Lenin-Porträt

Peter Feist



Der historisch-materialistische Kriegsbegriff bei Lenin


Was der Krieg eigentlich ist, diese Frage treibt die Philosophen und Gesellschaftstheoretiker schon seit langem um. Für Heraklit war er der Vater aller Dinge, wird oft fälschlich kolportiert, in der frühen Neuzeit galt er als ultima ratio der Politik, für manche war er eine große Furie und wieder andere sahen in ihm eine unvermeidbares Naturgesetz. Erst mit Clausewitz entstand ein rationaler, wissenschaftlicher Kriegsbegriff — seine berühmte Formel von dem Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen (nämlich gewaltsamen) Mitteln. Er erkannte als erster im Zusammenhang von Krieg und Politik eine Zweck- Mittel- Relation.

Marx und Engels haben dann auf dieser Basis den Kriegsbegriff des historischen Materialismus entwickelt.

Kernpunkte der Marx´schen Theorie[1] vom Krieg sind:

 

  1. die Anwendung von Gewalt in der Geschichte der Klassengesellschaft ist unvermeidlich und gesetzmäßig. In der gewaltsamen Aneignung der Hauptproduktionsmittel durch die herrschende Klasse und deren Verteidigung gegen andere liegt die tiefere Ursache für die Gewalt in der Geschichte und die Ursache der Kriege: der Sklavenhalter musste Sklaven erobern, der Feudalherr Boden und der Kapitalist Märkte und Rohstoffe.
  2. Krieg und Entstehung des Staates hängen unmittelbar zusammen, der Staat bringt unter anderem ein besondere Gruppe bewaffneter Menschen (Streitkräfte, Polizei) hervor, die in der arbeitsteiligen Gesellschaft den Schutz des Staates nach außen und die Niederhaltung der Ausgebeuteten nach innen übernimmt.
  3. Insbesondere Engels entwickelte ein tiefgehendes Verständnis von den verschiedenen Formen des Krieges, indem er die Abhängigkeit der militärischen Strategie vom besonderen Klassencharakter der jeweiligen Gesellschaftsform ableitete und zeigen konnte, dass die Entwicklung der Taktik des Gefechts jeweils ein genauer Reflex der Standes der Entwicklung der Produktivkräfte war.
  4. galt ihr besonderes Interesse dem Zusammenhang von Krieg und Revolution
  5. bei der Analyse des Kriege ihrer Zeit und der Frage, wie sich die Arbeiterklasse zu einem bestimmten Krieg stellen soll, legten sie den Schwerpunkt auf die Unterscheidung von Angriffs- und Verteidigungskriegen

 

Für Lenin war insbesondere der I. Weltkrieg Anlass, sich intensiv mit dem Phänomen des Krieges zu befassen. Dabei standen 2 Fragen im Mittelpunkt seiner theoretischen und propagandistischen Schriften:

  1. das Wesen des Krieges in der Periode des frühen Imperialismus, der durch den Kampf um die Neuaufteilung der Welt gekennzeichnet ist,
  2. der Zusammenhang von Krieg und Revolution.

 

Die beste Zusammenfassung seiner in den Jahren vor und während des I. Weltkrieges entwickelten Auffassungen findet sich in der berühmten Streitschrift “Sozialismus und Krieg” von 1915.:

“Die Sozialisten haben die Kriege unter den Völkern stets als eine barbarische und bestialische Sache verurteilt. Aber unsere Stellung zum Krieg ist eine grundsätzlich andere als die der bürgerlichen Pazifisten (der Friedensfreunde und Friedensprediger) und der Anarchisten. Von den ersteren unterscheiden wir uns durch unsere Einsicht in den unabänderlichen Zusammenhang der Kriege mit dem Kampf der Klassen im Innern eines Landes, durch die Erkenntnis der Unmöglichkeit, die Kriege abzuschaffen, ohne die Klassen abzuschaffen und den Sozialismus aufzubauen, ferner auch dadurch, daß wir die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit von Bürgerkriegen voll und ganz anerkennen, d. h. von Kriegen der unterdrückten Klasse gegen die unterdrückende Klasse, der Sklaven gegen die Sklavenhalter, der leibeigenen Bauern gegen die Gutsbesitzer, der Lohnarbeiter gegen die Bourgeoisie. Von den Pazifisten wie von den Anarchisten unterscheiden wir Marxisten uns weiter dadurch, daß wir es für notwendig halten, einen jeden Krieg in seiner Besonderheit historisch (vom Standpunkt des Marxschen dialektischen Materialismus) zu analysieren. Es hat in der Geschichte manche Kriege gegeben, die trotz aller Greuel, Bestialitäten, Leiden und Qualen, die mit jedem Krieg unvermeidlich verknüpft sind, fortschrittlich waren, d. h. der Entwicklung der Menschheit Nutzen brachten, da sie halfen, besonders schädliche und reaktionäre Einrichtungen (z. B. den Absolutismus oder die Leibeigenschaft) und die barbarischsten Despotien Europas (die türkische und die russische) zu untergraben. Wir müssen daher die historischen Besonderheiten eben des jetzigen Krieges untersuchen.”[2]

 

In theoretischer Hinsicht sind zwei Herangehensweisen Lenins aus diesem Zitat besonders wichtig:

 

  1. er fordert den Krieg nicht bloß einfach moralisch zu verurteilen, sondern jeden Krieg auf seine jeweils besonderen Ursachen, Bedingungen und Klassenkonstellationen hin konkret zu untersuchen.
  2. er führte die Unterscheidung von gerechten und ungerechten Kriegen neuen in die Debatte ein, wobei er nach eigener Angabe dabei auf einen Gedanken von Wilhelm Liebknecht zurückgreift[3].

 

 

 

Als erstes nun etwas genauer zum Thema:

 

I. Krieg im imperialistischen Zeitalter

 

Bei seiner Analyse von Wesen und Charakter imperialistischer Kriege, für die er eine allgemeine Barbarisierung der Kampfformen und eine Vervielfachung des Elends für die Bevölkerung voraussagt, kommt er zu einer veränderten Akzentuierung im Vergleich zu Marx und Engels. Während die beiden noch davon ausgingen, dass die Arbeiterklasse den Ausbruch eines Krieges zwischen kapitalistischen Ländern nicht verhindern könnte, sie aber sehr wohl die Pflicht habe, die Erschütterung der Herrschaft, die jeder Krieg darstellt, für eine Revolution auszunutzen, sah Lenin eine neue historische Aufgabe: die zentrale Aufgabe der Arbeiterklasse im Zeitalter des Imperialismus sei der Kampf um die Erhaltung des Friedens.

 

Dafür waren auch neue Möglichkeiten und Bedingungen herangereift. In der marx´schen Periode bestimmten noch kleinere stehende Heere, z.T. noch von Relikten der Feudalherrschaft dominiert, das Militärwesen. Das Zeitalter des Imperialismus dagegen ist von bürgerlichen Massenheeren bestimmt, indem es nun nicht mehr eine sozial verselbständigte Kaste von Berufskriegern gibt, sondern Wehrpflichtige, Arbeiter und Bauern, die allein durch ihr quantitatives Gewicht die Militärverfassung grundlegend veränderten.

Darin lag auch die Möglichkeit, wie auf dem berühmten Kongress der II. Internationale in Basel beschlossen, den Ausbruch des I. Weltkrieges in eine internationale Revolution umzuwandeln, objektiv begründet.

Aus dieser veränderten sozialen Zusammensetzung der Massenheere der imperialistischen Staaten folgt auch eine ganz andere Rolle der Kriegsideologie und des ideologischen Kampfes, erkannte Lenin. Die Bourgeoisie ist gezwungen, den Volksmassen ihre klassenegoistischen Kriegsziele so zu verschleiern und durch Propaganda so umzuinterpretieren, dass sie als die Verteidigung “nationaler Interessen” erscheinen. Sie muß die Werktätigen nicht nur schlechthin ideologisch kriegsbereit machen, sondern auch gegen die sozialistische oder pazifistische Friedenspropaganda immunisieren. Wie hochaktuell diese Frage ist, beweist nicht nur die gesamte Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, das können wir als “Nation im Krieg” täglich in den Massenmedien beobachten.

 

Ein weiterer aktueller Bezug aus Lenins Analysen über den Zusammenhang von Imperialismus und Krieg ergibt sich aus seiner These, dass dem Kampf gegen den Sozialchauvinismus, also das Eindringen bürgerlich-nationalistischer Kriegsideologie in die Arbeiterklasse und die sozialistischen Parteien, Vorrang zukommt.

Der Sozialchauvinismus ist nach Lenin charakterisiert durch:

Diese 3 Punkte können unverändert als Maßstab für die Bewertung von heutigen linken Parteien in Deutschland gelten!

Lenin fasst zusammen: Wer nicht das selbständige Klasseninteresse der Arbeiterklasse verfolgt, wer sich im Namen der Vaterlandsverteidigung mit der Bourgeoisie verbündet, der betreibt offen bürgerliche Politik.[4]

Es gab noch eine weitere Veränderung: Während der Kapitalismus in seiner ersten Phase noch der Befreier von feudaler Unterdrückung sein konnte, deshalb auch gerechte Kriege führte, war der Imperialismus zum Unterdrücker der Nationen geworden — worauf D. Elken in seinem Referat besonders eingehen wird.

 

Bei der Entwicklung des militärischen Wesens des Krieges gab es im 20. Jahrhundert einen qualitativen Wandel durch die 1.) Einführung der Kern(Nuklear)waffen und 2.) der interkontinentalen Raketenwaffen als deren Trägermittel, die in dieser Kombination die technische Möglichkeit für die Selbstvernichtung der Menschheit geschaffen haben. Das führte auch zu der Frage nach der Aktualität des leninschen Kriegsbegriffs.

Anfang der 80-ziger Jahre kam es in den Staaten des Warschauer Vertrages zu einem Umdenken. Dieses “neue Denken” führte zu einer neuen Strategie (“Prager Deklaration”): Der Krieg wurde als nicht mehr “führbar” bezeichnet, weil es nicht mehr moralisch vertretbar war, ihn zu führen. Es kam zum freiwilligen Verzicht auf den Ersteinsatz (Erstschlag) von Atomwaffen, der in Rede stehende weltweite Raketen-Kernwaffen-Krieg wurde offiziell als “Ende der Politik” bezeichnet.

“Hat nun Lenin nicht mehr Recht ?” wurde damals gefragt.

Aus historisch-materialistischer Sicht muß man darauf folgende Antwort geben: In einem weltweiten Raketen-Kernwaffen-Krieg löst sich tatsächlich der Zusammenhang von Politik und Anwendung bewaffneter Gewalt auf. Der Zusammenhang von Krieg und Politik stellt philosophisch gesehen eine Zweck-Mittel-Relation dar. Wenn man nun einen solchen Krieg führt, kommt es zur Auflösung dieser Zweck-Mittel-Relation, denn der Zweck, das Ziel, lässt sich mit diesem Mittel nicht mehr realisieren, d.h. der Krieg lässt sich nicht gewinnen und damit ist kein einziges politisches Ziel erreichbar. Philosophisch gesehen kommt es zur “Entmittlung des Zwecks”.

Dies ist in theoretischer Hinsicht keineswegs neu: schon Clausewitz kannte den Begriff (die Möglichkeit) des “absoluten Krieges”, ein Krieg, den er sich als eine reine Vernichtungsorgie vorstellte, in dem Zweck und Mittel, Krieg und Politik nicht mehr zu unterscheiden seien.

 

Trotzdem, und dies ist unbedingt notwenig anzumerken, gilt und galt Lenins Definition. Wer einen Krieg vorbereitet, Armeen zur Kriegführung aufstellt und bewaffnet, aufrüstet, den Entschluss zum Krieg fasst, ihn dann tatsächlich anfängt, - handelt gemäß seinem Klasseninteresse, in Weiterverfolgung seiner vorher stattgefundenen Politik, unabhängig davon, ob er mit dieser Politik in diesem Krieg erfolgreich ist oder sein kann.

 

Außerdem: auch damals (Anfang der achtziger Jahre) gab es unterhalb der Schwelle des weltweiten Raketen-Kernwaffen-Krieges, kleinere, regional begrenzte Kriege, in denen sich der Zusammenhang von Krieg und Politik nicht auflöste, die sozusagen nach klassischem Muster funktionierten. Dieser Hinweis ist heute aktueller denn je, denn mit dem Wegfall der systemantagonistischen Kriegsgefahr, sind “normale” Kriege wieder führbar geworden und werden auch geführt. So wird zum Beispiel im Augenblick nicht “gegen den Terror” Krieg geführt, sondern um Öl und andere geostrategische Interessen.

 

 

II. Schwerpunkt

Krieg und Revolution

 

Man könnte denken, in unseren “nicht-revolutionären” Zeiten sei diese Frage nicht so wichtig, aber es gibt dazu einen höchst aktuellen Bezug. Zur Zeit gibt es in Deutschland eine Debatte um die Wehrpflicht, also die Frage, ob die jetzige Bundeswehr durch eine Berufsarmee ersetzt werden soll.

Im Gegensatz zu den meisten Linken bin ich, sozusagen mit Lenin, unbedingtfürden Erhalt der Wehrpflichtigenarmee. Denn was viele vergessen: eine sozial von der Gesamtbevölkerung weitgehend isolierte, in Form einer militärischen Kriegerkaste organisierte Berufsarmee wäre das perfekte Unterdrückungsinstrument für die Bourgeoisie. Wer´s nicht glaubt, dem empfehle ich ein gründliches Studium der Geschichte der Reichswehr in der Weimarer Republik.

 

Unsere heutigen Linken und Halblinken wollen uns einreden, es sei besonders revolutionär, jetzt eine Berufsarmee zu fordern, damit junge Leute keine staatlichen Zwangsdienste leisten müssen. Das ist gar nicht so neu, wie mancher meinen wird. Auch zu Lenins Zeiten forderten Opportunisten und Totalpazifisten so etwas ähnliches. Ihre Forderung hieß nicht Abschaffung der Wehrpflicht, sondern “allgemeine Entwaffnung”.

Lenin sagte zu seinen zeitgenössischen Entwaffnern: “Die Opportunisten wären froh, wenn wir ... uns selbst ... in ein Wolkenkuckucksheim einer “Entwaffnung”(ließ: Berufsarmee) vor der schlechten Wirklichkeit drücken. Entwaffnung ist nämlich Flucht aus der schlechten Wirklichkeit, kein Kampf gegen sie”[5]

Niedergelegt in seiner bis heute grundsätzlichen Schrift ”Das Militärprogramm der proletarischen Revolution” vom September 1916 (!), also inmitten des imperialistischen Krieges.

 

Programmatisch auch der folgende Satz: “Die Sozialisten können nicht gegen jeden Krieg sein, ohne aufzuhören, Sozialisten zu sein zu sein”[6].Denn, so argumentiert er weiter:“Bürgerkriege sind auch Kriege. Wer den Klassenkampf anerkennt, kann nicht umhin, auch Bürgerkriege anzuerkennen. Die in jeder Klassengesellschaft eine natürliche, unter gewissen Umständen unvermeidliche Weiterführung des Klassenkampfes darstellen” [7]

 

Das ist der Knackpunkt: auch unsere Wehrpflichtgegner wollen keinen Kampf gegen die schlechte Wirklichkeit; sie wollen nur einen individuellen Ausweg aus der persönlichen Verantwortung. Schon gar nicht könne sie sich einen, wie auch immer gearteten, Bürgerkrieg vorstellen. Wer also Abschaffung der Wehrpflicht fordert, verrät die langfristigen Interessen der Arbeiterklasse, verlangt im Kern den Verzicht auf die Revolution, um nichts geringeres geht es.

Dazu wieder Lenin: “Und es ist wissenschaftlich gar nicht richtig — und gar nicht revolutionär - wenn wir eben das wichtigste, die Niederwerfung des Widerstandes der Bourgeoisie, das Schwierigste, das am meisten Kampf Erfordernde im Übergange zum Sozialismus umgehen oder vertuschen. Die “sozialen” Pfaffen und Opportunisten sind gerne bereit, von dem zukünftigen friedlichen Sozialismus zu träumen, sie unterscheiden sich aber von den revolutionären Sozialdemokraten eben dadurch, dass sie von erbitterten Klassenkämpfen und Klassenkriegen, um diese schöne Zukunft zur Wirklichkeit zu machen, nicht denken und sorgen wollen”.[8]

Und noch schärfer sagt er:

”Eine unterdrückte Klasse, die nicht danach strebt, Waffenkenntnis zu gewinnen, in Waffen geübt zu werden, Waffen zu besitzen, eine solche unterdrückte Klasse ist nur wert, unterdrückt, misshandelt und als Sklave behandelt zu werden”.[9]

Dies ist die geschichtliche Dimension, um die es bei der Debatte um die Wehrpflicht geht, also nicht nur eine Frage der Militärpolitik, sondern eine grundsätzliche Frage für die Perspektive unseres Kampfes für die Befreiung der Menschheit.

Sollen wir nun gar nicht machen? Doch! Lenin will eine Demokratisierung der stehenden Heere und stellt folgende (heute noch aktuelle) Forderungen auf:

 

Anliegen der Lenin-Konferenzen ist es, die Aktualität und Bedeutung von Lenins Werk für unsere heutigen Aufgaben nachzuweisen, ihn “zurückzuholen” in die Debatte. Ich hoffe, dazu einen Beitrag geleistet zu haben.

 


Anmerkungen

[1]siehe dazu ausführlich Marx-Engels-Werke, Band 20, Gewaltstheorien, und die militärtheoretischen Aufsätze von Engels in MEW, Band 14
[2]Lenin-Werke (LW) Bd. 21, S. 299
[3]LW 21, S. 299 ff
[4]LW 21, S. 309
[5]LW 23, S. 80
[6]LW 23, S. 72
[7]LW 23, S. 79
[8]LW 23, 74
[9]LW 23, 75
[10]LW 23, S. 81