelische Regierung; Unterstützer des Boykotts von Produkten aus isr. Siedlungen i.d. Westbank u. aus Jerusalem)
Weyers, Charlotte (Kreisverband DIE LINKE Duisburg)
Wik, Theo (St. Johann)
Winter, Bianca (DIE LINKE Frankfurt/Mitglied des Vorstands der Jakob-Moneta-Stiftung)
Wollner, Valérie (KV DIE LINKE München)
Yousef, Ribhi (Deutsch-Palästinensische Gesellschaft Duisburg)