Arnold Schölzel:

Krieg rational

Eine Konferenz über Lenin in Berlin

Antiquarisches wurde nicht verhandelt. Den 25 Teilnehmern der Konferenz unter dem Titel "Lenin über den Zusammenhang von Imperialismus und Krieg", die am Sonnabend in Berlin von der Zeitschrift Kalaschnikow, dem "Arbeitskreis Marxistische Theorie und Politik" sowie junge Welt veranstaltet wurde, ging es zumeist um die Frage, welche Bedeutung zentrale Begriffe im Denken des russischen Revolutionärs für die Gegenwart haben. Die Meinungen prallten z. T. heftig aufeinander, es ging stets mit Blick auf die Gegenwart um politischen Opportunismus und Parteiensoziologie, um den Begriff der Epoche und den Marx-Leninschen Revolutionsbegriff, um marxistische Imperialismus- und Kriegstheorie, um die nationale Frage im "realen Sozialismus" und um dessen Untergang in Europa.

Mit letzterem beschäftigte sich ausführlich der Schriftsteller Gerhard Branstner (Berlin) unter dem Titel "Lenin: Was haben wir falsch gemacht?" und erläuterte seine Position eingangs mit einem Witz aus den Anfängen der DDR. Ein Kunde verlangt in der HO nacheinander Butter, Fleisch und Obst, nur um stets die Antwort zu erhalten: "Ham wa nich." Schließlich verlangt er ein Gewehr. Der Verkäufer: "Ham wa. Aber was wollen Sie damit?" - "Die Errungenschaften des Sozialismus verteidigen." Branstner schloß daran eine Argumentkette, die ihn zu der These führte: Es war falsch, die Überlegenheit des Sozialismus durch eine höhere Arbeitsproduktivität als im Kapitalismus erreichen zu wollen. Der Sozialismus sei eine "paradoxe Verfallsform des Kapitalismus" gewesen, die sich - angesichts von Millionen unter Stalin Ermordeter und Paralysierter in einem "permanenten Selbstmord" befunden habe. Die Sowjetunion habe so zwar die äußere, aber nicht die innere Bedrohung überstehen können. Hintergrund seiner Auffassung, machte Branstner deutlich, ist sein Konzept von der "Unterforderung der Geschichte" durch Theorie und Praxis des Marxismus. Weder von Marx noch von Lenin sei die Gesellschaft als "Organ der Anpassung" begriffen worden.

Der klassische Zusammenhang zwischen Politik und Krieg als Zweck-Mittel-Relation sei im gegenwärtigen Krieg wieder hergestellt, konstatierte der Friedensforscher Peter Feist (Berlin). Nachdem angesichts der nuklearen Bedrohung der Menschheit in den letzten Jahrzehnten die These vertreten worden sei, diese Relation habe sich aufgelöst, weil ein Nuklearkrieg das Ende der Menschheit und damit von Politik bedeute, gelte diese Relation erneut. Lenin habe mit dem erstmals von Clausewitz formulierten rationalen Kriegsbegriff das Wesen der Kriege des Frühimperialismus erfaßt. Angesichts der imperialistischen Massenheere, die Marx nicht kannte, sei für Lenin die zentrale Aufgabe der Arbeiterbewegung die Erhaltung des Friedens geworden und darüber hinaus die Immunisierung der in diesen Heeren dienenden Arbeiter und Bauern gegen die Kriegsideologie. Die Geschichte dieser Ideologie sei aber faktisch identisch mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Feist vertrat die Auffassung, die politische Linke müsse sich heute für den Erhalt der Wehrpflicht einsetzen, da eine Berufsarmee ein perfektes Unterdrückungsinstrument darstelle.

Professor Ingo Wagner (Leipzig) setzte sich in seinem Referat ausführlich mit der Auffassung auseinander, die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus sei seit 1990 beendet. Er hielt dem entgegen, daß die reale Möglichkeit des Sozialismus existiere, ohne "Wissen über das Wie und Ob". Auch die Alternative Absturz in die Barbarei existiere nach wie vor. Von einem "Sieg des Imperialismus" oder einer "Konsolidierung des Imperialismus" zu sprechen, sei aus seiner Sicht falsch. Nicht die Oktoberrevolution sei der Beginn der Übergangsepoche, sondern die Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Entstehen einer organisierten Arbeiterbewegung. Wagner sieht im "digitalen Kapitalismus" eine "Widerspruchsverdichtung", in der sich Elemente einer sozialistisch-kommunistischen Zivilisation ausbildeten. Die "neue Welt" existiere in alter Form, in ungenutzter evolutionärer Potenz. Aus dieser Sicht, so der Titel seines Referats, gelte: "Kommunismus ist modern".

Dieter Elken (Strausberg) wandte sich in seinem Vortrag gegen Ignoranz der politischen Linken in der nationalen Frage. Lenin habe die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses verschiedener Nationen zum entscheidenden Punkt seiner Theorie und Praxis gemacht. Er skizzierte die Verzweiflung Lenins über das faktische Scheitern der Sowjetunion in diesem Punkt kurz vor seinem Tode. Elken unterstützte die These, daß nationale Programme im Imperialismus noch an Bedeutung gewinnen, da es sehr wohl weiterhin nationale Kriege gebe und keine Revolution ohne nationale Aufstände verlaufe.

Die zweistündige Debatte im Anschluß an die Referate verlief z. T. kontrovers und damit offen. Bedarf an weiterer Verständigung existiert. Für das erste Juniwochenende hat das Marxistische Forum in der PDS aus Anlaß des Erscheinens von John A. Hobsons "Imperialismus" vor 100 Jahren zu einer Konferenz nach Berlin eingeladen.