Über die Erfahrung hinaus

Wozu Philosophie? Wozu marxistische Philosophie?

Teil I: Immanuel Kants Erkenntnistheorie als Modell für die Begründung philosophischen Denkens und dessen Aufbau

Von Friedrich Kumpf [1]

Philosophie und namentlich marxistische Philosophie scheint unter heutigen Akteuren linker oder halblinker Politik nur noch eine geringe Rolle zu spielen. Philosophie und überhaupt Theorie gelten wohl nicht wenigen als etwas Hinderliches in ihrem pragmatischen Politikverständnis und möglicherweise sogar in die Irre führendes. Konjunktur hat philosophisches Gedankengut unter Linken heute nicht.

Natürlich stellt sich die Frage: Wozu braucht man Philosophie? Die Frage mündet in die seit mehr als zweitausend Jahren immer aktuelle Frage, was sie denn sei. Daß sie auch nach zwei Jahrtausenden nichts an Aktualität eingebüßt hat, erleichtert es nicht gerade, auf sie eine zufriedenstellende Antwort zu finden, zumal in diesem Zeitraum so viele verschiedene Philosophien entstanden sind, von denen nicht wenige einander direkt ausschließen und alle zusammen ein solches Gedankengewirr zu bilden scheinen, das kaum zu durchdringen ist.

Die Anfänge

Dabei hat philosophisches Denken seine Wurzeln in der Natur des Menschen selbst. In ihr liegt der im einzelnen sehr unterschiedlich ausgeprägte Drang, über das ihm in der realen Erfahrung Gegebene hinaus zu denken. Lange bevor Menschen anfingen, sich die Welt auf rationale Weise wissenschaftlich zu erschließen, begnügten sie sich nicht mit dem in ihrem unmittelbaren Erfahrungsfeld durch ihren praktischen Umgang mit ihrer Umwelt gewonnenen Erfahrungswissen. Schon in dieser Frühzeit wollten sie wissen, was denn hinter dem unmittelbar Erfahrenen noch ist, was Letzteres vielleicht hervorbringt oder bestimmt. Diverse Naturreligionen und Formen von Fetisch- und Götterglauben sind nicht zuletzt daraus entstanden. Auf oft höchst phantastische Weise wurde in ihnen das vorhandene Erfahrungswissen über die historische Erfahrungsgrenze hinaus vorgestellt und in nicht selten bizarren Gedankengebilden weitergedacht. Die allmähliche Formierung und Entwicklung wissenschaftlicher Welterkenntnis hat zwar entscheidend dazu beigetragen, die Erfahrungsgrenze der Menschen bedeutend zu erweitern, aber die Frage nach dem Dahinter nicht überflüssig gemacht. Mit ihr war die Philosophie in ihrer Entstehung und ist sie in ihrem Wesen bis heute aufs engste verbunden. Letzten Endes könnte man sie als rationale Form dieser Fragestellung und der diversen Versuche, auf sie eine Antwort zu geben, bestimmen.

Mit der Entwicklung wissenschaftlichen Denkens erweiterte sich nicht nur der Kreis unserer Welterkenntnis. Ihm immanente Prinzipien bestimmten zunehmend auch das Weiterdenken über diesen Kreis historisch möglicher wissenschaftlicher Erkenntnisse hinaus. Dabei wurde bei den frühen Philosophen noch kaum zwischen empirisch fundierter wissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischem Weiterdenken über sie hinaus unterschieden. Dennoch wurde die Grundlage für diese Unterscheidung schon hier gelegt. Wenn Thales von Milet (geb. um 624 v.u.Z., gest. um 546 v.u.Z.), der wohl nicht zu unrecht als erster europäischer Philosoph gilt, eine Sonnenfinsternis vorhersagte, dann handelte es sich um eine empirisch fundierte und durch ihren Eintritt auch empirisch verifizierte wissenschaftliche Aussage. Wenn er als einer der ersten darüber nachdachte, was wohl der vielfältigen Welt mannigfacher Formen und Dinge, die sich unseren Sinnen darbietet, letztlich zugrunde liegen mag, worin die Einheit dieser von uns wahrgenommenen Vielfalt besteht, dann vollzieht er einen gedanklichen Schritt über das empirisch Erfahrbare hinaus, einen Transzensus, um es in der Sprache späterer Philosophien zu sagen. Die Frage führt letztlich ins Unendliche und entzieht sich damit dem empirischen Zugriff. Die Antwort des Thales, daß es das Wasser sei, aus dem alles geworden ist und das allem zugrunde liegt, aber zeigt, daß Thales die Antwort nicht im Mythischen, nicht in einer Welt der Geister und Götter suchte, sondern im Natürlichen, nicht in einem rational nicht zu erfassenden Jenseits, sondern mit Hilfe rationalen Denkens in einer diesem Denken zugängigen diesseitigen Welt.

So naiv uns heute dieser Gedanke des griechischen Denkers vorkommen mag, so war er doch eine Revolution im gedanklichen Erfassen der Welt. Auf die Frage nach dem Urgrund der Dinge, eine Frage, welche über das uns in unseren Sinnen Gegebene zwangsläufig hinausführt, hatte er die Antwort nicht in einer mythischen Phantasiewelt gesucht, sondern in der realen, ihm empirisch zugänglichen Welt selbst. Der Gedanke entsprang nicht mythischer Schwärmerei, sondern wissenschaftlich orientiertem Denken. Der genannte Transzensus charakterisierte die weitere Entwicklung des philosophischen Denkens. Allerdings wird er von den jeweiligen Denkern und Denkrichtungen von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen aus und auf die verschiedenste Weise vollzogen. Die auf Thales folgende frühe Blütezeit der Philosophie zeigt uns das schon deutlich. Auf zwei Beispiele sei noch verwiesen. Durchaus im Sinne des Denkansatzes des Thales wird Demokrit (geb. um 460 v.u.Z., gest. um 370 v.u.Z.) etwas später ein Gedankengebäude entwerfen, in dem dieser philosophische Transzensus zu einer spekulativen Antizipation der atomaren Struktur des Weltganzen führt. In der Philosophie des Plato (geb. 427 v.u.Z., gest. 347 v.u.Z.) hingegen führt der philosophische Schritt über die erfahrbare Welt hinaus zur Konstruktion eines Reichs der Ideen als bestimmender Grundlage des Bestehenden. Bei ihm bedeutet der philosophische Transzensus eine Hypostasierung (Vergegenständlichung) oder Substanzialisierung menschlicher Ideen. Die wirklichen Dinge haben auf nicht näher erklärte Weise Anteil an den Ideen und werden so zu einer Art Abbild von ihnen. Hier handelt es sich um zwei gegensätzliche Arten des philosophischen Transzensus, der zu durchaus divergierenden Weltbildern führt. Es ist ein grundlegender Unterschied, ob ich die Welt als durch sich selbst bestimmt wie bei Demokrit betrachte, oder ob ich in ihr den Widerschein einer jenseits ihrer angesiedelten Welt der Ideen, wie bei Plato, sehe.

In dieser Frühzeit der Philosophie erweitert sich auch erheblich der Kreis der philosophischen Fragestellungen. Fragen nach dem Menschen und seinem Verhalten sich selbst und anderen gegenüber bestimmen ebenso das philosophische Interesse wie auch optimale Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Auch die Erkenntnis selbst, Fragen nach ihrem Wesen, ihren Möglichkeiten und Wegen sowie nach den Formen und Grundbegriffen des Denkens bestimmen von da an die Ausrichtung des philosophischen Denkens mit. Hier kann die Entwicklungsgeschichte der Philosophie natürlich nicht verfolgt werden. Statt dessen sei ein philosophisches Gedankengebäude herausgegriffen, von dem man sagen kann, daß das ihm zugrunde liegende Selbstverständnis von Philosophie helfen kann, klärend bei der Suche nach einer Antwort, was Philosophie sei, zu wirken. Gemeint ist die kritische Philosophie Immanuel Kants (1724—1804).

Kant und die Metaphysik

In seinem Hauptwerk »Kritik der reinen Vernunft« (1781) untersucht Kant die Möglichkeit von Mathematik, reiner Naturwissenschaft und Metaphysik. Bei den ersten beiden geht es ihm nicht darum, ob sie möglich sind; das steht für ihn außer Frage — sondern um ihre philosophische Begründung, um das grundsätzliche Wie der Möglichkeit mathematischer und naturwissenschaftlichen Wissens. In einer solchen Untersuchung sieht er eine originäre Aufgabe der Philosophie, die berufen ist, die allgemeinen Voraussetzungen menschlicher Erkenntnis aufzuhellen. Bei der dritten Fragestellung handelt es sich hingegen darum, ob es Metaphysik, also philosophische Welterkenntnis überhaupt als Wissenschaft geben kann. Seine Antwort hierauf ist »Nein«. Dabei geht es dem großen Denker gerade um die Fundierung metaphysischer Erkenntnis. In ihr, in der spekulativen Erschließung des Totums Welt, sieht er die vornehmste Aufgabe der Philosophie. Das verlangt eine realistische Bewertung philosophischer Welterkenntnis und ihrer Ergebnisse.

In der philosophischen Welterkenntnis vollzieht das Denken nach Kant einen grundsätzlichen Transzensus. Es überschreitet die Grenze möglicher Erfahrung; wohlgemerkt nicht die Grenze vorhandener Erfahrung. Eben damit begibt sie sich der Möglichkeit, den Rang einer Wissenschaft einzunehmen, denn wissenschaftliche Erkenntnis ist für ihn letztlich immer auf bestimmte und notwendige Weise geordnete Erfahrung. Da der uns in der Sinneswahrnehmung gegebenen unmittelbaren Erfahrung weder Allgemeinheit noch Notwendigkeit innewohnen, können diese nur auf andere Weise in unser Wissen kommen. Es sind nach Kant vor jeder Erfahrung gegebene allgemeine Denkbestimmungen, die apriorischen Kategorien, welche rationales Denken bestimmen. Sie erlauben es uns demnach, von den Sinnen gelieferte unmittelbare Wahrnehmung zu allgemeinen Dingen und notwendigen Verhältnissen zusammenzufassen. So ermöglicht uns nach Kant erst die Kategorie »Kausalität« in der steten Aufeinanderfolge bestimmter Sachverhalte nicht nur ein zeitliches Hintereinander, sondern ein Kausalverhältnis zu erkennen. Schon einen Sachverhalt als allgemeinen zu denken, setzt die Kategorie »Allheit« voraus. Diese und alle anderen von Kant dem Denken zugrunde gelegten Kategorien müssen nach dessen Auffassung vor jeder Erfahrung, also a priori, im Bewußtsein sein, da sie nicht aus der sinnlichen Erfahrung stammen können. Sie sind für ihn eine geistige Gegebenheit. Bei ihnen handelt es sich um eine Art Regel der Zusammenfassung, der Synthesis des Wahrgenommenen. Wissenschaftliche Erkenntnis ist eine solche Synthesis. In ihr vereinigen sich in den Kategorien a priori gegebene Denknotwendigkeiten mit letztlich der Sinneserkenntnis entspringendem Wissen. Kausalität können wir unabhängig von sinnlichen Gegebenheiten denken, aber dieser Gedanke ist nach Kant keine Erkenntnis, sondern nur eine gedankliche Konstruktion, die erst zu Erfahrungswissen oder wissenschaftlicher Erkenntnis wird, wenn in ihr Wahrnehmungswissen zusammengefaßt wird. Wissenschaft setzt daher immer die Vereinigung dieser beiden Ebenen voraus: Wahrnehmung und kategoriales Denken.

In der Metaphysik, also in dem Bestreben, die Welt auf philosophische Weise gedanklich zu erfassen, sieht Kant diese Vereinigung nicht. Da sie notwendig mit ihrem spezifischen Denken über jede Erfahrungsgrenze hinausgeht, denn sonst würde es sich um konkrete Wissenschaft und nicht um Philosophie handeln, können ihre Denkergebnisse nicht die Zusammenfassung letztlich auf Wahrnehmung beruhender Erkenntnisse zu wissenschaftlichen Begriffen sein. Kant versucht nun, die Frage zu beantworten: Was wird dann in ihr gedacht und welchen Wert haben ihre Denkresultate. Sehr verkürzt besteht die Antwort in folgender Überlegung. Wenn die Welt jenseits möglicher Erfahrung gedacht wird, bleibt dem Denken nur eine Möglichkeit, wenn es nicht einfach in Phantasterei verfallen will. Es denkt sie entsprechend den Prinzipien, welche die Grundlage rationalen Denkens ausmachen ohne die Möglichkeit, das dabei Gedachte an der empirischen Wirklichkeit zu überprüfen. Es handelt sich daher um reine Gedankengebilde. Wenn auf diese Weise zum Beispiel die Welt als unendlich gedacht wird, so kann die Philosophie nicht zuverlässig sagen, ob die Wirklichkeit dem entspricht oder nicht, denn die menschliche Erfahrung ist endlich, weshalb das Unendliche grundsätzlich nicht erfahrbar ist. Ähnlich ist es mit der Kategorie der Freiheit. Wenn das philosophische Denken menschliche Willensfreiheit denkt, dann konstruiert sie diese im Rahmen der theoretischen Philosophie aus rein gedanklichen Elementen, denn in der empirischen Wirklichkeit lassen sich für jede Handlung sie bestimmende Ursachen nachweisen, was den Gedanken der Willensfreiheit zu widerlegen scheint. Kant meint das Problem philosophisch dadurch gelöst zu haben, daß er den Menschen gewissermaßen als ein Doppelwesen interpretiert: einerseits als ein Naturwesen, als welches er ganz den Naturgesetzen und Determinationszusammenhängen unterworfen ist, und andererseits als intelligibles Wesen, welches über Vernunft verfügt und aus ihr heraus, also aus sich selbst über sein Handeln entscheiden kann und daher über Willensfreiheit verfügt. Aber im Rahmen theoretischer Philosophie bleibt das eine rein gedankliche Konstruktion.

Kant bezeichnet solche Denkergebnisse der theoretischen Philosophie oder Metaphysik im Unterschied zu den Begriffen erfahrungsgebundenen wissenschaftlichen Denkens als transzendentale oder Vernunftsideen. Da sie im Rahmen eines philosophischen Weltbildes kein Erfahrungswissen konstituieren können, spricht Kant ihnen eine konstitutive Bedeutung im Rahmen der theoretischen Philosophie ab. Sie konstituieren keine Gegenstände einer erfahrbaren Welt. Wenn der Philosoph dennoch viel Mühe darauf verwendet, sie aus den Voraussetzungen rationalen Denkens, die er in dem von ihm entwickelten Kategoriesystem erblickt, als rationale Gedankengebilde abzuleiten, dann deshalb, weil er sie für philosophisch durchaus relevant hält. Er geht davon aus, daß er mit ihrer theoretischen, rein gedanklichen Entwicklung ihre rationale Denkbarkeit nachgewiesen hat. Aus diesem Grunde spricht Kant den Vernunftsideen wohl eine konstitutive Bedeutung ab, aber eine regulative Bedeutung zu. Das will besagen, daß der Mensch, ohne eine solche Idee, z.B. die der Freiheit, auf eine erfahrbare Wirklichkeit beziehen zu können, sich zu ihr als eine Art Denk- und Handlungsregulativ verhalten kann, oder, wie Kant es in den »Prolegomena« formuliert, sich so verhalten kann, als ob es sie gebe, ohne sich dabei in das Reich des Irrealen oder Phantastischen zu begeben.

Reale Bedeutung erhalten diese regulativ fungierenden Vernunftsideen nach Kant aber außerhalb der Metaphysik bzw. theoretischen Philosophie auf einem anderen philosophischen Felde, welches Kant für nicht minder wichtig hält: der praktischen Philosophie. Ihr Gegenstand ist nicht die reine Vernunft wie in der theoretischen Philosophie, sondern die praktische Vernunft. Deren Gegenstand sieht Kant in dem, was er Bestimmungsgründe des menschlichen Willens nennt. Während er der theoretischen Philosophie die Möglichkeit verweigert, ihren Ideen Realität zuzusprechen, gewinnen sie in der praktischen Philosophie Realität, eben in praktischer Hinsicht. Mit anderen Worten: Die Vernunftsideen erhalten Realität als Bestimmungsgründe des Willens. Als theoretische Idee, das heißt als Moment des philosophisch-theoretischen Weltbildes hat Freiheit keine Realität, da in der empirischen Welt alles determiniert ist. In der praktischen Philosophie aber, in welcher er den Menschen unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wodurch und wie seine Entscheidungen und Handlungen bestimmt werden, kommt Kant zu dem Ergebnis, daß die Freiheit Realität hat, weil der Mensch über die Fähigkeit verfügt, auch nur aus Vernunftsgründen, d. h. allein aus sich selbst heraus, zu handeln. Daraus leiten sich für Kant überaus wichtige Konsequenzen für das menschliche Handeln ab: die Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun und jenes Handlungsgebot, welches als kategorischer Imperativ bekannt geworden ist.

Grundstruktur rationaler Philosophie

Hier interessiert nicht so sehr die inhaltliche Seite der Kantischen Philosophie, sondern seine Auffassung von dem, was Philosophie ist und kann. Es zeichnen sich dabei drei grundlegende Bereiche philosophischen Denkens ab. Ein Gebiet ist die Untersuchung der Voraussetzungen und Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis, insbesondere theoretischer Wissenschaft. Das zweite ist das nicht abzuweisende Bestreben, die Welt allein mit dem Denken über jede Erfahrungsgrenze hinaus gedanklich zu erfassen. In beiden Fällen ist für Kant der spezifisch philosophische Gegenstand ein ideeller. Im ersten handelt es sich um die nicht im Empirischen gegebenen und darum unabhängig von diesem, also a priori dem menschlichen Denken in den Kategorien zugrunde liegenden allgemeinen Strukturen rationalen Denkens. Im zweiten Falle ist der Gegenstand des Philosophierens der gedankliche Raum jenseits aller möglichen Erfahrung, in welchen der philosophische Gedanke auf spekulative Weise dennoch sinnvoll vordringen kann, wenn er sich von den auf dem ersten Gebiet untersuchten allgemeinen Prinzipien und Strukturen rationalen Denkens leiten läßt. In beiden Fällen vollzieht nach Kant das philosophische Denken jenen grundsätzlichen Transzensus über das Erfahrbare hinaus, den wir schon in den Anfangsgründen der Philosophie feststellen konnten. Im dritten großen Gebiet des philosophischen Gedankens holt Kant dieses Denken gewissermaßen wieder zurück in den Bereich menschlicher Erfahrung. Hier geht es nicht um das reine Denken der Welt und seine allgemeinen begrifflichen Grundlagen, sondern um des Menschen Denken, bezogen auf dessen Handeln in der Gesellschaft mit anderen Menschen. Hier gewinnen die im zweiten Bereich nur als Denkmöglichkeiten erschlossenen philosophischen Ideen, die darum auch keine Wirklichkeitserkenntnis konstituieren, wirkliche Realität als Gesetze bzw. Postulate praktischen Handelns der Menschen in der Gesellschaft.

Diese Grundstruktur der Kantischen Philosophie geht in ihrer Bedeutsamkeit über dessen Lehre hinaus. Natürlich nicht in dem Sinne, daß jede rationale Philosophie die Struktur der kritischen Philosophie aufweisen müsse. Gemeint ist vielmehr die Einsicht Kants, daß philosophische Weltsicht über die Erkenntnis der exakten Wissenschaften und die Alltagserfahrung der Menschen auf diese oder jene Weise hinausgeht, sonst wäre sie nicht nötig, es sei denn als zusammenfassendes Kompendium der wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Zeit. Philosophieren im eigentlichen Sinne heißt, über gesicherte Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnis hinaus zu denken. Aus diesem Grunde kann Philosophie auch nicht den Anspruch erheben, Wissenschaft im strengen Sinne dieses Wortes zu sein.

Nicht minder bedeutsam für das Verständnis von Philosophie ist die Einsicht Kants, daß im Unterschied zur Metaphysik, d. h. zur theoretischen Philosophie, deren Erkenntnisse hinsichtlich der Gesellschaft und des Handelns der Menschen in ihr einen unmittelbaren Realitätsbezug haben können. Der Grund ist einfach: Die philosophischen Ideen, deren rationale Denkbarkeit in der theoretischen Philosophie nachgewiesen wurde, können hier zu Bestimmungsgründen des menschlichen Willens werden und damit seiner Entscheidungen und seines Handelns, also auch bestimmend für die Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Kant selbst war es dabei um die Realisierbarkeit von Vernunft im menschlichen Handeln und in den gesellschaftlichen Verhältnissen gegangen.

Der hier charakterisierte Typus von Philosophie geht von der Rationalität wissenschaftlicher Erkenntnis, auf die sie sich stützen kann, aus. Ihr spekulatives Weiterdenken erfolgt auf dieser rationalen Grundlage und erstrebt ein rationales philosophisches Weltbild und eine entsprechende Sicht auf Mensch und Gesellschaft. Bekanntlich gilt das nicht für jede Philosophie. Da uns Philosophie unter dem Gesichtspunkt rationaler Wissenserweiterung und Weltorientierung beschäftigt, soll hier auf Philosophien, welche eine solche Ausrichtung negieren und zum Teil heftig bekämpfen, nicht eingegangen werden. Es wäre ein Thema für sich.

Die Welt verändern

Wozu Philosophie? Wozu marxistische Philosophie?

Teil II und Schluß: Kants Denkansatz und dialektisch-materialistisches Philosophieren

Philosophie untersucht Voraussetzungen und Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis, insbesondere theoretischer Wissenschaft. Darüber hinaus verläßt sie den jeweils historisch gegebenen Erfahrungsbereich und ist bestrebt, die Welt allein mit dem Denken über jede Erfahrungsgrenze hinaus gedanklich zu erfassen, wobei es sich jedoch in Widersprüchen verfängt. Trotz dieser Widersprüchlichkeit hat dieses reine Denken einen praktischen Sinn: Es ist menschliches Denken, bezogen auf dessen Handeln in der Gesellschaft mit anderen Menschen. Hier gewinnen die nur als Denkmöglichkeiten erschlossenen philosophischen Ideen, die darum auch keine Wirklichkeitserkenntnis konstituieren, Realität als Gesetze bzw. Postulate praktischen Handelns der Menschen in der Gesellschaft.

Zu fragen ist nun, wie es sich unter den dargelegten Strukturmerkmalen rationaler Philosophie mit der marxistischen Philosophie verhält. Bekanntlich haben Vertreter marxistischer Philosophie immer wieder betont, daß es sich bei ihr um eine völlig neue Qualität von Philosophie handle und daher von einer tiefen Zäsur zwischen ihr und der vorhergehenden Philosophie zu sprechen sei. Wenn marxistische Philosophie wirklich Philosophie sein soll, dürfte eine solche Auffassung zumindest stark zu relativieren, wenn nicht überhaupt in Frage zu stellen sein. Will sie sich nicht auf die Zusammenfassung von Erkenntnissen exakter Wissenschaften und praktischer Erfahrungen sowie deren Kommentierung beschränken, muß auch sie einen solchen einigermaßen gesicherten Erkenntnishorizont überschreiten und sich spekulativen Denkens bedienen.

Marxistischer Transzensus

Dieser Transzensus über alle empirisch gesicherte Erfahrung hinaus eint sie mit aller Philosophie, die in ihrem Kern stets spekulative Philosophie ist. Diese Einheit ist allerdings nur formaler Natur, denn nach Inhalten zu fragen, setzt schon voraus, nach der Art dieses Transzensus zu fragen, und da offenbaren sich gravierende Differenzen, allerdings auch Gemeinsamkeiten. Bereits zu der hier modellhaft als historisches Beispiel herangezogenen Philosophie Kants (1724—1804) sind die diesbezüglichen Unterschiede erheblich. Der Schöpfer der »Kritik der reinen Vernunft« hatte seinem Transzensus ein System von Kategorien zugrunde gelegt, von dem er meinte, daß es rationales Denken in seiner Gänze abdecke. Hergeleitet hatte er es aus der tradierten Lehre von den Urteilen in der damals vorherrschenden formalen Logik. Da er die Möglichkeiten einer philosophischen Welterklärung darauf beschränkte, die diesen Kategorien innewohnenden Denkprinzipien weiter — gewissermaßen zu Ende —zu denken, hatte er der spekulativen Philosophie ein recht enges geistiges Korsett geschnürt. Auch aus diesem Grunde konnte marxistisches Philosophieren hier wenig direkte Anknüpfungspunkte finden. Diese hatte im Anschluß an Kant die Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770—1831) geboten. In einer allseitig durchgebildeten Dialektik meinte Hegel, sich ein Instrumentarium geschaffen zu haben, mit dessen Hilfe und in dessen Rahmen spekulatives Denken über die Erkenntnisse der Einzelwissenschaften hinausgehen kann, ohne den Versuch zu unternehmen, mit der Konstruktion einer wie auch immer gearteten transzendenten, also jenseitigen Welt die reale Welt zu erklären. Den Ausgangspunkt des philosophischen Transzensus bilden auch nicht wie bei Kant in ihrer ideellen Gegebenheit vorgefundene Kategorien, sondern die von den empirischen Wissenschaften gefundenen »allgemeinen Bestimmungen, Gattungen und Gesetze« (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 12). In diesem Allgemeinen der einzelnen Wissensgebiete sieht Hegel jenes besondere Wissen, welches von der Philosophie zu einem allgemeinen Weltbild weiterzudenken ist. Hegel zweifelt nicht daran, daß dies umso besser gelingt, je mehr und je bewußter Philosophie sich dabei von der Dialektik leiten läßt.

Wenn die marxistische Philosophie den Schritt über das wahrnehmbare Feld der Erfahrung hinaus machen und sich dabei spekulativen Denkens bedienen muß, sind die zuerst auf systematische Weise von Hegel untersuchten dialektischen Strukturen eines solchen Denkens auch für sie relevant. Sie muß diesen Transzensus schon deshalb vollziehen, weil der Mensch als denkendes Wesen ihn ohnehin, auch ohne Beihilfe durch Philosophie, beständig vollzieht. Das menschliche Denken läßt sich nicht in ein Erfahrungsgatter einsperren. Die Frage ist nur, auf welche Weise dieses Überschreiten geschieht. Ein Problem ist schon, ob der Mensch sich dabei rationalen Denkens bedient oder irrationalen Phantastereien freien Lauf läßt. Eine der vornehmsten Aufgaben rationaler Philosophie besteht daher darin, Wege zu zeigen, wie der Transzensus über empirisch gesichertes Wissen hinaus, den Kant als einen unabweisbaren Drang des Menschen charakterisiert hatte, sich im Rahmen rationaler Welterklärung bewegen kann.

Marxistische Philosophie ist hier ganz entschieden gefragt. Da sie im Sinne ihrer Begründer gehalten ist, nur solche philosophischen Einsichten in ein den Erfahrungshorizont überschreitendes Weltbild einzubringen, welche durch wissenschaftliche Erkenntnisse fundiert und durch rationales Denken gewonnen wurden, ist sie geradezu prädestiniert, gedankliche Wege in jene Sphären zu öffnen, die der Wahrnehmung, auch wenn sie sich ausgefeiltester Techniken bedient, letztlich verschlossen bleiben. So kann keine empirische Erfahrung auf die Frage antworten, ob die Welt endlich oder unendlich ist, denn unsere Erfahrung ist eben endlich. Der Versuch einer Antwort läuft also immer auf eine rein gedankliche Konstruktion hinaus. Selbst die Grundthese materialistischer Philosophie, nämlich die These von der Materialität der Welt, ist auf empirischem Wege letzten Endes nicht erfahrbar, da diese Grundthese sich auf die unendliche Welt bezieht. So gesehen, ist auch sie eine gedankliche Konstruktion. Das betrifft im Grunde alle philosophischen Aussagen über die Welt als Ganzes, da ihre Allgemeinheit im Sinne der Universalität mögliche Erfahrung transzendiert.

Auch marxistische Philosophie hat deshalb das Moment des Spekulativen an sich. Auch sie kann daher nicht den Anspruch erheben, im vollen Wortsinn wissenschaftliche Philosophie zu sein. Das mindert ihre Bedeutung allerdings in keiner Weise. Spekulatives, also allein im Reich des Gedankens sich vollziehendes Denken läßt das Erfahrbare im Sinne des Wahrnehmbaren wohl hinter sich, als Ausgangspunkt für diese Erhebung kann ihr letztlich doch nur Erfahrenes dienen. Realität aber kann auf verschiedene Weise erfahren werden. In das Denken gelangt sie beim erwachsenen Menschen durch bereits vorhandene Denkraster, welche durch die unterschiedlichsten Einflüsse geprägt sind. Philosophie und namentlich marxistische Philosophie kann nun dazu beitragen, das durch dieses stark subjektiv und oft zufällig ausgerichtete Raster gegangene Erfahrungswissen zu objektivieren. Das ist natürlich nur möglich, wenn sie sich selbst auf objektive Erkenntnisse der Wissenschaft stützt. Es versteht sich, daß dieses ihr Verhältnis zu den Ergebnissen der Wissenschaft kein quasi rationales Glaubensverhältnis sein kann, sondern eigenes Durchdenken dieser Ergebnisse und ihrer Gewinnung und darauf beruhenden kritischen Dialog einschließt. Es ist dies auch und gerade in der marxistischen Philosophie eines ihrer unabdingbaren Betätigungsfelder. Sie dient nicht zuletzt dazu, die Basis zu bereiten, von der aus der Transzensus über das wissenschaftlich Gesicherte hinaus erfolgen kann, ohne den Philosophie nicht sein kann. Da marxistische Philosophie, so sie sich wirklich diesem Namen verpflichtet fühlt, sich in ihrem spekulativen Denken grundsätzlich auf gesichertes Wissen der Einzelwissenschaft stützen muß, wird sie dadurch zwar nicht selbst zu einer Wissenschaft, wohl aber zu wissenschaftlich fundierter Philosophie.

Dialektizität des Materiebegriffs

Marxistische Philosophie versteht sich als Einheit von Dialektik und Materialismus. Dabei handelt es sich nicht um die Einheit zweier unterschiedlicher philosophischer Doktrinen, die als solche in der marxistischen Philosophie weiter bestehen, aber eng miteinander verbunden sein sollen. Die Dialektik ist hier materialistisch und Materialismus dialektisch. Nicht von zwei Bestandteilen ist die Rede, sondern von ein und demselben. Höchstens aus didaktischen Gründen können manche Differenzierungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Trennung vorgenommen werden.

Schon der Materiebegriff offenbart diese immanente Einheit. Wenn Materie als bewußtseinsunabhängige objektive Realität bestimmt wird, dann schließt diese Bestimmung sogleich zwei Forderungen an weitergehendes Denken ein. Zum einen fragt es sich, ob man nicht davon sprechen kann, daß Bewußtsein, insbesondere Denken, potentiell der Materie überhaupt eigen ist. Wie sollte es sich sonst aus ihr entwickeln können? Zum anderen erhebt sich die Frage, wie es mit den Gedanken und ihren Produkten steht, die in der menschlichen Lebenswelt zweifellos in die Realität dieser Welt eingehen. Schon Lenin (1870—1924), auf den die angeführte Bestimmung der Materie zurückgeht, hat sie selbst dahingehend präzisiert, daß außerhalb der »erkenntnistheoretische(n) Gegenüberstellung von Materie und Geist, (…) mit der Gegensätzlichkeit von Materie und Geist, von Physischem und Psychischem als mit einer absoluten Gegensätzlichkeit zu operieren« ein »gewaltiger Fehler« wäre (Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Werke, Bd. 14, S. 244). Es zeigt sich, daß schon der Grundbegriff »Materie« im Rahmen der marxistischen Philosophie durch und durch dialektisch ist. Es handelt sich um Gegensätzlichkeit des Identischen oder, andersherum ausgedrückt, um die dialektische Identität des Unterschiedenen.

Schon Hegel hatte seine Dialektik, in welcher die konkrete Identität oder die Identität des Unterschiedenen einen zentralen Platz einnimmt, nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt entwickelt, mit ihr die Einheit der Welt in ihrer Gegensätzlichkeit als Einheit von Denken und Sein zu fassen. Wenn Friedrich Engels (1820—1895) den Materialismus als Forderung interpretiert, die Welt als das aufzufassen, was sie wirklich ist und nichts von der Art einer extramundialen Transzendenz zu ihrer Erklärung hinzuzudichten, dann ist auch dies eine wichtige Präzisierung der von ihm formulierten Grundfrage der Philosophie, die man nicht aus dem Auge verlieren sollte. Unter diesem Gesichtspunkt ist die These von der Materialität der Welt mit rationalen Argumenten schwer zu bestreiten, aber sie schließt die dialektische Natur der materiellen Welt mit ein. Ihre Einheit ist dialektische Einheit und als solche Einheit von Gegensätzen. Das heißt nichts anderes, als daß Materie ihre eigene Negation, das Geistige, sei es potentiell als Möglichkeit oder aktuell als Wirklichkeit selbstbewußter Lebewesen, in sich einschließt.

Umgekehrt ist Dialektik im Rahmen der marxistischen Philosophie materialistische Dialektik. Um beim Begriff der Negation zu bleiben, einem zentralen Begriff der Dialektik: Negation ist keineswegs auf eine logische Operation im menschlichen Denken zu reduzieren, sie ist wesentlich für den materiellen Zusammenhang der Welt. Die für uns überschaubare Welt ist durchgehend von einer inneren Dynamik durchdrungen, sie unterliegt ständigen Veränderungen, Bewegungen, Entwicklungen. In allem, was die Welt ausmacht, wirkt also Negation im Sinne der Dialektik, denn jedwede Veränderung, ganz gleich welcher Art, ist stets Negation eines Bestehenden. In einer dynamischen Welt gibt es folglich nichts ohne seine immanente Negation, sie bildet ein universelles Moment des allgemeinen materiellen Weltzusammenhanges. Eben darum handelt es sich bei der dialektischen Negation. Vielleicht ist sie überhaupt das Letzte, mit dem sich das menschliche Denken auf der Suche nach den fundamentalen Zusammenhängen begnügen muß. Wenn alles seine immanente Negation enthält, dann heißt das nichts anderes, als daß alles Bestehende einen Widerspruch beinhaltet: zwischen seinem positiven So-Sein und dem in seiner immanenten Negation liegenden Anders-Sein. Die Universalität der dialektischen Negation bedeutet die Universalität des dialektischen Widerspruchs in der objektiven Realität. Objektive Sachverhalte wie Negation und Widerspruch finden ihren subjektiven Ausdruck in den entsprechenden Kategorien dialektischen Denkens. Diese dienen ihrerseits dazu, die objektive Welt unter dem Gesichtspunkt der ihr immanenten Negation und Widersprüchlichkeit denkend zu ergründen. Die innere Einheit von Materialismus und Dialektik wird deutlich.

Regulative Funktion

Deutlich wird aber auch das Moment des Spekulativen, welches der marxistischen Philosophie wie jeder Philosophie eigen ist. Die These von der Universalität der dialektischen Negation und anderer Bestimmungen der Dialektik ebenso wie die der Materialität des Weltganzen gehen über die Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung hinaus. Wie Kant das schon im Rahmen seiner Philosophie, aber dennoch zu Recht festgestellt hatte, kann Philosophie nicht anders als diesen Transzensus über mögliche Erfahrung hinaus vollziehen. Wie steht es dann mit dem Erkenntnisgehalt marxistischer Philosophie? Er erleidet ob dieser Einsicht keinen Einbruch. Unter einer Voraussetzung freilich: Sie muß ehrlich zu sich selbst sein und keine universellen philosophischen Aussagen als wissenschaftlich gesichert behaupten, die es ihrer Natur nach nicht sein können.

Die zuletzt angeführten philosophischen Bestimmungen, welche, wie auch andere, den dialektischen und materiellen Charakter der Welt charakterisieren, fußen selbstverständlich auf menschlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis. Die von uns erfahrene Welt ist materiell im Sinne ihrer Objektivität gegenüber dem menschlichen Bewußtsein, und sie ist durchgehend ständigen Veränderungen und darum Negationen im Sinne materialistischer Dialektik unterworfen. Insofern ist die Aussage über die Universalität dieser Bestimmungen empirisch und wissenschaftlich fundiert. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Da menschliche Erfahrung und letztlich auf sie gegründete wissenschaftliche Erkenntnis endlich sind, können philosophische Universalaussagen auch nicht den Charakter endgültiger Wahrheiten haben. Auch die allgemeinen Einsichten und Bestimmungen marxistischer Philosophie müssen sich damit bescheiden, insofern problematischer Natur zu sein, als sie hinsichtlich ihrer universellen Gültigkeit grundsätzlich keiner empirischen Bestätigung fähig sind. Das hebt allerdings ihren Erkenntniswert keineswegs auf. In Analogie zur Bewertung der Erkenntnisse der Metaphysik durch Kant könnten wir sagen, daß allgemeine philosophische Aussagen über die Welt keine konstitutive, sondern regulative Bedeutung für unsere Erkenntnis haben. Die allgemeine philosophische Einsicht, daß alles Bestehende seine eigene Negation an sich hat, daß also in seine positive Bestimmtheit seine Negation eingeht und es darum einen dialektischen Widerspruch darstellt, konstituiert nicht einen aparten Gegenstand namens dialektischer Widerspruch. Im Rahmen der marxistischen Philosophie lenkt diese allgemeine Einsicht in die Natur alles Bestehenden vielmehr die jeweils besondere und konkrete Erkenntnis außerhalb der Philosophie auf die Untersuchung und Erkenntnis der jeweiligen konkreten Widersprüche. Eine Aufgabe, welche die Philosophie als solche nicht leisten kann. In diesem Sinne könnte man mit Kant von der regulativen Bedeutung ihrer Einsichten sprechen.

Orientierung auf materielle Basis

Eine Parallele zu Kant drängt sich auch auf, wenn wir die Möglichkeiten von Philosophie im Hinblick auf die Erkenntnis der menschlichen Gesellschaft betrachten. Bei Kant wurden in der Metaphysik durch spekulatives Denken gewonnene Vernunftsideen, die dort wohl in ihrer Denkbarkeit, aber nicht in ihrem Realitätsbezug gewonnen worden waren, zu empirischer Realität in der praktischen Philosophie als Bestimmungsgründe menschlichen Handelns in der Gesellschaft. In der marxistischen Philosophie werden Bestimmungen des allgemeinen philosophischen Weltbildes, denen als solche ein im oben genannten Sinne nur spekulativer Realitätsbezug zukommt, im Hinblick auf die menschliche Gesellschaft zu Realitätserkenntnis, für welche diese einschränkende Charakterisierung nicht gilt. Die allgemein-philosophische These von der Materialität der Welt bleibt letztlich im Reich des Spekulativen, so sehr sie auch von allen empirisch gesicherten Erkenntnissen und auf ihnen aufbauendem, rationalem Denken getragen wird. Für die Erkenntnis der menschlichen Gesellschaft bedeutet diese These die Orientierung auf die materiellen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens. Diese Orientierung führt zur Einsicht in die bestimmende Rolle des materiellen Lebensprozesses für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Er besteht in seiner Grundlage im materiellen Stoffwechselprozeß zwischen Mensch und Natur, d. h. im materiellen Produktions- und Reproduktionsprozeß der menschlichen Gesellschaft. Dies ist keine spekulative Einsicht, sondern durch die reale Geschichte der Menschheit empirisch gesicherte Erkenntnis.

Die im Rahmen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses sich vollziehende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte ist ein objektiver materieller Prozeß, der sich zwar durch das Handeln mit Bewußtsein tätiger Menschen vollzieht, die ihm auch eine jeweils besondere Gestalt geben. In der Grundrichtung aber erweist er sich als objektiver, vom menschlichen Wollen unabhängiger Verlauf. Da verschiedene historische Entwicklungsstufen dieser Produktivkräfte auch unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse erfordern, wirkt dieser in seiner Grundlage materielle Prozeß auch als Bestimmungsgrund für gesellschaftliches Handeln weit über diesen Prozeß hinaus. Grundlegend neue Produktivkräfte verlangen objektiv auch neue gesellschaftliche Verhältnisse im materiellen Reproduktionsprozeß — also neue Produktionsverhältnisse, die auch entsprechende Umwälzungen im gesamten gesellschaftlichen Beziehungsgefüge erheischen. Dieser von Karl Marx (1818—1883) entwickelte Grundgedanke hat nichts an Aktualität eingebüßt. Er verlangt, die Gesellschaft auf dialektische Weise als Totalität zu betrachten, in welcher die verschiedensten Bereiche des menschlichen Zusammenlebens auf sich gegenseitig bedingende Weise und letztlich durch die sich im geschichtlichen Verlauf objektiv entwickelnden Verhältnisse der Menschen im materiellen Stoffwechselprozeß zwischen Mensch und Natur, die darum den Charakter materieller Verhältnisse haben, bestimmt sind.

Allerdings verlangt die materialistische Dialektik, diese Zusammenhänge eben auf dialektische Art zu betrachten. Das schließt zum Beispiel aus, die Bestimmtheit der Totalität gesellschaftlicher Verhältnisse durch die sich historisch entwickelnden Produktivkräfte im Sinne eines mechanischen Determinationszusammenhanges verstehen zu wollen. Geschichtliche Notwendigkeiten wirken keineswegs wie Naturgesetze. Die objektive, nicht aufzuhaltende Entwicklung der Produktivkräfte ist im Sinne der Dialektik das Negative in der gesellschaftlichen Entwicklung, welches beständig das Bestehende negiert und neue Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens verlangt, aber nicht wie ein subjektunabhängiges Gesetz durch sein Wirken auch realisiert. Aus ihrer Entwicklung ergeben sich Notwendigkeiten zur Veränderung und Neugestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. Notwendigkeit ist hier im wörtlichen Sinne als eine Not zu verstehen, die zu wenden ist. Aber es gibt keinen Automatismus, daß dies auch geschieht. Es hängt ab von der Einsicht der handelnden Subjekte in diese Not und ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, sie zu wenden.

Auch der Begriff »Not« ist im Wortsinn zu nehmen. Bleiben wir bei der Gegenwart. Die Entwicklung der Produktivkräfte hat einen Stand erreicht, auf dem sie im Rahmen der zur Zeit vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr nachhaltig zu beherrschen sind. Sie haben in einem solchen Maße Destruktivkräfte aus sich hervorgebracht, daß die damit entstandene Not existentiellen Charakter für die gesamte Menschheit angenommen hat. Nicht weniger als deren weitere Existenz verlangt die Abwendung dieser Not, denn zum ersten Male ist sie in der Lage, sich selbst in ihrer Totalität zu vernichten. Hier helfen keine romantischen Palliativmittel im Sinne eines wie auch immer gearteten Zurückdrehens der objektiven Entwicklung oder eines »da was ändern und dort was verhindern«. Hier gibt es nur eines: die Gesellschaft so umzugestalten, daß sie in der Lage ist, diese Entwicklung im Interesse der Menschheit zu beherrschen. Die heutige auf dem Privateigentum an den objektiven Bedingungen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses beruhende weltweite kapitalistische Warenproduktion ist dazu grundsätzlich nicht in der Lage. Philosophie hat also vor allem zwei Aufgaben: zum einen eine Orientierung für das über das Erfahrbare und wissenschaftlicher Erkenntnis Zugängliche hinausschweifende Denken zu geben und zum anderen, Einsichten in die gesamtgesellschaftliche Situation, in der wir uns befinden, zu gewinnen, um daraus auch Impulse für unser Handeln zu erhalten.

Der vorstehende Artikel erschien erstmals am 19. und 20. 02. 2007 in der "jungen Welt"


[1]Friedrich Kumpf war Professor für Geschichte der Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin. Er gestaltet den Theorie-Arbeitskreis der Marxistischen Initiative in Berlin mit.