Interview mit der Eisenbahnergewerkschaft

Doro-Chiba /Japan

v.l.n.r. Hiroyuki YAMAMOTO und Yasuhiro TANAKA

Von besonderer Bedeutung im Rahmen einer Reise von B.I. Bronsteyn u.a. nach Japan und Südkorea war das Interview mit der kämpferischen Eisenbahnergewerkschaft Doro-Chiba mit Sitz in der japanischen Großstadt Chiba (im Ballungsraum von Tokio). Doro-Chiba spielt in der japanischen Gewerkschaftsbewegung eine einzigartige und sehr herausragende Rolle.

Das Interview wurde mit Yasuhiro TANAKA (Vorsitzender von Doro-Chiba) und Hiroyuki YAMAMOTO (Geschäftsführer des Internationalen Solidaritätskomitees von Doro-Chiba) geführt.

Für die in dem Interview genannten japanischen Begriffe existiert am Ende des Artikels ein Glossar.

Wir Besucher aus Deutschland haben erst durch den Besuch hier in Japan nähere Hintergründe der Entwicklung der Gewerkschaft Doro-Chiba erfahren. Können Sie kurz die Gründe dafür nennen, warum es Doro-Chiba gibt?

Doro-Chiba (DC, National Railway Motive Power Union of Chiba) war ursprünglich ein Regionalverband im Bezirk Chiba von Doro (National Railway Motive Power Union), einer Eisenbahnergewerkschaft, die heute nicht mehr existiert. 1979 wurde Doro-Chiba unabhängig von Doro.

Hintergrund der Abspaltung war eine rapide Rechtswende der Arbeiterbewegung damals seit der Weltwirtschaftskrise von 1974/75. Damals war Doro die miltanteste Gewerkschaft der japanischen Arbeiterbewegung. Die Führung aber degenerierte rasch nach 1974/75 und unterwarf sich immer mehr dem Willen der herrschenden Klasse. Zwei Probleme gab es damals:

  1. Die Zentrale von Doro sagte im Gewekschaftskongress von 1978: „Wir machen keine Streiks mehr wegen der Krise“. Sie erklärte und garantierte die „Stabilität des Gütertransportes“.
  2. Der Sanrizuka-Kampf (gegen den Großflughafen Narita) spielte eine große Rolle.

1966 begann dieser Kampf. 1978 war die Teileröffnung geplant von der Regierung. Für die Flughafenbetreibergesellschaft bestand dabei das Problem, dass es keine Pipeline gab, die Treibstoff (vor allem Flugbenzin) nach Narita transportierte. Deswegen sollte das Flugbenzin durch die JNR (damalige japanische Staatsbahn) nach Narita gefahren werden. Alle Lokführer des zentralen Eisenbahnknotenpunktes Chiba waren DC-Mitglieder. DC solidarisierte sich mit den kämpfenden Bauern von Sanrizuka durch Treibstoffboykott seit 1977, d.h. Tankgüterzüge zum Flughafen wurden oft nicht transportiert. Das dauerte wellenweise bis 1981.

Es gab mehrmals Streiks deswegen. Die Solidaritätsbewegung hatte einen großen Einfluss in Großtokio. Sehr oft wurde auch „Dienst nach Vorschrift“ praktiziert. Der neu eröffnete Flughafen war deshalb mit Treibstoffmangel konfrontiert. Verschiedene DC-Führungsmitglieder wurden wegen dieses Kampfes aus der JNR gefeuert.

In dieser Situation verhielt sich die Zentrale von Doro so:

Sie stellten sich gegen die Streiks, gegen die Bewegung von Sanrizuka und forderten vom Regionalverband Chiba die Distanzierung. Es wurde die Maßregelung der Mitglieder von DC angedroht. Das war 1978. Doro-Chiba verweigerte sich gegenüber dieser Erpressung. Auf dem Gewerkschaftskongreß von Doro im Jahre 1978 kam es zu harten Diskussionen, sogar zu Gewalttätigkeiten. Die Delegierte von Doro-Chiba wurden systematisch geschlagen und terrorisiert. Aber sie bestanden auf die klassenkaempferische Linie. Sie blieben prinzipientreu. Und 40% aller nationalen Delegierten waren für Doro-Chiba und ihren Treibstoffstreik.

Am 4. März 1979 wurde deshalb die DC-Führung von der Doro-zentrale gemassregelt und ausgeschlossen, andere wurden suspendiert. Das Hauptquartier von Doro wurde damals von der Kakumaru-Gruppe geleitet bzw. stark beeinflusst. Diese war gegen die Bewegung gegen den Großflughafen Narita und gegen den Treibstoff-Streik. (Anmerkung der Redaktion: Kakemaru war eine ursprünglich aus dem linksextremen Spektrum stammende Gruppe, die sich eng mit der Gewerkschaftsbürokratie von Doro verband). So wurde DC unabhängig von Doro.

Der Gründungskongress von DC fand im März 1979 statt. Anschließend kam es zu fast täglichen gewalttätigen Überfällen durch Rollkommandos der Kakumaru-Gruppe (jeweils mit bis zu 200 Schlägern) auf die Einrichtungen und Arbeitsplätze der DC in Chiba. Die Gesamtzahl der Überfall-Personen belief sich auf 40000. (Anmerkung der Redaktion: Rückfragen ergaben, dass die Zahl die summierte Gesamtanzahl der an diesen Überfällen beteiligten angreifenden Personen bezeichnet; natürlich hatte Kakemaru niemals 40000 Mitglieder).

Das war eine schwierige Zeit für uns. Doch die gewöhnlichen DC-Mitglieder wurden kampfstark und erfahren dadurch. So konnte Doro-Chiba auch bei den späteren Streiks gegen die Privatisierung der JNR (1986/87) eine große Kampfstärke entwickeln. Die Doro-Zentrale konnte Doro-Chiba nicht zerschlagen.

Gewerkschaftshaus von Doro-Chiba in Chiba

In welcher Beziehung steht Doro-Chiba zu anderen Gewerkschaftsverbänden in Japan? Welche gibt es überhaupt?

1989 wurde Dachorganisation Sohyo (General Federation of Trade Unions of Japan) aufgelöst, diese war noch militant gewesen.

(Hinweis der Redaktion: aus Sohyo sind dann zwei Dachverbände hervorgegangen; einmal der DPJ-nahe Rengo -Japanese Trade Union Confederation- und zum andern der KPJ-nahe Zenroren – National Confederation of Trade Unions).

Seit 1989 existiert der Dachverband Rengo(entspricht in etwa unserem DGB) unter starkem Einfuss der DPJ. DC war ein Sohyo-Mitglied gewesen bis 1989 (also bis zur Auflösung). Seit 1990 ist DC ganz unabhängig, in keinem Gewerkschaftsdachverband Mitglied, auch nicht in Rengo. Rengo will nicht DC drin haben, DC will nicht in Rengo sein. So hat DC beschlossen, ein neues Netzwerk der militanten Gewerkschaften und Gewerkschaftsaktivisten (NCCLU,National Coordinating Center of Labour Unions) zu bilden. Das ist seither der Boden der weiteren Entwicklung. Am 1.11.2009 waren viele Basisarbeiter von Rengo auf der Veranstaltung anwesend. Unter den Basismitgliedern von Rengo gärt es. DC hat derzeit 400 Mitglieder, aber unser Einfluss geht weit darüber hinaus. Mit „Danketsu“ kann man viel anfangen.

Gibt es Kontakte von Doro - Chiba zu Kollegen in Deutschland, die entweder in der GDL oder in Transnet (DGB) organisiert sind?

Bisher nicht. Aber solche Kontakte waeren natürlich wunderbar.

Was sind die Hintergründe für die Losung "Wiedereinstellung der 1047"?

1987 erfolgte die Aufteilung und Privatisierung der JNR (japanische Staatsbahn). Diese Aufteilung und Privatisierung war der grösste Angriff der herrschenden Klasse gegen die japanische Arbeiterklasse. Das war der entscheidende Punkt. Die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung der Staatsbahn war das Rückgrat der japanischen Arbeiterbewegung. Die Zerschlagung der JNR war vergleichbar mit dem Angriff der Thatcher-Regierung gegen Bergarbeiter und der Reagan-Administration gegen PATCO. Es besteht ein enger Zusammenhang mit Neoliberalismus. Alles hat sich seitdem rasch verändert.

1981 wurde eine Regierungskomission eingerichtet für die Teilung und Privatisierung der JNR. 1987 kam dann die Realisierung dieser Pläne. Während dieser 6 Jahre fanden 200000 Wechsel von Arbeitsplätzen statt (sogenannter „freiwilliger Berufswechsel“).

In der Endphase sollte der Widerstand gebrochen werden, indem ca.8000 Bahnarbeiter mit sinnlosen Arbeiten in sogenannten "Konzentrationslagern" zermürbt werden sollten. Dabei handelte es sich um Fantasieabteilungen der Bahn, in die besonders widerständige Gewerkschaftler gesteckt wurden. Trotz dieser Schikanen wollten 1047 Eisenbahner weiterkämpfen. Diese wurden dann tatsächlich entlassen, und zwar 1990 endgültig. Seitdem kämpfen die „1047“ und wir an ihrer Seite für die Wiedereinstellung.

Der Kernpunkt der Frage der 1047 Bahnarbeiter ist: die Regierung wollte die Arbeiterbewegung vernichten. Das gelang der herrrschenden Klasse aber nicht. Der Kampf geht nämlich weiter. Aber die Arbeiterbewegung wurde zwar insgesamt zum Rückzug gezwungen; 1991 verschwand auch noch die die Sozialistische Partei Japans / SPJ, früher die größte Oppositionspartei gegen die LDP. Wir haben aber mit den Aktionen gegen die JNR-Privatisierung das Bollwerk der japanischen Arbeiterbewegung gegen die neoliberale Offensive–zur weiteren Entwicklung der japanischen Arbeiterbewegung–verteidigt. Deshalb ist „1047“ keine Frage der Vergangenheit, sondern der Gegenwart und der Zukunft. Wir werden nie aufhören, für die Wiedereinstellung der „1047“ zu kämpfen.

Im DC-Gewerkschaftshaus

Ist Doro-Chiba eine Gewerkschaft, die auf den Bezirk von Chiba begrenzt ist? Ist sie auch auf Lokomotivführer begrenzt?

DC ist auf Bezirk Chiba begrenzt. Aber es gibt auch Doro-Mito (National Railway Motive Power Union of Mito) mit ca 40 Mitglieder, das ist eine kleine Eisenbahnergewerkschaft, unsere Schwesterorganisation. (Anmerkung der Redaktion: Chiba ist eine Präfektur. Ibaraki ist eine benachbarte Präfektur. Die Hauptstadt von Ibaraki ist Mito.) Da gibt es auch noch in Takasaki eine sehr kleine Eisenbahnergewerkschaft. In Hiroshima gibt es auch eine ganz kleine Schwesterorganisation. Manchmal kommt es auch vor, durch Versetzungen, dass DC-Mitglieder woanders als in Chiba arbeiten, etwa als Verkäufer eines Bahnsteig-Milchladens.

Übrigens: DC ist keine Berufsgruppengewerkschaft , d.h. keine reine Lokführergewerkschaft. Anders als etwa bei der GDL gab es in Doro-Chiba von Anfang an auch die Arbeiter, die technische Dienst leisten oder Reparaturen ausführen. Es gibt deshalb keine Berufsgruppenunterschiede innerhalb von DC.

Welche Empfehlung gibt Doro-Chiba kämpferischen Eisenbahnern in anderen Bezirken?

Es gibt keine Patentrezepte. Wenn ein Anfänger beginnt, irgendwo in JR zu arbeiten, muss er zwingend Mitglied von JR Soren (JRU, Japan Confederation of Railway workers’ Unions, Nachfolgeorganisation von Doro) werden. JR Soren und das Kapital arbeiten aber Hand in Hand. Wenn ein Arbeiter irgendwo in Japan gleich Doro-Chiba beitritt, dann muss er mit schweren Nachteilen rechnen. Aber es gibt aber viele Möglichkeiten, mit uns zusammenzuarbeiten. Der Gewerkschaftsdachverband Rengo hat 6 bis 7 Millionen Mitglieder, aber diese sind faktisch unorganisiert. In allen Branchen ist das so.

Die Teilnahme etwa an einer Veranstaltung wie der vom 1.11.2009 in Tokio bringt also den mutigen Arbeitern, die dort erscheinen, Nachteile. Trotzdem waren sehr viele einfache Rengo-Mitglieder dort gewesen. Wenn DC einmal stärker sein wird, dann kann ich bessere Ratschläge geben.

In Deutschland wird das "Prinzip" der Einheitsgewerkschaft aus alter Tradition hochgehalten. Die Alternative zur Einheitsgewerkschaft scheint die "Richtungsgewerkschaft" zu sein, die seit der RGO-Politik der KPD in der Weimarer Republik sehr kritisch betrachtet wird. Wir haben verstanden, dass Doro-Chiba keine Richtungsgewerkschaft ist, sondern eine kämpferische Gewerkschaft. Andererseits ist die Einheit der organisierten Arbeiterbewegung gegenüber der Macht der kapitalistischen Konzerne eine Notwendigkeit. Welche Strategie stellt sich Doro-Chiba bei der Herstellung dieser Einheit vor?

Das ist eine schwierige Frage. Es gibt sicherlich große Unterschiede zwischen Deutschland und Japan, was die Gewerkschaften und ihre Geschichte anbetrifft.

Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg kam es zum Arbeiteraufstand gegen die japanische herrschende Klasse; es gab viele harte Kämpfe. Im Februar 1947 fand ein gescheiterter Generalstreik statt. Das Scheitern war vor allem auf das Versagen der Führung der Gewerkschaften zurückzuführen. Die damalige Gewerkschaftsführung bestand aus zwei Flügeln:

  1. traditionell rechte Gewerkschaftsbürokraten
  2. die Kommunistische Partei Japans

Die Arbeiter standen aber trotz der Niederlage 1947 wellenmäßig immer wieder auf. Dabei wurde der KPJ-orientierte Flügel immer stärker. Die KPJ hatte einen grossen Einfluss auf die Industriegewerkschaft Sanbetsu Kaigi (in etwa der amerikanischen CIO vergleichbar). Die japanischen Arbeiter waren in jener Zeit konfrontiert mit zwei Tragödien:

  1. die KPJ behauptete, die US-Besatzungs-Armee sei die Befreiungsarmee.
  2. der Koreakrieg begann 5 Jahre nach dem Ende des 2.Weltkrieges (1950).

Als Vorbereitung für den Koreakrieg wurden damals zwei Gewerkschaftsdachverbände aufgelöst, einer davon war Santbetsu Kaigi, der andere war Sodomei (Juli 1950). Stattdessen wurde der rechtere Verband Sohyo gebildet, welcher sich aber auch schnell nach links entwickelte. Die Arbeiter waren damals kampfbereit und willens, Druck auf die Regierung auszuüben. Sohyo bestand im wesentlichen aus Betriebsgewerkschaften. Die Gewerkschaftsführungen aber entsprachen den Wünschen des Kapitals, vor allem die firmenbezogenen Gewerkschaften. (Eine firmenbezogene Gewerkschaft ist z.B. die Gewerkschaft der Toyota-Beschäftigen. Man kann auch von Betriebsgewerkschaften sprechen).

Das war und ist eine Schwäche der japanischen Arbeiterbewegung. Betriebsgewerkschaften sind sehr von der Entwicklung „ihrer Kapitalisten“ abhängig. Jedenfalls bekommen durch diese Organisationsform die Arbeiter leicht das Gefühl, von „ihren Kapitalisten“ abhängig zu sein. Das Schicksal des Kapitals scheint das Schicksal der Gewerkschaften zu sein. So jedenfalls das Bewusstsein der Arbeiter in dieser Form der Gewerkschaften. Diese Betriebsgewerkschaften waren traditionell eine Schwäche der japanischen Arbeiterbewegung. Wie kann man also eine klassenbewusste Gewerkschaftsbewegung aufbauen? Das war und ist unsere Aufgabe.

Daher waren die Staatsangestellten immer das Rückgrat der japanischen Arbeiterbewegung gewesen. 1987 kam es zur Teilung und gleichzeitigen Privatisierung der Japanischen Staatsbahn (JNR). Die damals größte und von SPJ/KPJ geleitete Eisenbahnergewerkschaft, Kokuro (National Railway Workers’Union), sagte damals „Nein“ zu Teilung und Privatisierung , machte aber nichts (ergriff keine Kampfmassnahmen), konnte nicht kämpfen. Doro, die größte Lokomotivfuehrergewerkschaft, die von der Kakumaru-Gruppe geleitet wurde, hat sogar zusammen mit der damaligen LDP-Regierung unter Ministerpraesident Nakasone diese Privatisierung von JNR vorangetrieben. Angesichts dieser Situation musste DC überlegen, was zu tun sei.

DC kämpfte damals sehr militant gegen die Privatisierung, aber nur auf regionaler Ebene (Eisenbahnknotenpunkt Chiba). Nun begriffen wir, dass wir nationalweit denken müssen. Auch begriffen wir, dass wir die Grenzen der Branchen- und Betriebsgewerkschaften überwinden müssen.

Die Führungen der grossen Gewerkschaftsdachverbände aber gehen alle in die rechte Richtung.

So entwickelten wir das Konzept der Neuschaffung der Arbeiterbewegung durch das Netzwerk NCCLU (National Coordinating Center of Labor Unions), ein Netzwerk klassenkämpferischer Gewerkschaftler und Gewerkschaftsgruppen. Seit 23 Jahren besuchen DC-Mitglieder in ganz Japan andere Basisgewerkschaftler. Durch ein Funding-System (Versandhandel von verschiedenen Artikeln) können Arbeiterinnen und Arbeiter in ganz Japan DC unterstützen, ohne offiziell Mitglied zu sein. Es gibt ein breites Netzwerk, das uns unterstützt.

Es gibt derzeit zwei Gewerkschaftsdachverbände:

  • Rengo (unter Einfluss der DPJ)
  • Zenroren (unter Einfluss der KPJ)

DC will diese beiden Organisationen durch Basisrevolte verändern. Dies erfordert aber flexible Taktiken, um die Gewerkschaftler an der Basis zu ermutigen, ihre Gewerkschaften zurückzuerobern.

Das ist etwas völlig anderes als eine RGO-Politik. Wir sind gegen eine RGO-Politik. Dies betrifft auch das Verhältnis von Partei und Klasse. Daß eine Partei die Arbeiter und ihre Gewerkschaften wie etwa eine RGO benutzt, ist historisch eine stalinistische Konzeption. Aber das ist nicht nur auf den Stalinismus begrenzt, auch unter revolutionären Linken gab es solche Tendenzen, Gewerkschaften zu instrumentalisieren. Partei und Gewerkschaften sind nicht wie Eltern und Kinder, sagen wir, sondern wie Brüder und Schwestern. Eine Gewerkschaft hat viel Macht und viele Möglichkeiten, etwas zu tun. Die Arbeiter müssen sich darüber bewusst werden. Die Gewerkschaften sind die Zukunft. Militante Gewerkschaftsführer müssen diese Einsicht haben.

Doro-Chiba ist numerisch beispielsweise klein, hat rund 400 Mitglieder, aber wir waren Mitveranstalter des Internationalen Arbeiterversammlung am 1.11.2009 in Tokio, zu der mehr als 5000 Menschen kamen. Das ist auch ein Beweis der Möglichkeiten.

Aus all diesen Gründen hat Doro-Chiba nichts mit einer RGO-Politik zu tun. Doro-Chiba ist eine militante und prinzipientreue Gewerkschaft mit Massencharakter. Wir streben die Aufhebung des üblichen Partei-Gewerkschaftsverhältnisses an. Dass das leichter gesagt ist als getan, ist uns bewusst. Wir sind da noch in einem Experimentierstadium, aber das hat eine große Bedeutung für uns.

Die einfachen Arbeiter von DC sind indessen auch vergleichsweise relativ unpolitisch, aber sie schätzen aufgrund ihrer Erfahrungen „Danketsu“ (im Sinne von „Solidarität“, „Zusammenhalt“). 2003 streikte DC und stoppte beispielsweise 600 Züge. Dieser Streik war durchaus gewagt. Aber alle DC Mitglieder verstanden die Wichtigkeit des Kampfes gegen den Krieg, alle DC - Mitglieder trugen den Kampf mit. Typische DC-Basismitglieder sagen: „Nicht viel reden, die Praxis am Arbeitsplatz wichtig, Schwätzer und Theoretiker mögen wir nicht!“ Unser Grundprinzip daher ist: wir führen viele Kämpfe, mal verlieren wir, mal siegen wir, wichtig aber ist immer „Danketsu“ und seine Verbreitung. Die Erweiterung und Verbreitung von „Danketsu“ ist der Prüfstein, nicht eine momentane Niederlage oder ein momentaner Sieg. Oberflächlich gesehen, kann ein Streik beispielsweise verloren gehen, aber wenn er der Verbreitung und Vergrösserung von „Danketsu“ gedient hat, dann war es richtig, ihn zu führen. Deshalb ist das unser wichtigstes Prinzip „Danketsu“. Es handelt sich um die wiederholte und kontinuierliche Erfahrung von praktischer Solidarität.

In jüngster Zeit (Okt 2009) gab es Polizeiübergriffe auf das Gewerkschaftshaus von Doro-Chiba. Was waren die Hintergründe für diesen Übergriff? Wie wurde er juristisch gerechtfertigt?

Japan ist auf gewisse Art ein Polizeistaat. Er scheint an der Oberfläche demokratisch zu sein, aber wenn Widerstand geleistet wird, kommt sofort massive Gewalt der Polizei. Ein typisches Beispiel davon ist die Repression gegen Zengakuren-Studenten (siehe Glossar), insbesondere in der Hosei Universität. Dort wurden seit März 2006 insgesamt 112 Studenten verhaftet wegen „illegales Eindringens“ oder wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“. Auch gegenwärtig sind 8 Studenten von Zengakuren und der „Föderation des Kulturellen Klubs“ seit Mai dieses Jahres in Haft (U-Haft). Das ist in Japan kein Sonderfall sondern alltäglich.

Das ist die Art und Weise der herrschenden Klasse, die Bewegung sich nicht erweitern zu lassen. Die Razzia hatte nur einen Abschreckungseffekt, das war jedenfalls die Absicht. Nicht nur DC hatte Übergriffe durch die Polizei erlebt, sondern auch verschiedene gemischte (amalgamated) Gewerkschaften. 7 davon wurden Ziel von Hausdurchsuchungen in den Büroräumen. (Hinweis der Redaktion: Branchenübergreifende gemischte Gewerkschaften auch auf Stadtteilebene sind in Japan vergleichsweise häufig.)

Manchmal wird das Meldegesetz (das es auch in Japan gibt), vorgeschoben. Eine Razzia wurde damit gerechtfertigt, dass ein Gewerkschaftsmitglied oder ein Aktivist sich angeblich falsch gemeldet hätte. Deshalb verhalten wir uns dazu ernst und diszipliniert. In Nagasaki gab es zum Beispiel etwa gegen einen Gewerkschaftsaktivisten die Anschuldigung, er habe seine Wohnung (illegalerweise) als Büro benutzt, und zwar deshalb, weil er ein Flugblatt mit seinem Namen und seiner Adresse unterschrieben hatte. Das war reine Schikane. In diesen Fällen müssen wir immer zu gerichtlichen, also juristischen Gegenmassnahmen greifen. Zur letzten Razzia hat Doro-Chiba den Prozess schon gewonnen, die Rechtswidrigkeit des Durchsuchungsbefehls wurde vom Gericht bestätigt.

Yasuhiro TANAKA, ein charismatischer Arbeiterführer

Welche Kontakte wünschen Sie sich zu kämpferischen Gewerkschaftlern auf der ganzen Welt und speziell in Deutschland?

Ehrlich gesagt, lastet ein schweres Gewicht der Verantwortung auf unseren Schultern. Die gegenwärtige weltweite Situation ist das Endstadium des Kapitalismus. Die Arbeiter weltweit sind unzufrieden mit der Situation. Wir haben eine große Chance, den Kapitalismus zu stürzen. Aber viele Arbeiter – noch immer die Mehrheit – wissen das nicht, sind sich darüber nicht im Klaren. Internationale Solidarität über die Grenzen hinaus aber kann das Bewusstsein der Arbeiter verändern. Alle Arbeiter sind letztlich isoliert. Da gibt es etwa den Gegensatz zwischen regulären (festangestellten) Arbeitern und Zeitarbeitern. Diese Differenzen müssen überwunden werden. Auch die Nationalgrenzen müssen wir überwinden.

Wenn die Arbeiter isoliert sind, können sie keine Perspektiven sehen, wahrnehmen. Seit 2003 haben wir die internationale Arbeit begonnen, haben Kontakt in andere Länder aufgebaut, vor allem in die USA und nach Südkorea.

Auch meine (Gen. Tanaka) persönliche Denkweise hat sich verändert. Das kann auch allen Arbeitern so passieren. Internationale Solidarität ist sehr notwendig, und zwar nicht nur, weil das Kapital eben auch global ist. Durch internationale Solidarität kann sich vor allem das Bewusstsein der Arbeiter weltweit verändern. Dadurch bekommt die Losung des Manifestes der Kommunistischen Partei auch einen ganz neuen Klang: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Internationale Solidarität eröffnet den gewöhnlichen Arbeitern weltweit, „Danketsu“ zu schaffen und zu erweitern.


Funding System von DC - Soli-Versandhandel

Doro-Chiba nimmt seine Aufgabe, internationale Solidarität kämpferischer Gewerkschaftler zu schaffen, sehr ernst und gehört zu den Mitveranstaltern der Internationalen Arbeiterversammlung. Die Kollegen von Doro-Chiba sind sehr an Kontakten zu Gewerkschaftern in Deutschland interessiert, etwa zu Aktiven bei der GDL oder bei Transnet.

Es gibt eine ausführliche englischsprachige Broschüre zur Geschichte von Doro-Chiba, mit zahlreichen Hintergrundmaterialien zur japanischen Arbeiterbewegung seit dem Ende des 2. Weltkrieges:

Railway struggle against Privatization – history of Doro-Chiba and Japanese Labor Movement.

Zu bestellen über

Workers Education Center
DC-Kaikan, Doro-Chiba Union Hall
2-8 Kaname-cho, Chuo-ku
Chiba-City
Japan
FAX 043-224-7197
Doro-chiba@doro-chiba.org


Videos

Videos zur von Doro-Chiba und anderen kämpferischen Gewerkschaftsverbänden durchgeführten Arbeiterversammlung am 1.11.2009 in Tokio


Glossar

Danketsu
lexikalisch übersetzt bedeutet der Begriff „Einheit, Solidarität“ hat aber im Japanischen mehr noch als diese Begriffe die Bedeutung des „unbedingten Zusammenhaltes“: 団結
Doro
ehemalige Eisenbahnergewerkschaft, zu der Doro-Chiba bis 1979 als Regionalverband gehörte.
DPJ
Demokratische Partei Japans, die hauptsächlich aus ehemaligen Mitgliedern der LDP und aus ehemaligen Rechtssozialisten besteht. Sie stellt die gegenwärtige Regierung.
Kakemaru – Gruppe
eine auch aus der historischen Zengakuren hervorgegangene Gruppe, die in sektiererischer Weise alle anderen militanten linken Gruppen in den Jahren 1969 bis 1991 terrorisierte. Sie nennt sich „Revolutionäre Kommunistische Liga / Revolutionär-Marxistische Fraktion“, scheint eine tragische und sehr reaktionäre Rolle gespielt zu haben. Sie unterstützte mit Roll- und Knüppelkommandos die Gewerkschaftsspitze von Doro gegen die innergewerkschaftliche Opposition. Es gab sogar Tote bei diesen Zusammenstössen.
LDP
Liberal-Demokratische Partei, die bis 2009 seit Kriegsende fast ununterbrochen die Regierung stellte.
Sanbetsu Kaigi
Congress of Industrial Unions of Japan; historischer kämpferischer Gewerkschaftsverband in Japan bis 1950
Sanrizuka
der Name eines Dorfes in der Nähe des Flughafens Narita. Die Bewegung gegen den Flughafen Narita wird in Japan „Sanrizuka-Kampf“ genannt, allerdings ist der Bauernwiderstand nicht auf das Dorf Sanrizuka beschränkt.
Sodomei
General Confederation of Trade Unions; historischer Gewerkschaftsverband in Japan bis 1950
Sohyo
General Council of Trade Unions of Japan; Nach dem Beginn des Koreakrieges gebildeter Gewerkschaftsverband, der schnell nach links driftete.
Zengakuren
traditionsreicher japanischer Studentenverband, der 1968-70 international als das japanische Gegenstück zum deutschen SDS bekannt wurde. Heute gibt es 4 -5 Studentenverbände mit diesem Namen. Der hier genannte Zengakuren – Verband entstammt direkt dem „Zentralkern“ (Chukaku-ha) des historischen Zengakuren und ist derzeit Objekt gezielter Repressionsmaßnahmen (wir berichteten).