- Auszug aus Karl Kautskys Schrift: Das Erfurter Programm (Juni 1892) -

Eingescannt nach der 12. Auflage, Stuttgart 1914. Die Rechtschreibung wurde beibehalten.


IV. Der Zukunftsstaat

1. Soziale Reform und Revolution

Der fünfte Absatz des Erfurter Programms lautet:

Das Privateigenthum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigenthum an seinem Produkt zu sichern, ist heute zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriiren und die Nichtarbeiter -Kapitalisten, Großgrundbesitzer -in den Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen. Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigenthums an Produktionsmitteln -Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel -in gesellschaftliches Eigenthum, und die Umwandlung der Waarenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion, kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesel1schaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vervollkommnung werde.

Wie dieser Absatz zu verstehen ist, das wird nach dem bisher Ausgeführten unschwer zu erkennen sein.

Die Produktivkräfte, die sich im Schooße der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt haben, sind unvereinbar geworden mit der Eigenthumsordnung, auf der dieselbe beruht. Diese Eigenthumsordnung aufrecht erhalten wollen, heißt jeden weiteren gesellschaftlichen Fortschritt unmöglich machen, heißt die Gesellschaft zum Stillstand, zur Verwesung verurtheilen, aber zur Verwesung bei lebendigem Leib, zu einer Verwesung, die von den qualvollsten krampfhaften Zuckungen begleitet ist. Jede weitere Vervollkommnung der Produktivkräfte steigert den Widerspruch zwischen ihnen und der bestehenden Eigenthumsordnung. Alle Versuche, diesen Widerspruch aufzuheben oder auch nur zu mildern, ohne das Eigenthum anzutasten, haben sich als vergeblich erwiesen und müssen sich als vergeblich erweisen.

Seit einem Jahrhundert bemühen sich die Denker und Politiker der besitzenden Klassen, dem drohenden Umsturz -der Revolution -des Privateigenthums an den Produktionsmitteln vorzubeugen durch soziale Reformen , wie sie alle jene Eingriffe in das wirthschaftliche Getriebe nennen, welche bestimmt sind, die eine oder die andere Wirkung dieses Privateigenthums aufzuheben oder wenigstens zu mildern, ohne es selbst anzutasten. Seit einem Jahrhundert sind die verschiedensten Mittel zu diesem Zwecke angepriesen und erprobt worden; es ist kaum noch möglich, etwas Neues auf diesem Gebiete zu ersinnen. Alle die "allerneuesten" Vorschläge unserer Sozialquacksalber, die schmerzlos und kostenlos binnen wenigen Tagen die veraltetsten Uebel heilen sollen, entpuppen sich, bei Lichte besehen, als Wiederaufwärmung recht alter Erfindungen, die anderswo und zu anderen Zeiten bereits versucht worden sind und ihre Unwirksamkeit ausreichend dargethan haben.

Man mißverstehe uns nicht. Wir erklären die sozialen Reformen für unwirksam, insofern sie die Aufgabe haben, den im Laufe der ökonomischen Entwicklung stets wachsenden Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der bestehenden Eigenthumsordnung zu beseitigen und gleichzeitig die letztere zu erhalten und zu stärken. Aber wir wollen damit weder sagen, daß die soziale Revolution, die Aufhebung des Privateigenthums an den Produktionsmitteln, sich von selbst machen, daß die unwiderstehliche, naturnothwendige Entwicklung dies ohne menschliches Zuthun besorgen werde, noch auch, daß alle sozialen Reformen unnützes Zeug seien, daß Denjenigen, die unter dem Widerspruch zwischen Produktivkräften und Eigenthumsordnung und seinen Folgeerscheinungen leiden, nichts übrig bleibe, als thatlos die Hände in den Schooß zu legen und ergeben zu warten, bis er überwunden worden.

Wenn man von der Unwiderstehlichkeit und Naturnothwendigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung spricht, so setzt man selbstverständlich dabei voraus, daß die Menschen Menschen sind und nicht todte Puppen; Menschen mit bestimmten Bedürfnissen und Leidenschaften, mit bestimmten körperlichen und geistigen Kräften, die sie zu ihrem Besten zu verwenden suchen. Thatlose Ergebung in das anscheinend Unvermeidliche heißt nicht, der gesellschaftlichen Entwiclung ihren Lauf lassen, sondern sie zum Stillstand bringen.

Wenn wir die Aufhebung des Privateigenthums an den Produktionsmitteln für unvermeidlich halten, so meinen wir damit nicht, daß den Ausgebeuteten eines schönen Tages ohne ihr Zuthun die gebratenen Tauben der sozialen Revolution in den Mund fliegen werden. Wir halten den Zusammenbruch der heutigen Gesellschaft für unvermeidlich, weil wir wissen, daß die ökonomische Entwicklung mit Naturnothwendigkeit Zustände erzeugt, welche die Ausgebeuteten zwingen, gegen dies Privateigenthum anzukämpfen; daß sie die Zahl und Kraft der Ausgebeuteten vermehrt und die Zahl und Kraft der Ausbeuter vermindert, die an dem Bestehenden festhalten; daß sie endlich zu unerträglichen Zuständen für die Masse der Bevölkerung führt, welche dieser nur die Wahl lassen zwischen thatlosem Verkommen oder tathkräftigem Umsturz der bestehenden Eigenthumsordnung.

Ein solcher Umsturz kann die mannigfaltigsten Formen annehmen, je nach den Verhältnissen, unter denen er sich vollzieht. Er muß keineswegs nothwendig mit Gewaltthätigkeiten und Blutvergießen verknüpft sein. Es hat bereits Fälle in der Weltgeschichte gegeben, wo die herrschenden Klassen besonders einsichtig oder - besonders schwach und feig waren, so daß sie angesichts einer Zwangslage freiwillig abdankten. Eine soziale Revolution braucht auch nicht mit einem Schlage entschieden zu werden. Es dürfte dies sogar kaum je der Fall gewesen sein. Revolutionen bereiten sich in jahre- und jahrzehntelangen politischen und wirthschaftlichen Kämpfen vor und vollziehen sich unter stetem Wechseln und Schwanken der Machtverhältnisse der einzelnen Klassen und Parteien, oft von lange dauernden Rückschlägen (Reaktionszeiten) unterbrochen.

Aber wie mannigfaltig auch die Formen sind, die eine Revolution annehmen kann, unmerklich und ohne thatkräftiges Eintreten der von den herrschenden Zuständen am meisten Bedrückten ist noch nie eine soziale Revolution vor sich gegangen.

Wenn wir ferner die sozialen Reformen, die vor dem Privateigenthum Halt machen, für unfähig erklären, die Widersprüche aufzugeben, welche die jetzige ökonomische Entwicklung hervorbringt, so wollen wir damit keineswegs sagen, daß für die Ausgebeuteten im Rahmen der bestehenden Eigenthumsordnung jedes Ankämpfen gegen die Leiden, die sie zu erdulden haben, unmöglich sei, daß sie sich geduldig in alle Mißhandlungen, alle Formen der Ausbeutung fügen sollen, welche die kapitalistische Produktionsweise über sie verhängt, daß, so lange sie überhaupt ausgebeutet werden, es gleichgültig sei, in welcher Weise dies geschehe. Wir wollen damit nur sagen, sie sollen die sozialen Reformen nicht überschätzen und nicht glauben, dadurch könnten die bestehenden Verhältnisse für sie befriedigend gestaltet werden. Und sie sollen die sozialen Reformen genau ansehen, die ihnen geboten werden und für die sie eintreten Neun Zehntel der Reformvorschläge sind nicht nur unnütz, sondern direkt schädlich für die ausgebeuteten; am schlimmsten sind diejenigen Vorschläge, die, um die bedrohte Eigenthumsordnung zu retten, die Produktivkräfte ihr anpassen, die ökonomische Entwicklung der letzten Jahrhunderte ungeschehen machen wollen. Die Ausgebeuteten, die dafür eintreten, vergeuden ihre Kräfte in dem unsinnigen Bestreben, das Todte lebendig zu machen.

Die ökonomische Entwicklung ist in mannigfacher Weise zu beeinflussen; man kann sie beschleunigen und verlangsamen, man kann ihre Wirkungen abschwächen und verstärken, sie schmerzloser oder schmerzensreicher gestalten, je nach der Einsicht und der gesellschaftlichen Macht, die man besitzt. Aber eines kann man nicht: sie zum Stillstand oder gar zur Umkehr bringen. Die Erfahrung lehrt vielmehr, daß alle Mittel, die sie hemmen sollen, sich unwirksam erweisen oder gar die Leiden vermehren, zu deren Beseitigung sie dienen sollen, indeß jene Mittel, welche wirklich geeignet sind, einem oder dem anderen der bestehenden Mißstände mehr oder weniger abzuhelfen, auch dahin wirken, den Lauf der ökonomischen Entwicklung zu beschleunigen.

Wenn z.B. die Handwerker das Zunftwesen wieder herstellen wollen, um mit dessen Hilfe das Handwerk zu heben, so ist dies Streben völlig erfolglos und muß es sein, denn es steht im Widerspruch mit den Bedürfnissen der modernen Produktivkräfte der Großindustrie. Diese müßte zuerst beseitigt, der ganze technische Fortschritt der neueren Zeit ungeschehen gemacht werden, sollte das Zunftwesen gedeihen können. Das ist platterdings unmöglich. Die Zünftlerei hat daher heute nur den Zweck, Kraft, Geld und politischen Einfluß der Handwerker reaktionären Parteien zur Verfügung zu stellen, die sie zum Schaden, nicht zum Vortheil der "kleinen Leute", z.B. zur Vertheuerung des Brotes, Erhöhung der Steuern und Militärlasten und dergleichen ausnützen.

Diejenigen Mittel aber, welche die Handwerker unter Umständen mit Vortheil benützen können, um ihre Lage zu verbessern, sind nur solche, die ihnen ermöglichen, ihre Betriebe zu erweitern, zur Massenproduktion überzugehen, kleine Kapitalisten zu werden. Derartige Mittel, wie Genossenschaften der verschiedensten Art, Einführung billiger Motoren u. s. w., können wohl den Begüterteren unter den Handwerkern helfen, aber nur dadurch, daß sie ihnen ermöglichen, den Kleinbetrieb zu verlassen. Die weniger Begüterten, die sich nicht Motoren anschaffen können, keinen Kredit haben u. s. w. , gehen dann um so schneller zu Grunde. Diese Mittel nützen also wohl verschiedenen Handwerkern, retten aber nicht das Handwerk, beschleunigen vielmehr dessen Untergang.

Auch die Lohnarbeiter wollten Anfangs die Entwicklung der kapitalistischen Großindustrie aufhalten. Sie zertrümmerten neue Maschinen, wehrten sich gegen die Einführung der Frauenarbeit und dergleichen. Aber früher als die Handwerker haben sie einsehen gelernt, wie thöricht ein solches Vorgehen ist. Sie haben andere, erfolgreichere Mittel gefunden, die schädlichen Wirkungen der kapitalistischen Ausbeutung so weit als möglich abzuwehren, durch ihre ökonomischen Organisationen (Gewerkschaften) und durch ihre politische Thätigkeit, die beide einander ergänzen und wodurch sie in den verschiedenen Staaten mehr oder weniger größere Erfolge erzielt haben. Aber jeder dieser Erfolge, bestehe er in einer Lohnerhöhung, einer Verkürzung der Arbeitszeit, einem Verbot der Arbeit zu junger Kinder, der Forderung gesundheitlicher Vorkehrungen u. s. w. , bildet einen neuen Anstoß für die ökonomische Entwicklung, indem er z. B. die Kapitalisten veranlaßt, die vertheuerten Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen, oder indem er Mehrausgaben nöthig macht, welche die kleinen Kapitalisten mehr belasten als die großen und dadurch den ersteren den Konkurrenzkampf erschweren u. s. w.

So gerechtfertigt, ja nothwendig es also ist, wenn z. B. die einzelnen Handwerker etwa durch Einführung von kleinen Motoren ihre Lage zu verbessern suchen, oder wenn die Arbeiter Organisationen gründen oder gesetzliche Einrichtungen anstreben, die ihnen eine Verkürzung der Arbeitszeit, Verbesserung der Arbeitsbedingungen und sonstige Erleichterungen bringen, so wäre es doch verkehrt, zu glauben, daß solche Reformen die soziale Revolution aufhalten könnten; und ebenso verkehrt ist die Annahme, daß man die Nützlichkeit gewisser sozialer Reformen nicht anerkennen könne, ohne damit auch zuzugestehen, daß es möglich sei, die Gesellschaft auf ihren bisherigen Grundlagen zu erhalten. Man kann im Gegentheil für diese Reformen auch vom revolutionären Standpunkt eintreten, weil sie den Lauf der Dinge beschleunigen, wie wir gesehen, und weil sie, weit entfernt, die selbstmörderischen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise aufzuheben, die wir in den vorhergehenden Kapiteln geschildert, diese vielmehr verstärken.

Die Proletarisirung der Volksmassen, die Vereinigung des gesammten Kapitals in den Händen einiger Weniger, die das ganze wirthschaftliche Leben der kapitalistischen Nationen beherrschen, die Krisen, die Unsicherheit der Existenz, alle diese quälenden und empörenden Wirkungen der kapitalistischen Produktionsweise sind in ihrer steten Zunahme durch keine Reformen auf dem Boden der heutigen Eigenthumsordnung zu hemmen, und seien diese noch so weitgehend.

Es gibt keine Partei, und sei es die verbohrteste und aufs Aengstlichste am hergebrachten hängende, die nicht eine Ahnung davon hätte. Sie preisen alle noch ihre besonderen Reformen als Mittel an, dem großen Zusammenbruch vorzubeugen, aber keine von ihnen hat mehr den rechten Glauben an ihre Wunderrezepte.

Es nützt kein Drehen und kein Wenden. Die rechtliche Grundlage der heutigen Produktionsweise, das Privateigentum an den Produktionsmitteln wird immer unvereinbarer mit der Natur der Produktionsmittel, wie wir in den vorhergehenden Kapiteln gesehen. Der Untergang dieses Privateigenthums ist nur noch eine Frage der Zeit. Er kommt sicher, wenn auch Niemand mit Bestimmtheit sagen kann, wann und in welcher Weise er eintreten wird.