Liebe Genossinnen und Genossen der RSO,

Euer Schreiben vom 04.09.07 hat bei uns erst einmal nicht wenig Verblüffung ausgelöst.

Offenbar gibt es zwischen uns auch Meinungsverschiedenheiten darüber, wie unter Revolutionären Diskussionen zu führen sind. Wir sind nicht der Meinung, daß die Herausarbeitung sachlicher Differenzen diese Differenzen "aufbläst" und/oder "verfestigt". Auch die eine oder andere polemische Bemerkung sehen wir nicht als unsolidarische Akte, sondern als Ausdruck von Leidenschaft und Emotionen, von denen engagierte Debatten unter Revolutionären niemals frei sein werden. Wir machen auch keinen Unterschied zwischen Abgrenzung und zwischen "Annäherungsdiskussionen" in deren Verlauf wir wie der Wolf bei Rotkäppchen Kreide fressen und Abgrenzungsdiskussionen. Auch bei politischen Gegnern bemühen wir uns um Fairness und um die Vermeidung von Mißverständnissen. Unsere Erfahrungen zeigen uns aber auch, daß Mißverständnisse häufig die unvermeidliche Begleiterscheinung sind, wenn in Debatten unterschiedliche Traditionen (und unterschiedlicher Terminologiegebrauch) aufeinandertreffen. Einen der Zwecke von Diskussionsprozessen sehen wir darin, Mißverständnisse auszuräumen, um bestehende Differenzen auszuräumen und, wo immer möglich, zu überwinden. Wir sind von unseren Positionen überzeugt und vertreten sie mit Leidenschaft - aber nicht mit einem Unfehlbarkeitsanspruch und schon gar nicht mit dem Ziel, sie um jeden Preis zu behaupten.

Wo ihr der Auffassung seid, daß unsere Kritiken auf Mißverständnissen und Fehlinterpretationen beruhen, hätten wir Aufklärung erwartet, anstatt der Erklärung, die gerade begonnene Diskussion wegen des angeschlagenen Tons anzubrechen. Wir können diesen Schritt nur dahingehend interpretieren, daß Euch die Substanz unserer Kritik stört.

Daß Ihr diesen Schritt mit dem Vorwurf begründet, wir, bzw. unsere Leitungsgenossen in Berlin, seien offenbar im Sommer nicht daran interessiert gewesen, mit Euch zu diskutieren, weil wir nicht für ein Treffen zur Verfügung gestanden hätten, ist allerdings ein Stück Theater für die Wiener Galerie: Es gab im Vorfeld von Eurer Seite keinen Versuch, mit unseren Leitungsgenossen einen festen Termin zu vereinbaren. Wenige Tage vorher hieß es in einem Telefonat zwischen unserem Genossen Dieter und Eurem Berliner Genossen Stefan, daß man sich auf der Demo in Heiligendamm treffen könnte. Das gelang nicht. Am Sonntag nach der Samstags-Demo hat unser Genosse Euren Berliner Residenten kontaktiert. Dieser teilte mit, daß der für uns mögliche Termin für Eure Genossen nicht möglich sei, weil Ihr bereits einen Termin mit iRevo hattet.

Eure diesbezüglichen Kommentare lassen, bei wohlwollender Betrachtung (die wir hier einnehmen wollen), auf Kommunikationsprobleme in der RSO schließen. Ihr verwendet ein nicht zustandegekommenes Treffen, das zuvor niemals fest vereinbart war, als Stützargument für einen Abbruch der Diskussion zwischen zwei Organisationen. Wir erlauben uns, das für wenig seriös zu halten.

Nun zu Eurer Antwort auf unsere Diskussionsbeiträge:

1. Programmatik/Programm/Aktionsprogramm

In Eurem Brief vom Juni 07 habt Ihr an unserem Aktionsprogramm moniert, daß es nicht ausreichend mit einer konkreten Einschätzung der Lage des Klassenkampfs verbunden war. Ihr habt betont, daß für euch "Taktiken und methodische Fragen - wie etwa ein Aktionsprogramm mit konkreten Losungen für ein Land - immer im Zusammenhang mit der jeweiligen objektiven und subjektiven Situation zu sehen" sei. Nach dem ihr eine ganze Reihe diesbezüglicher rhetorischer Fragen stelltet, habt ihr das Problem unseres Aktionsprogramms darin gesehen, daß seine "Forderungen/Taktiken im luftleeren Raum hängen bleiben".

Abgesehen davon, daß unsere Thesen zur Entwicklung des Imperialismus im 20. Jahrhundert eine ganze Menge Aussagen sowohl über die objektive Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse wie auch über den Zusammenbruch der Arbeiterstaaten Europas beinhalten, haben wir mit unserem Papier "Reformpolitik oder Sozialismus" auch einen Beitrag zu einer konkreten Einschätzung der politischen Verhältnisse der BRD erbracht, das sich auch noch zwei Jahre nach seiner Veröffentlichung sehen lassen kann. Eure Kritik, daß die Forderungen in unserem Aktionsprogramm in einem luftleeren Raum hängen bleiben, ging deshalb an der Sache vorbei. Jetzt schreibt ihr, ihr hättet gar nicht gemeint, unsere Forderungen seien zu abstrakt, um Gehör zu finden, "sondern zu konkret" - und unsere Auswahl von Forderungen sei willkürlich. Andererseits kritisiert ihr an anderer Stelle, unsere Forderungen würden nicht in "Verbindung mit den konkreten Bedürfnissen von Kämpfen der Arbeiter/innen/bewegung" stehen. Uns scheint, Stringenz der Argumentation wird hier nicht gerade von Euch demonstriert.

Für uns, dies sei betont, sind Übergangsforderungen in erster Linie Ausdruck der objektiven Interessen vor allem der proletarischen Massen. Wer Forderungen erst dann der Arbeiterklasse präsentiert, wenn sich der Klassenkampf schon entfaltet hat, kann weder die Vorhut der Klasse auf diese Kämpfe vorbereiten, noch wird er sich jemals in der ersten Reihe der Kämpfe befinden. Wir können Eure Position nur als Theoretisierung von Nachtrabpolitik begreifen. Da es in Mitteleuropa zur Zeit gar nicht so umfangreiche Klassenkämpfe gibt, läuft sie darauf hinaus, auf ein aktualisiertes Übergangsprogramm zu verzichten und zur Dichotomie von Minimal- und Maximalprogramm zurückzukehren. Ihr haltet dem entgegen, daß ihr in der Praxis doch immer wieder "Aktions- und Ausrichtungsvorschläge" gemacht habt. Es sei so "etwas in der Art" von Aktionsprogrammen gewesen. Das ist jedoch nicht das Problem. Das Problem ist, daß Eure Theorie eine der Passivität ist, daß Ihr auf theoretischer Ebene prinzipiell ein Zuschauerkonzept formuliert, das Ihr zum Glück zwar instinktiv immer wieder selbst in Frage stellt, wenn es um Politik geht, das aber dennoch die Entfaltung revolutionärer Praxis behindert.

Doch zurück zu Eurer Kritik, daß die "Auswahl" unserer Forderungen nicht mit der aktuellen Lage des Klassenkampfs in Verbindung stehe.

Wir hoffen lernfähig zu sein. Von einer solidarischen Kritik hätten wir nun den nächsten logischen Schritt erwartet, daß Ihr uns erklärt, weshalb unsere Auswahl an Forderungen nicht dem Stand der Klassenkämpfe in der BRD entspricht. Stattdessen lesen wir, daß wir den Unterschied zwischen einem programmatischen Grundsatzdokument und einem Aktionsprogramm verwischen. Worin dieser Unterschied besteht, bestehen soll, lesen wir leider nicht. Stattdessen werden wir darüber aufgeklärt, daß ein Aktionsprogramm die Konkretisierung eines Programms für eine bestimmte Klassenkampfsituation ist und "kommunistische Antworten auf die in diesen Kämpfen aufgeworfenen Fragen geben und sie durch Übergangsforderungen mit der Systemfrage verbinden" muß.

Die sollen aber bekanntlich gar nicht "kommunistische Antworten" mit der "Systemfrage " verbinden, sondern in ihrer Gesamtheit den Massen helfen, in ihrer eigenen Praxis den Weg zum Kampf für den Sozialismus zu finden. Das setzt nicht voraus, daß das Programm, das eine marxistische Organisation zu diesem Zweck aufstellt, diese Zielsetzung unmittelbar in der Praxis verwirklicht. Das kann es nur bei einer entsprechenden Praxis der betreffenden Organisation. Die wollen wir entwickeln. Da es unserem Programm ja nach Eurer Diagnose nicht an Konkretion mangelt, sondern es davon im Überfluß hat, blicken wir vertrauensvoll in die Zukunft.

Ihr kritisiert weiter, daß die Fundamentalkritik des Kapitalismus in der Präambel unseres Aktionsprogramms zu kurz kommt. Sie ist immerhin deutlich ausführlicher als im Übergangsprogramm der IV. Internationale von 1938. Und vielleicht gestattet Ihr die Frage, welche Beiträge zur "Fundamentalkritik der kapitalistischen Verhältnisse" wir bei euch übersehen haben? Eure Kritik an uns richtet sich ebenso gegen historische Programme der Arbeiterbewegung, so z.B. gegen das Erfurter Programm. Sie erscheint wenig überlegt. Es gibt kein ehernes Modell, daß ein Programm alle Fragen revolutionärer Politik beantworten muß.

Ihr beklagt unser fehlendes Verständnis für euer "Grundverständnis" von "Taktik im Allgemeinen". Taktiken als Teilschritte einer Strategie sollten allerdings "im Besonderen" diskutiert werden. Ihr seid der Ansicht, daß über Taktiken nur dort gesprochen werden kann, wo ihr "einheitsfrontfähig" seid. Da liegt der Hase im Pfeffer.

Es stimmt, daß von einer proletarischen Einheitsfront nur dort die Rede sein kann, wo es, wie im Falle von Räten, um Bündnisse von proletarischen Massenorganisationen geht. Aber das schließt doch Aktionseinheiten und die Praktizierung der Methode und Grundsätze der Einheitsfrontpolitik im Rahmen von Kampagnen nicht aus. Initiativen für Solidaritätsveranstaltungen mit Streiks, für die Organisierung von Demos, Kundgebungen, Mahnwachen etc. ebenfalls nicht. In deren Rahmen kann doch auf die Konkretisierung von Losungen nicht verzichtet werden. Wir haben die Pflicht, im Rahmen unserer personellen Möglichkeiten überall dort um Einfluß zu kämpfen, wo Teile der proletarischen Massen und der Jugend in Bewegung geraten. Ihr hingegen formuliert: "Es wäre dann sinnvoller, sich auf die Propaganda von grundlegenden Einschätzungen und Ausrichtungen zu beschränken." Damit bestätigt Ihr unsere Kritik. Ihr predigt die Passivität und präsentiert genau die Karikatur auf Trotzkismus, die viele Aktivisten in Bewegungen im Sinne haben, wenn sie sagen, daß Trotzkisten bisweilen gute Analysen haben, aber ansonsten (buchstäblich) eine Randerscheinung des Klassenkampfs sind. Sorry, aber das ist ziemlich genau dasselbe Taktikverständnis, das u.a. auch die "Partei für soziale Gleichheit" (World Socialist Web Site) praktiziert. Auch die wird wegen häufig guter Einschätzungen und Artikel anerkannt, aber wegen ihres Daueraufenthalts im propagandistischen Niemandsland in der Praxis ignoriert.

Wir hoffen, daß Ihr Euch noch einmal gründlich mit diesen Problemkreisen befaßt. Es wäre ein Jammer, wenn Ihr Euren konzeptionellen Grundfehler nicht überwinden könnt.

2. Ressourcen und Prioritäten

Ihr verbraucht bezüglich Eurer Position zur theoretischen Praxis eine ganze Menge Papier. Niemand kann bestreiten, daß es ohne Theorie, ohne die Aufarbeitung der Lehren und Erfahrungen der Arbeiterbewegung keine konsistente revolutionäre Praxis geben kann. Wir gehen konform damit, daß theoretische Arbeit auch eine Form der Praxis ist. Aber das sind Allgemeinplätze. Sie ändern nichts daran, daß eine solche Arbeit für den Klassenkampf nur relevant ist, soweit sie zur Entwicklung der Massenarbeit beiträgt. Natürlich bedeutet das nicht, daß theoretische Arbeit unmittelbar und auf direktestem Wege in Massenaktionen wirksam sein muß. Aber daß sie ihren Beitrag zur Kaderbildung leisten muß, deren Effektivität ihrerseits nur in der Massenarbeit überprüft werden kann, kann doch nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Wir brauchen Euch doch wohl nicht an Marxens Feuerbachthesen zu erinnern.

Die Entwicklung der marxistischen Theorie selbst erfolgte nicht zuletzt im Rahmen von Polemiken und Auseinandersetzungen sowie der politischen Praxis: Erinnert sei z.B. an die Schriften von Marx zur Deutschen Ideologie, Rosa Luxemburgs Refom und Revolution, Lenins Staat und Revolution, Trotzkis Permanente Revolution und Zur Verteidigung des Marxismus u.s.w.

Wir erinnern Euch aber auch daran, daß Ihr in Eurer Kritik an unserem Aktionsprogramm selbst gefordert habt, daß das Programm mit dem jeweils aktuellen Stand des Klassenkampfs verbunden sein muß... Unsere Differenzen liegen nicht auf dieser Ebene der allgemeinsten Abstraktion, sondern da, wo ihr den Inhalt der Theorie vom Klassenkampf löst, wo sie zur brotlosen Kunst wird, abgehoben von den Bedürfnissen des Klassenkampfs. Damit wird dem Idealismus und Eklektizismus die Tür geöffnet.

Trotzki schreibt im Vorwort des zweiten Teils der Geschichte der Russischen Revolution: “Die materialistische Methode diszipliniert, indem sie verpflichtet, von den schwerwiegenden Tatsachen der sozialen Struktur auszugehen. Grundlegende Kräfte des historischen Prozesses bilden für uns die Klassen; auf sie stützen sich politische Parteien; Ideen und Parolen treten hervor als Umgangsmünze der objektiven Interessen. Der gesamte Weg der Untersuchung führt vom Objektiven zum Subjektiven, vom Sozialen zum Individuellen, vom Kapitalen zum Konjunkturmäßigen.” Im Vorwort zum ersten Teil schreibt Trotzki: “Nur die führende Schicht der Klasse hat ein politisches Programm, das jedoch noch der Nachprüfung durch die Ereignisse und der Billigung durch die Massen bedarf. Der grundlegende politische Prozeß der Revolution besteht eben in der Erfassung der sich aus der sozialen Krise ergebenden Aufgaben durch die Klasse und der aktiven Orientierung der Masse nach der Methode sukzessiver Annäherungen …Nur auf Grund des Studiums der politischen Prozesse in den Massen selbst kann man die Rolle der Parteien und Führer begreifen.”

Wir sind selbstverständlich nicht dagegen, wenn einzelne Genossen materialistische Analysen irgendwelcher, mehr oder minder abgelegener Themen frei erarbeiten. Eine politische Organisation braucht nicht zu jeder beliebigen Frage eine Linie. Sie muß nicht jede theoretische Frage per Mehrheitsbeschluß entscheiden wollen. Wir können grundsätzlich auch in ökonomischen Fragen Anhänger verschiedener Krisentheorien in unseren Reihen akzeptieren. Wir entscheiden als Organisation mehrheitlich (und verbindlich für unsere Praxis) darüber, wie wir die aktuelle Lage einschätzen und welche strategischen und taktischen Schlußfolgerungen wir daraus ziehen. Wir bemühen uns, die proletarischen Interessen auf den wichtigsten Politikfeldern zu formulieren. Es fiele uns aber nicht ein, z.B. Anhänger der ökonomischen Theorien Rosa Luxemburgs aus der Organisation herauszudrängen.

Wir fürchten, Euer Konzept ist letztlich sehr monolithisch. So monolithisch, daß es damit nicht einmal gelingen wird, eine größere politische Tendenz aufzubauen.

Keine politische Organisation, die um Beteiligung am Klassenkampf bemüht ist, ist in der Lage, immer alle Grundfragen auszudiskutieren, die in aktuellen Fragen aufgeworfen werden. Mehrheitsentscheidungen sind für kämpfende Organisationen unumgänglich. Sie kann nur vermeiden, wer ohne Rücksicht auf Zeit und politische Erfordernisse ebenso wie ohne Rücksicht auf das Zeitbudget von Genossinnen und Genossen nach palaverdemokratischem Modell notfalls bis zur Erschöpfung diskutiert, um “gemeinsame” Lösungen zu finden. Das geht nur, wenn man sich vorübergehend aus dem Klassenkampf zurückzieht. Eben eine solche Konzeption ist mit uns nicht zu machen.

Auch nicht unter Hinweis auf die nach Eurer Ansicht bei kleinen Organisationen notwendige Abwägung von "Nutzen und Kosten". Wir sind der Ansicht, daß Ihr für Eure Konzeption einen hohen Preis zahlen müßt: Ihr lauft Gefahr, theoretisch hochgebildete Kader auszubilden, die es nicht schaffen, im realen Klassenkampf um die politische Führung zu kämpfen, weil sie nicht gelernt haben, sich auf die Bedürfnisse praktischer Kämpfe und das Bewußtsein neu radikalisierter Kampfgenossen einzustellen. Ohne den Test der Praxis werdet Ihr nach allen Erfahrungen auch schwerlich sicher sein können, ob Ihr Eure Organisation tatsächlich auf der Basis eines gemeinsamen Grundverständnisses bezüglich der Lage, der Ziele, Aufgaben und taktischer Orientierungen handeln kann. Dazu bedarf es Genossinnen und Genossen, die gelernt haben, auch auf sich allein gestellt, als Kader zu handeln.

Euer Hang zum theoretischen Monolithismus hat übrigens einen wirklich schädlichen Nebeneffekt für den Organisationsaufbau: Das Konzept, alle Papiere kollektiv zu erstellen und "anonym" im Namen des Kollektivs zu veröffentlichen, das die revolutionäre Tradition nur bei Programmen, Leitsätzen, Manifesten und Aktionsaufrufen (aber nicht einmal in diesen Fällen durchgehend) kennt, führt allgemein dazu, daß die Herausbildung einer politischen Führung behindert wird. Die Mitglieder sind nicht mehr in der Lage, feine Unterschiede zwischen den Positionen von Führungsmitgliedern zu erkennen und einzuschätzen. Die Organisation verliert nach außen ihr "Gesicht" und präsentiert sich nicht mehr mit lebendigen Ansprechpersonen. Junge Kader aus Ortsgruppen haben nicht mehr die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten der Gesamtorganisation zu präsentieren, in der Gesamtorganisation bekannt zu werden und sich für Führungsaufgaben zu empfehlen. Eine demokratische Kaderauslese kann nicht mehr stattfinden. Schließlich sorgt Euer Konzept des theoretischen Monolithismus dafür, daß Differenzen in der Führung sowohl nach außen wie nach innen verborgen werden. Auf diese Weise werden sie nicht frei und offen diskutiert, sondern brechen abrupt und ohne Vorwarnung aus. Oft genug gibt es dann Freund und Feind überraschende Spaltungen. Das ist Euch ja nicht ganz fremd, wie man bei der Abspaltung der GRA gesehen hat. Auch hier seid Ihr methodisch auf einem Holzweg, den Ihr im eigenen Interesse schnellstens verlassen solltet.

3. Umgruppierung und internationaler Aufbau

Selbstverständlich sind wir der Meinung, daß alle bestehenden internationalen Spaltprodukte trotzkistischer Provenienz - soweit sie uns bekannt sind - mehr oder weniger zentristisch sind, wobei die Spannbreite auch ultralinke Abenteurer und notorische Opportunisten umfaßt. Wir sind nicht der Auffassung, daß irgendeine dieser Strömungen für sich legitimerweise in Anspruch nehmen kann, bereits DER Kern einer künftigen revolutionären kommunistischen Internationale zu sein. Wir glauben nicht einmal, daß der Kern einer neuen internationalen kommunistischen Partei nur aus dieser "trotzkistischen Bewegung" entstehen wird. Aber wir gehen davon aus, daß ein großer Teil, besonders der subjektiv überwiegend revolutionären Basis dieser Bewegungen, in der künftigen internationalen Partei aufgehen wird - ganz im Gegensatz zu den Führungen dieser Tendenzen. Erst, wenn sich ein starker revolutionärer Pol herausgebildet hat, dürfte sich das ändern - nach tiefgreifenden Umgruppierungsprozessen.

Mit welchen Strömungen bzw. Organisationen wir Diskussionen beginnen, entscheiden wir nicht zuletzt auch pragmatisch. Wir wissen, daß wir für größere Parteien regelmäßig keine ernstzunehmende Größe (im Wortsinne) sind. Wir sind aufgrund unserer numerischen Schwäche auch nicht beleidigt, wenn wir von erheblich größeren Organisationen erst einmal übersehen oder nicht als Diskussionspartner gesehen werden. In solchen Fällen tritt an die Stelle des Dialogs notgedrungen die einseitige Kritik. Wir wissen aber aus Vergangenheit und Gegenwart, daß es für kleinere Gruppen und internationale Strömungen interessant ist auszuloten, ob wir für sie als unabhängige Gruppe in einem Schlüsselland des imperialistischen Weltsystems als Partnerorganisation in Frage kommen. Umgekehrt sind auch wir daran besonders interessiert, mit Organisationen in anderen Ländern eine Kooperation zu entwickeln. Wo sich solche Gelegenheiten entwickeln, nehmen wir sie wahr.

Einer der Gründe dafür ist, daß internationale Diskussionen um brennende Probleme der Weltrevolution einen enorm schulenden Effekt haben und zur Entwicklung unseres Kaders beitragen. Last but not least sind wir Internationalisten nicht nur mit unseren Köpfen, sondern auch mit unseren Herzen. Klassensolidarität bedeutet uns etwas. Das dürfte bei Euch nicht anders sein.

Wir kennen ebensogut wie Ihr die Schwierigkeiten, die sich für die Entfaltung einer internationalen Kooperation und Organisation stellen. Wir müssen Euch aber auch jenseits aller Polemik sagen, daß wir die von Euch mit allzu knappen Ressourcen begründete Konzentration auf Kooperationen in deutschsprachigen Ländern für ein Armutszeugnis halten. Da Ihr über viel mehr Mitglieder mit Fremdsprachenkenntnissen verfügt als wir, werdet Ihr schon damit leben müssen, daß wir Euer Konzept auch jenseits aller Polemik für nationaltrotzkistisch eingefärbt halten. Es beruht unseres Erachtens auf einer Prioritätensetzung bzw. Schwerpunktsetzung, die wir für falsch halten und die faktisch eben doch ein Etappenmodell beinhaltet, das vor Euch schon viele Gruppen vertreten haben - ebenfalls mit pragmatischen Begründungen. Aber wer würde eine nationaltrotzkistische Etappenkonzeption schon theoretisch verteidigen?

Wenn wir außerdem noch Eure Aussage in Rechnung stellen, daß für euch auf internationaler Ebene Fusionen nur in Betracht kommen, wenn zuvor eine "tiefgehende" Übereinstimmung in "Theorie und Praxis" stattgefunden hat, wird es Euch allerdings schwer fallen, eine wirklich internationale Strömung aufzubauen, solltet Ihr Eure Position nicht ändern.

Wir finden es auch erschreckend und sehr erstaunlich, daß Ihr bekennt, daß Ihr gegenwärtig keinen Umgruppierungsprozeß erkennen könnt, "keine Dynamik in Richtung Herausbildung eines internationalen revolutionären Pols". Eure Schlußfolgerung: "Das allein beschränkt heute schon die Möglichkeiten für Interventionen in einen Umgruppierungsprozeß." Merkwürdigerweise seht Ihr gar nicht, daß Ihr damit unsere Kritik voll und ganz bestätigt. Weil sich die großen Strömungen nicht aufeinander zu bewegen, stellt Ihr fest, daß man gegenwärtig auch in kleinerem Maßstab nichts bewegen kann - was alles andere als logisch ist. Ihr seht Euch nicht einmal potentiell als aktiven und autonom handelnden Faktor - obwohl die Dauerkrise der "trotzkistischen Bewegung" immer wieder neue Gruppen mit revolutionär-marxistischen Ansprüchen entstehen läßt. Stattdessen richtet ihr Euch unter Berufung auf Eure organisatorische Schwäche in der Passivität ein.

In Wirklichkeit findet ein Umgruppierungsprozeß längst statt., wenn auch im negativen Sinne. Alle sich auf den Trotzkismus berufenden Strömungen stecken in der Krise. Es gibt laufend Abspaltungen und die meisten, aber nicht alle der Strömungen, bewegen sich politisch nach rechts. Die Frage ist deshalb, ob es für Organisationen, die sich zur Notwendigkeit des Aufbaus einer revolutionären Internationale bekennen, nicht sinnvoll ist, sich in diese Auseinandersetzungen im Rahmen der eigenen organisatorischen Möglichkeiten einzumischen.

Die wirkliche Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit ist aber nicht irgendein fiktives organisatorisches Minimum, sondern ein klare Lageanalyse des Klassenkampfs, ein Programm und ein Kader (wie klein auch immer), der mit Selbstvertrauen für sein Programm kämpft. Daran scheint es bei Euch zu fehlen. Wir können Euch deshalb nur raten: Konkretisiert Euer Programm und lernt, dafür in der Massenbewegung zu kämpfen! Hinweise auf die Passivität der mitteleuropäischen Massen können die eigene Passivität nicht rechtfertigen. Auch anderswo stehen kleinste Kaderkerne vor der Aufgabe, unter schwierigsten Bedingungen neue Parteien aufzubauen.

4. Frauenbefreiung

Wir sind uns einig, daß der Kampf für Frauenbefreiung wichtiger Bestandteil des Klassenkampfs ist. Uneinig sind wir uns darüber, ob die Vergewaltigung der Sprache ein Beitrag zur Frauenbefreiung ist. Wir wollen an dieser Stelle nur festhalten, daß die Durchsetzung feministischer political correctness in Westdeutschland verbunden war mit dem Niedergang des linksradikalen Teils der Frauenbewegung in Westdeutschland und mit dem offenen Übergang bzw. der Heimkehr großer Teile der Radikalfeministinnen auf die Seite der bürgerlichen Ordnung. In Ostdeutschland, wo die Frauen ein viel größeres Maß an Emanzipation verwirklicht hatten, wird diese Sprache gerade von selbstbewußten Frauen abgelehnt. Uns scheint, daß Ihr mit Euren Sprachübungen nach guter alter deutsch-romantischer Tradition eher demonstriert, wie man die notwendige reale Emanzipation in die Köpfe verlegt.

5. Arbeiterklasse und Parteiaufbau

Eure Polemik gegen unsere Position, daß die drei Grundklassen der kapitalistischen Gesellschaft definiert werden durch ihr Verhältnis zum Eigentum (wobei in der Praxis Kapitalisten und Grundrentner tendentiell miteinander verschmelzen, ist eine Polemik gegen das ABC des Marxismus. Eure Argumentation genügt in dieser Hinsicht nicht einmal dem Anspruch der formalen Logik: Der Tatsache, daß alle Nichteigentümer von Kapital und Grundeigentum lohnabhängig sind und damit objektiv dem Proletariat angehören, kann schwerlich der Umstand entgegengehalten, werden, daß die Arbeiterklasse in sich differenziert ist, daß ihre verschiedenen Bestandteile, Schichten, Abteilungen darüberhinaus auf verschiedene Weise (funktionell, historisch und ideologisch) mit dem kapitalistischen Gesamtsystem und den herrschenden Klassen verbunden sind und, diesbezüglich stimmen wir überein, daß die Arbeiterklasse sich in einem beständigen Prozeß der Neuzusammensetzung befindet.

Marxistische Revolutionäre können sich aber in einer Vielzahl von selbstgeschaffenen theoretischen und praktischen Problemen verheddern, wenn sie nicht verstehen, daß das eigentliche strategische Problem für eine marxistische Organisation darin besteht, das Proletariat im Kampf gegen die herrschenden Klassen zu vereinheitlichen. Wir erinnern in diesem Zusammenhang zunächst an Lenins Position in der Diskussion zur Taktik auf dem 3. Weltkongreß der Komintern: “Die Kommunistische Internationale muß die Taktik auf folgendem aufbauen: Man muß unentwegt und systematisch um die Mehrheit der Arbeiterklasse, in erster Linie innerhalb der alten Gewerkschaften ringen” (Werke, Ergänzungsband 1917-1923; S. 328. Hervorhebung im Original). Das macht aber weder einen klaren Begriff dessen, was die Arbeiterklasse objektiv ist, entbehrlich noch eine Analyse der strukturellen und subjektiven Hindernisse, die das kapitalistische System der Realisierung dieser Aufgabe in den Weg gestellt hat. Aber die Aufgabe steht unabhängig davon vor den Marxisten.

Daß es Kernschichten der Arbeiterklasse gibt, die aufgrund ihrer Stellung im Prozeß der kapitalistischen Produktion und Gesamtreproduktion, ihrer Geschichte und ihrer Kampftraditionen für die Entfaltung des Klassenkampfs prädestiniert sind, eine herausragende Rolle zu spielen, ist seit 150 Jahren Konsens der marxistisch geprägten Arbeiterbewegung. Dies wird mit einiger Sicherheit auch heute von kaum einer linken Organisation bestritten.

Eure Schlußfolgerung daraus, daß nämlich bereits im frühesten Embryonalstadium der Entwicklung einer Partei diese, bzw. jede Gruppe und Kleinorganisation, die in Richtung Parteiaufbau arbeitet, einen Schwerpunkt ihrer Arbeit gerade nicht in den Gewerkschaften, sondern an diesen vorbei in direkte, unabhängige Betriebsarbeit legen muß, ist so simpel wie falsch. Nicht immer - und schon gar nicht in der Politik - ist der direkteste Weg der schnellste. Mit Eurer im Kern arbeitertümlerischen These, daß alle historischen Erweiterungen, alles Wachstum, alle Differenzierungen und Umgestaltungen der Arbeiterklasse "nichts an der Richtigkeit einer grundlegenden Ausrichtung auf jene Schichten, denen strategisch die größte Bedeutung zukommt" ändern, habt Ihr natürlich keinen Bedarf an einer differenzierten Analyse.

Ihr habt aber auch keinen Bedarf an einer umfassenden, politischen Konzeption des Klassenkampfs. Solange sich Eure strategisch relevanten Sektoren nicht bewegen, habt Ihr keinen Bedarf daran, über die Machtfrage und ihre Vermittlung in die Klasse nachzudenken und solange nicht wenigstens ein breiterer Sektor der Arbeiterklasse revolutionär handelt, benötigt Ihr natürlich auch kein Einheitsfrontkonzept in und gegenüber punktuellen politischen Mobilisierungen. Die Geschichte der Arbeitertümelei zeigt, daß Arbeitertümler keine Probleme haben, solche Bewegungen zu peripheren Angelegenheiten oder als kleinbürgerlichen Randerscheinungen abzustempeln - Einschätzungen, die sich in der Regel nur auf die Ideologien der politischen Führungskräfte dieser Bewegungen stützen, nicht auf eine klassensoziologische Analyse der Teilnehmer an solchen Bewegungen. Gerade da rächt sich Eure falsche Klassentheorie.

"Verankerung" im Proletariat heißt - und das ist zu unterstreichen - politische Verankerung. Sie bedeutet die politische Beeinflussung wenigstens marginaler Teile der Arbeiterklasse. Diese Verankerung ist nicht zu verwechseln mit der Verankerung von ein paar Handvoll oder Dutzend Mitglieder im gewerkschaftlichen und betrieblichen Bereich, zumal dies in der BRD noch lange nicht ohne weiteres bedeutet, sich politisch frei und offen äußern zu können. Die Verankerung des politischen Programms in der Arbeiterklasse verlangt nach einem Schwerpunkt darauf, sich in den politischen Kämpfen und Mobilisierungen als unabhängiger Faktor zu profilieren, sich bekannt zu machen, bei den fortgeschrittensten Elementen dieser (Teil-)Bewegungen Anerkennung und Einfluß zu gewinnen. Wir erwarten von unseren Mitgliedern, daß sie, wo immer möglich, diese Mobilisierungsarbeit auch unter ihren Kollegen in Betrieb und Gewerkschaft leisten. In dem Maße, wie dies gelingt, wird eine marxistische Organisation auch in den Kernschichten der Arbeiterklasse (aber nicht nur dort) Mitglieder gewinnen, als alternative Führung wahrgenommen und - bei erfolgreicher Arbeit - zunehmend akzeptiert werden.

Auf dieser politischen Ebene treten wir geschlossen und taktisch diszipliniert auf. Das wird auf betrieblich-gewerkschaftspolitischer Ebene auch dort gelten, wo es um aktuelle größere Kämpfe gehen wird und wir praktisch intervenieren können. Wir haben bisher auch keine Schwierigkeiten gehabt, den politischen Charakter von Streikbewegungen zu erfassen und präzise zu formulieren. Die Gewerkschaftsarbeit unserer wenigen Mitglieder zu "organisieren" und dabei die gewerkschaftlichen Taktiken organisiert festzulegen, hatten wir bisher mangels Mitgliedermasse leider keinen Anlaß.

Euer Postulat, das gerade diese Arbeit a priori organisiert werden muß, damit überhaupt von Organisations- und Parteiaufbau gesprochen werden kann, ist hübsch und als Polemik gelungen formuliert, hält aber keiner Überprüfung stand. Das Konzept der Konzentration auf Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit als strategische Achse des Parteiaufbaus kann sich weder auf Marx noch auf Lenin stützen. Es ist zum Scheitern verurteilt.

6. Veröffentlichung der Debatte

Wir beabsichtigen, unsere Diskussionsbeiträge unseren Sympathisanten und der interessierten linken Öffentlichkeit gegebenenfalls mit einer erläuternden Einleitung zugänglich zu machen. Wir werden Euren Wunsch, Eure Beiträge nicht zu veröffentlichen, selbstverständlich respektieren — obwohl wir dafür kein Verständnis aufbringen. Wir sehen niemandes Sicherheit gefährdet und können auch nicht erkennen, dass wir irgendeine strategische oder taktische Orientierung der RSO in Gefahr bringen. Soweit es um veröffentlichte Papiere geht, werden wir sie verlinken, damit sich Leserinnen und Leser auch selbst ein Bild von Euren Positionen machen können.

Mit solidarischen Grüßen

Die Leitung der Marxistischen Initiative