Zur Dialektik von Reform und Revolution.

Rosa Luxemburgs "Reform oder Revolution" neu gelesen.

Von Dieter Elken

1898 veröffentlichte Rosa Luxemburg in der Leipziger Volkszeitung eine Artikelserie, die 1899 unter dem Titel "Reform oder Revolution" als Buch veröffentlicht wurde. Rosa Luxemburg unterzog in dieser Schrift Eduard Bernstein, den ersten Theoretiker des Revisionismus, einer vernichtenden Kritik. Als Ideologe war Bernstein danach besiegt. Dennoch ist nicht nur die Schrift Rosa Luxemburgs, sondern auch ihr Inhalt verbreitet in Vergessenheit geraten.

Daß sich Bernstein mit seinem Motto "Das Endziel, was es immer sei, ist mir nichts, die Bewegung alles", in der europäischen Arbeiterbewegung - und zwar nicht nur bei der sozialdemokratischen, sondern auch den meisten offiziellen kommunistischen Parteien - heute faktisch durchgesetzt hat, liegt auf der Hand. Seine Theorie nicht. Kaum jemand mag sich auf ihn beziehen. Zu verdanken ist dies nicht zuletzt Rosa Luxemburg. Es ist deshalb überraschend, daß das theoretische Erbe Rosa Luxemburgs auch bei vielen radikalen Linken nicht gepflegt wird. Überraschend deshalb, weil das Verhältnis von Reform und Revolution nach wie vor notwendig im Zentrum jeder Strategie- und Programmdebatte zwischen Reformisten und Marxisten steht. Jede linke Opposition gegen die Anpassungspolitik des Reformismus muß ohne Klarheit in dieser Frage scheitern. Den Grund hierfür hat schon Rosa Luxemburg formuliert:

"Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialistischen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist.

Eine Entgegenstellung dieser beiden Momente finden wir erst in der Theorie von Ed. Bernstein... . Diese ganze Theorie läuft praktisch auf nichts anderes als auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung, das Endziel der Sozialdemokratie, aufzugeben, und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des Klassenkampfs zu seinem Zwecke zu machen. ...

Da aber das sozialistische Endziel das einzig entscheidende Moment ist, das die sozialdemokratische Bewegung von der bürgerlichen Demokratie und dem bürgerlichen Radikalismus unterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der bürgerlichen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieser Ordnung verwandelt, so ist die Frage Sozialreform oder Revolution? im Bernsteinschen Sinne zugleich die Frage Sein oder Nichtsein?"[1]

Kapitalismus - Endstadium der Geschichte?

Die Verkündung des Endes der Geschichte und damit die Akzeptanz des kapitalistischen Systems als dem dauerhaft bestehenbleibendem Rahmen jeder politischen Aktivität durch die Ideologen der Globalisierung ist alles andere als neu.

Schon Bernstein verkündete, daß ein allgemeiner Zusammenbruch des Kapitalismus nicht zu erwarten sei. Der Kapitalismus sei so anpassungsfähig, daß es keine allgemeinen Krisen mehr geben werde: "Überall in vorgeschritteneren Ländern sehen wir den Klassenkampf mildere Formen annehmen."[2] Jeder Krise folge überdies eine neue Blüte. Es entstünden in Folge der Differenzierung der Produktionszweige u.a. neue Kapitaleigentümer und infolge des steigenden Lebensstandards großer Schichten des Proletariats ein neuer Mittelstand und eine so differenzierte Arbeiterklasse, daß infolge der Hebung der ökonomischen und politischen Lage der Arbeiterklasse ein Wille zur sozialen Revolution nicht mehr gebildet werde. Die hieraus zu ziehende Schlußfolgerung sei, die praktische Tätigkeit nicht auf die Eroberung der Staatsmacht zu richten, sondern auf die Hebung der Lage der Arbeiterklasse im Kapitalismus, die schrittweise Erweiterung der gesellschaftlichen Kontrolle und die stufenweise Durchführung des Genossenschaftlichkeitsprinzips.[3]

Rosa Luxemburg wies in ihrer Kritik sofort darauf hin, daß es Bernstein nicht etwa um die Diskussion der Schnelligkeit der historischen Entwicklung ging. Bernstein stellte den von Marx im Ansatz analysierten und prognostizierten Entwicklungsgang der kapitalistischen Gesellschaft generell in Frage und in Zusammenhang damit den Übergang zur sozialistischen Ordnung.

Bis dahin ging die sozialistische Bewegung von der Annahme aus, der Ausgangspunkt der sozialistischen Umwälzung würde eine allgemeine und vernichtende Krise sein. August Bebel sprach von der erwarteten Zusammenbruchskrise als großem Kladderadatsch. Der Grundgedanke dabei ist die Annahme, das kapitalistische System würde von sich aus, kraft eigener Widersprüche in eine Lage geraten, in dem es auseinander bricht und seine Weiterexistenz unmöglich wird:

"Die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus stützt sich nämlich auf drei Ergebnisse der kapitalistischen Entwicklung: vor allem auf die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zum unvermeidlichen Ergebnis macht, zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende Macht und Klassenkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet."[4]

Es war 1898 zunächst der erste der genannten Grundpfeiler des wissenschaftlichen Sozialismus den Bernstein beseitigte, als er dem Kapitalismus eine zunehmende Fähigkeit zur Abwendung verallgemeinerter und vertiefter Krisen zusprach. Damit hatte er nicht nur die bestimmte Form des kapitalistischen Unterganges, sondern diesen Untergang selbst verworfen.

"Dann entsteht aber die große Frage: Warum und wie gelangen wir überhaupt noch zum Endziel unserer Bestrebungen? Vom Standpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus äußert sich die historische Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung vor allem in der wachsenden Anarchie des kapitalistischen Systems, die ihn auch in eine ausweglose Sackgasse drängt. Nimmt man jedoch mit Bernstein an, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht in der Richtung zum eigenen Untergang, dann hört der Sozialismus auf, objektiv notwendig zu sein.

Von den Grundsteinen seiner wissenschaftlichen Begründung bleiben dann noch die beiden anderen Ergebnisse der kapitalistischen Ordnung: der vergesellschaftete Produktionsprozeß und das Klassenbewußtsein des Proletariats."[5] Letzteres wurde dann von Bernstein auch mit dem Argument in Frage gestellt, die Differenzierung der Produktion hätte auch zu einem uneinheitlichen Bewußtsein des Proletariats geführt, das keineswegs mehrheitlich hinter den Bestrebungen der Sozialdemokratie stünde.[6] Bernstein wurde damit, nebenbei gesagt, zum Erfinder der ebenso absurden wie hartnäckig wiederholten Behauptung, der Marxismus sei zu irgendeinem Zeitpunkt davon ausgegangen, es habe ein Proletariat mit einheitlichem, womöglich revolutionärem Bewußtsein gegeben, das es jetzt nicht mehr gebe.

Wäre das kapitalistische System in der Lage, den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit dauerhaft dadurch abzuschwächen, daß es große Teile der Arbeiterklasse in den Mittelstand erhebt und durch das Kreditwesen, durch Gewerkschaften und Genossenschaften etc. die Widersprüche des Kapitalismus auf Dauer abzustumpfen, dann würde die kapitalistische Form der Vergesellschaftung dauerhaft konserviert. Dann könnte Klassenbewußtsein des Proletariats auch nicht der geistige Reflex sich objektiv zuspitzenden Widersprüche des Kapitalistischen Systems sein, sondern nur aus irgendwelchen Werten abgeleitetes Ideal. Aus den Bernsteinschen Thesen ergibt sich somit notwendig ein Entweder-Oder:

"Entweder folgt die sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung auch ihre Widersprüche, und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das unvermeidliche Ergebnis, dann sind aber auch die "Anpassungsmittel" unwirksam und die Zusammenbruchstheorie richtig. Oder es sind die "Anpassungsmittel" wirklich solche, die einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen, also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft."[7]

Heute, über 100 Jahre später, ist die von Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg geführte Kontroverse immer noch nicht in allen Punkten geklärt. Rosa Luxemburg hat Recht gehabt mit ihrer These, daß sich jeder Reformismus letztlich als Absage an den Sozialismus präsentieren muß und die Sozialdemokratie politisch zu einem Bestandteil des bürgerlichen Lagers machen mußte. Andererseits läßt sich nicht leugnen, daß Eduard Bernstein mit seinem Hinweis auf die zeitgenössische Entwicklung des Kapitalismus und hierbei vor allem auf die sozialen Differenzierungsprozesse innerhalb des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse, die bis jetzt typisch für die imperialistischen Länder sind, auf reale gesellschaftliche Probleme insbesondere der imperialistischen Länder hinwies, die für die revolutionäre Bewegung vielfältige strategische und taktische Probleme aufwerfen.

Bernsteins These, daß der Kapitalismus in der Lage sei, seine Widersprüche in den Griff zu bekommen, sie so abzustumpfen, daß er verallgemeinerte Krisen vermeiden könne, hält jedoch keiner ernsthaften historischen Bilanz stand. Rosa Luxemburg hatte 1899 darauf verwiesen, daß der Weltmarkt noch gar nicht vollständig hergestellt worden war und daß der Kapitalismus in seiner Phase der Reife krisenanfälliger werden müsse. Sie sah richtigerweise den Kapitalismus an der Schwelle zu seiner Niedergangsphase. In der Phase der Reife des Kapitalismus, so Luxemburg, müsse sich der Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der kapitalistischen Weltwirtschaft und dem nationalen Charakter der bürgerlichen Staaten und deren Antagonismus zwangsläufig steigern[8].

Die Zuspitzung innerimperialistischer Gegensätze zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die Entfesselung zweier Weltkriege sprechen Bände. Die Katastrophe des ersten Weltkriegs eröffnete eine ganze Periode der kapitalistischen Stagnation und Fäulnis. Die durch den Krieg verschärfte soziale Krise führte in Rußland und in Mittelasien zu Siegen der sozialen Revolution, in Ungarn und Deutschland zu revolutionären Erhebungen und in weiteren Ländern zu tiefgreifenden Erschütterungen.[9]

Die krisengeschüttelten bürgerlichen Staaten der Zwischenkriegszeit gewährten angesichts der dramatischen Lage des Imperialismus nicht mehr Demokratie und Wohlstand, sondern machten Armut, Verelendung, reaktionären Regimes und dem Faschismus Platz. Die erneut zugespitzten Widersprüche führten in den Zweiten Weltkrieg. An seinem Ende folgte eine weitere Welle von sozialen Umwälzungen.

Aber die Katastrophe schuf auch die Voraussetzungen für eine neue längere Periode kapitalistischer Stabilität. Die gigantischen Zerstörungen in Europa und Asien und die Schwächung der Arbeiterbewegung ermöglichten eine neue Boomperiode des Kapitalismus.[10] Aber auch diese Boomperiode dauerte nicht ewig. Seit Mitte der siebziger Jahre zeichnet sich immer deutlicher ab, daß der Imperialismus wieder in eine Phase der Stagnation eingetreten ist. Hieran hat auch der Zusammenbruch der Sowjetunion und der anderen RGW-Staaten nichts wesentliches geändert.

Sozialreform und Revolution in der imperialistischen Stagnation

Rosa Luxemburg hatte 1899 noch nicht in aller Konsequenz erkannt, daß die Wandlung des Kapitalismus der Aufstiegsphase des Kapitalismus in den Imperialismus zumindest zu einer Modifikation der politischen Strategie der Sozialdemokratie hätte führen müssen. Die Sozialdemokratie hatte sich seinerzeit, in der Periode des stürmischen Aufstiegs des Kapitalismus, nicht wirklich als Partei verstanden, die die Revolution machen würde, sondern eher als Partei, die auf die Revolution wartete und glaubte, nur auf propagandistischem Wege das Proletariat für das sozialistische Ziel sammeln zu können. Eine wirkliche Vorbereitung auf die Aufgaben während der Umwälzung gab es nicht. Die Sozialdemokratie erschien aber noch als revolutionäre Systemopposition, doch bildete sich in der Partei eine ganze Funktionärsschicht heraus, die den harten Klassenstandpunkt des Proletariats zunehmend als Ballast empfand und auf "machbare" Reformen setzte. Deren Sprachrohr wurde Bernstein.

Rosa Luxemburg hat bereits das Dilemma und die illusionäre politische Strategie des Reformismus in der Periode der kapitalistischen Stagnation auf geniale Weise offen gelegt und antizipiert. Sie war aber noch weit entfernt davon, die politischen Schwächen der zentralen Führung der Sozialdemokratie zu verstehen, die dem Versumpfungsprozeß der Partei nichts entgegensetzte. Sie hielt nur an ihrem bisherigen Weg fest und war neuen Herausforderungen nicht gewachsen.

Die "bewährte Taktik" (Engels) der Sozialdemokratie war bis dahin ihre Wachstumsgarantie. Die Sozialdemokratie vertraute auf ihren Sieg. Wie zumeist in der Geschichte ließ die Revolution aber länger auf sich warten als erhofft. Bernstein warf nicht zuletzt deshalb die Frage auf, ob ein Strategiewechsel erforderlich sei. Rosa Luxemburg verteidigte gegen ihn die Zielsetzung der Partei. Der "Zusammenbruch" des Kapitalismus von dem sie wie die Partei sprach, war (auch) für sie natürlich kein automatischer, rein ökonomischer Prozeß, sondern benötigte natürlich einen "aktiven Faktor", das Proletariat, das aufgrund seiner Klassenerkenntnis, seiner Organisation und wachsenden Macht die bevorstehende Umwälzung vollbringen mußte.[11] Die Sozialdemokratie lehnte es aber ab, eine Partei zu sein, die die Revolution "machen" würde im Sinne von fördern und betreiben. Sie glaubte, die herrschenden Klassen würden in der kommenden großen Krise gezwungen sein, einen Entscheidungskampf zu beginnen. Hierauf müßte sich die sozialdemokratische Organisation vorbereiten, Kräfte sammeln und bis dahin abwarten und durch praktische Reformarbeit wie sozialistische Propaganda den sozialdemokratischen Einfluß ausweiten. Dann würde sie die Macht erringen können, um mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen.

Die Attraktivität der Bernsteinschen Theorien für die Masse der Parteibürokraten, Kleinbürger und Gewerkschaftsfunktionäre bestand darin, daß seine Vision von sich abschwächenden gesellschaftlichen Gegensätzen, zunehmender gewerkschaftlicher und politischer Macht auf allen Ebenen sowie von Sozialreformen als Schritten zur gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktionsbedingungen ihren Erfahrungen aus der Blüteperiode, d.h. der Aufstiegsperiode des Kapitalismus vor der Jahrhundertwende entsprach. In dieser Phase der kapitalistischen Entwicklung, ebenso wie in der Boomperiode nach dem 2. Weltkrieg, waren Reformen und eine Hebung der Lage der arbeitenden Klassen auf breitester Ebene möglich, sogar zu Zeiten des Sozialistengesetzes. Die Gewerkschaften konnten die Marktkonjunkturen ohne überwältigend große Schwierigkeiten ausnutzen und wurden ihrer Aufgabe gerecht, das kapitalistische Lohngesetz zu Gunsten der Arbeiterklasse zu verwirklichen. Diese Periode beschleunigter Reformen mußte mit Beginn der Herausbildung des Imperialismus und seiner verschärften Weltmarktkonkurrenz aber notwendig ihr Ende finden.[12]

Reformen und Revolution sind daher nicht einfach beliebig und nach individuellem Temperament auszuwählende Methoden des Klassenkampfs. Sie sind vielmehr kennzeichnend für zwei unterschiedliche Entwicklungsphasen der kapitalistischen Entwicklung. Die Durchsetzung von Reformen ist in erster Linie während der Blüteperiode des Kapitalismus, in seiner Aufstiegsphase möglich. Danach beginnt eine Periode verschärfter Klassenkämpfe, die in der Revolution gipfelt - oder, wie wir erfahren mußten, mit schweren historischen Niederlagen der Arbeiterklasse endet und damit und mit großen Kriegen die Vorbedingungen für neue imperialistische Boomperioden schafft.[13]

Wie alle Marxisten begreift Rosa Luxemburg also den Kapitalismus als historische Erscheinung, die eine Vorgeschichte hat, sich entwickelt und nach einer Niedergangsperiode wie alle historischen Gesellschaftsformationen durch eine neue Gesellschaft abgelöst werden wird, die sozialistische. Wer der Revolution abschwört, wendet sich deshalb nicht nur anderen Methoden des Kampfes zu, sondern muß notwendig andere Ziele verfolgen, nämlich die Verbesserung des Kapitalismus oder nur die Bekämpfung seiner Auswüchse. Dies wird in der Stagnations- und Niedergangsphase des Kapitalismus zwangsläufig zur Politik des kleineren Übels und schließlich zur Gesundbeterei der imperialistischen Reaktion.

Rosa Luxemburg verwies bereits darauf, daß eine verschärfte internationale Konkurrenz (der Begriff Globalisierung war noch nicht erfunden) und fallende Profitraten zu immer massiveren Angriffen auf die Arbeitslöhne führen müssen. Dies wiederum bedeutet, daß sich die Bedingungen für den gewerkschaftlichen Kampf verschlechtern müssen, sobald die kapitalistische Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht und überschritten hat.[14] Es kann in dieser Entwicklungsetappe des Kapitalismus deshalb keine Rede sein von einem schrittweisen Übergang zum Sozialismus und wachsender gewerkschaftlicher Macht, sondern nur von Versuchen, die Gewerkschaftsbewegung zu schwächen , zu disziplinieren und in das kapitalistische System zu integrieren.

Auch die Hoffnung auf die zunehmende gesellschaftliche Kontrolle des Produktionsprozesses sei pure Illusion. Kapitalistischer Arbeitsschutz und Maßnahmen wie die Aufsicht über Aktiengesellschaften, Kartellbildungen etc. seien nicht Beschränkungen des kapitalistischen Eigentums, keine Eingriffe, sondern die Normierung der Ausbeutung im Interesse des Gesamtkapitals. Die Regulierung von Straßenreinigung und Straßenbeleuchtung habe mit gesellschaftlicher Kontrolle nichts zu tun. Und die Ausweitung staatlicher Funktionen in Bezug auf die Gesellschaft verändere nicht die bürgerliche Natur des Staates:

"Zunächst ist der heutige Staat - die Organisation der herrschenden Kapitalistenklasse. Wenn er im Interesse der gesellschaftlichen Entwicklung verschiedene Funktionen von allgemeinem Interesse übernimmt, so nur, weil und insofern diese Interessen und die gesellschaftliche Entwicklung mit den Interessen der herrschenden Klasse im allgemeinen zusammenfallen. ... Aber diese Harmonie dauert nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt der kapitalistischen Entwicklung. Hat die Entwicklung einen bestimmten Höhepunkt erreicht, dann fangen die Interessen der Bourgeoisie als Klasse und die des ökonomischen Fortschritts auch im kapitalistischen Sinne an auseinanderzugehen. Wir glauben, daß diese Phase bereits herangebrochen ist".[15] Und: "Er (der Staat) tritt in seiner Politik , ebenso wie die Bourgeoisie, in Gegensatz zu der gesellschaftlichen Entwicklung, er verliert somit immer mehr seinen Charakter des Vertreters der gesamten Gesellschaft und wird in gleichem Maße immer mehr zum reinen Klassenstaate. Oder, richtiger ausgesprochen, diese seine beiden Eigenschaften trennen sich voneinander und spitzen sich zu einem Widerspruche innerhalb des Wesens des Staates zu. Und zwar wird der bezeichnete Widerspruch mit jedem Tage schärfer. Denn einerseits wachsen die Funktionen des Staates von allgemeinem Charakter, seine Einmischung in das gesellschaftliche Leben, seine "Kontrolle" darüber. Andererseits zwingt ihn sein Klassencharakter immer mehr, den Schwerpunkt seiner Tätigkeit und seine Machtmittel auf Gebiete zu verlegen, die nur für das Klasseninteresse der Bourgeoisie von Nutzen, für die Gesellschaft nur von negativer Bedeutung sind - den Militarismus, die Zoll- und Kolonialpolitik. Zweitens wird dadurch die "gesellschaftliche Kontrolle" immer mehr vom Klassencharakter durchdrungen und beherrscht."[16]

Überall dort, wo die Demokratie die Tendenz habe, in ein tatsächliches Werkzeug der Volksinteressen umzuschlagen, würde die Bourgeoisie alle demokratischen Formen bedenkenlos opfern. Die Theorie von der stufenweisen Einführung des Sozialismus sei deshalb mit der tatsächlichen Entwicklung des Kapitalismus unvereinbar. Statt immer sozialistischer würde der Staat immer kapitalistischer, ganz im Gegensatz zum Vergesellschaftungsprozeß der Produktion. Der Glaube Bernsteins und anderer Reformisten an die sozialisierende Kraft und Einwirkung sozialdemokratischer Reformpolitik auf die kapitalistische Wirtschaft sei bloße Einbildung.

Das gelte ebenso für den reformistischen Wunschtraum nach einem systematischen Ausbau der Demokratie. Derartige Illusionen seien nur die mit der geschichtlichen Entwicklung insgesamt nicht zu vereinbarende Verallgemeinerung eines Zipfels der geschichtlichen Entwicklung. Der Imperialismus müsse vielmehr nicht nur nach außen zu Militarismus und Kriegen führen, sondern nach innen demokratische Freiheiten abbauen, sobald die Arbeiterklasse verstärkt auf den Plan tritt. Der Reformismus müsse dann der Arbeiterklasse die Aufgabe ihrer Ziele schmackhaft machen, um den erschrockenen Liberalismus wieder aus dem Mauseloch der Reaktion hervorzulocken. Es gebe daher keine Alternative zur Revolution, das heißt zur Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.

Der gewerkschaftliche Kampf des Proletariats in der Defensive sei natürlich unbedingt erforderlich. Aber der wirkliche Stellenwert des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes, seine sozialistische Bedeutung, bestehe darin, daß er das Proletariat, d.h. den subjektiven Faktor der sozialistischen Umwälzung zu deren Durchführung vorbereitet. Das Bewußtsein und die Erkenntnis der Arbeiterklasse müßten sozialisiert werden.

Dies ergebe sich auch aus der Stellung der Arbeiterklasse im Kapitalismus und aus der Besonderheit der kapitalistischen Produktionsweise, daß in ihr mit zunehmender objektiver Vergesellschaftung zwar auch die Elemente der künftigen Gesellschaft heranwachsen, daß aber in ihr "alle Elemente der künftigen Gesellschaft in ihrer Entwicklung vorerst eine Form annehmen, in der sie sich dem Sozialismus nicht nähern, sondern von ihm entfernen. In der Produktion wird immer mehr der gesellschaftliche Charakter zum Ausdruck gebracht. Aber in welcher Form? Von Großbetrieb, Aktiengesellschaft, Verstaatlichung, Kartell, wo die kapitalistischen Gegensätze aufs höchste gesteigert werden. ... Weil sich die ganze kapitalistische Entwicklung somit in Widersprüchen bewegt, so muß, um den Kern der sozialistischen Gesellschaft aus ihrer kapitalistischen Hülle herauszuschälen, auch aus diesem Grunde zur Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und zur Aufhebung des kapitalistischen Systems gegriffen werden."[17]

Hierfür sei ein unversöhnlicher Klassenstandpunkt erforderlich und auch nur hierfür mache er Sinn. Wer nur kleine Erfolge erstrebe, für den sei er hinderlich. Aber in der Niedergangsphase des Kapitalismus könnten kleine Erfolge nur von episodischem Charakter bleiben. Der Sozialismus sei jedoch auch in der Niedergangsphase kein sich aus dem Kapitalismus ergebender Automatismus. Er ist, so Rosa Luxemburg, auch nicht das direkte Ergebnis der Entwicklung des alltäglichen Kampfes der Arbeiterklasse. Diesen Kämpfen wohnt der Sozialismus als Tendenz nur insofern inne, als die sich zuspitzenden Widersprüche des Kapitalismus der Arbeiterklasse die Möglichkeit der Erkenntnis von der notwendigen Aufhebung des Kapitalismus durch eine Revolution eröffnen.

Das Programm muß der Arbeiterklasse helfen, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten und für alle Kämpfe dienen: "Ist unser Programm einmal die Formulierung der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus, dann muß es offenbar auch alle Übergangsphasen dieser Entwicklung formulieren, in sich in den Grundzügen enthalten, also auch das entsprechende Verhalten im Sinne der Annäherung zum Sozialismus in jedem Moment dem Proletarier anweisen können. Daraus folgt, daß es für das Proletariat überhaupt keinen Augenblick geben kann, in dem es gezwungen wäre, sein Programm im Stich zu lassen., oder wo es von diesem Programm könnte im Stich gelassen werden."[18]

So richtig dies ist, klar ist bei Rosa Luxemburg, daß sie 1899 "nur" den Gedanken hatte, ohne jeden Abstrich in allen Fragen den Klassenstandpunkt zur Geltung zu bringen. Den Aspekt, in das Programm ein System von Forderungen einzufügen, die sowohl unversöhnlich die proletarischen Klasseninteressen zum Ausdruck bringen, als auch geeignet sind, die Tageskämpfe des Proletariats und seiner Verbündeten zu entfalten und so im besten Fall in den Kampf um die Eroberung der Macht überzuleiten, hatte sie noch nicht gesehen. Ein derartiges Übergangsprogramm würde im Sinne Rosa Luxemburgs natürlich auch die Erkenntnis des Proletariats von der Notwenigkeit der Eroberung der politischen Macht befördern. Ein solches Konzept von Übergangsforderungen sollte später von der Komintern Lenins und Trotzkis entwickelt werden. Aber wir sollten nicht vergessen, daß Rosa Luxemburg hierfür eine der Grundlagen formuliert hatte.

(Januar 2004)


[1]Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution, in: Gesammelte Werke Bd. 1.1, 6. Aufl., Berlin 1987, S. 367 ff, S. 369f
[2]Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, 2. Auflage, Reprint Bonn/Bad Godesberg 1973, S. 10
[3]vgl. Eduard Bernstein, a.a.O., S. 7 ff
[4]R.L., S.375
[5]R.L., S. 376
[6]Bernstein, a.a.O., S. 135 f
[7]R.L., S.377
[8]R.L., S. 385
[9]Exkurs zu Uwe-Jens Heuer:Uwe-Jens Heuer vom Marxistischen Forum der PDS ist demgegenüber in seinem Aufsatz "Sowjetischer Staatssozialismus oder Entwicklungsdiktatur" (Mitteilungen der KPF der PDS Nr.1/2004, S.12 ff, dort S. 16) der Ansicht, der erste Weltkrieg habe auch die Hoffnungen auf einen revolutionären Widerstand des Proletariats widerlegt. Für ihn hat der Zusammenbruch des "sozialistischen Ausbruchs" endgültig bewiesen, daß dieser "nicht konkurrenzfähig" war und daß es keine "natürliche Schranke" des Kapitalismus gibt (von ihm selbst in Anführungszeichen gesetzt). Dies ist angesichts der durch den ersten Weltkrieg ausgelösten revolutionären Erschütterungen in einer ganzen Reihe von Ländern und des Umstands, daß kein ernsthafter Theoretiker des Marxismus einen Zusammenbruch des Kapitalismus als gleichzeitigen und umfassenden Akt des internationalen Proletariats behauptet hat, nicht nachvollziehbar. So hatte z.B. Karl Kautsky in seinem Werk "Das Erfurter Programm" (12.Aufl., Stuttgart 1914, S. 107) geschrieben: "Eine soziale Revolution braucht auch nicht mit einem Schlage entschieden zu werden. Es dürfte dies sogar kaum je der Fall gewesen sein. Revolutionen bereiten sich in jahre- und jahrzehntelangen politischen und wirtschaftlichen Kämpfen vor und vollziehen sich unter steten Wechseln und Schwanken der Machtverhältnisse der einzelnen Klassen und Parteien, oft von lange dauernden Rückschlägen (Reaktionszeiten) unterbrochen." Die fehlerhafte Auffassung der marxistischen Revolutionskonzeption läßt Uwe-Jens Heuer folgerichtig die These entwickeln, die Oktoberrevolution sei im unreifen Rußland "zu früh" gekommen und der Stalinismus sei daher notwendig gewesen, um die Barbarei aus Rußland zu vertreiben (Heuer, a.a.O., S. 21). Demgegenüber dürfte es weit richtiger sein, davon zu sprechen, daß Stalin auf der Ebene der politischen Herrschaft Methoden eingeführt hat, die als neuzeitliche Barbarei zu bezeichnen sind. Mit Rosa Luxemburg (R.L., S. 435) ist jedoch festzuhalten, daß eine Revolution niemals zu früh kommen kann: Es "läßt sich das 'verfrühte' Ergreifen der Staatsgewalt auch deshalb nicht vermeiden, weil diese 'verfrühten' Angriffe des Proletariats eben selbst ein, und zwar sehr wichtiger Faktor sind, der die politischen Bedingungen des endgültigen Sieges schafft, daß sie eben auch den Zeitpunkt des endgültigen Sieges mitherbeiführen und mitbestimmen. Von diesem Standpunkte erscheint die Vorstellung einer verfrühten Eroberung der politischen Macht durch das arbeitende Volk als ein politischer Widersinn, der von einer mechanischen Entwicklung der Gesellschaft ausgeht und einen außerhalb und unabhängig vom Klassenkampf bestimmten Zeitpunkt für den Sieg des Klassenkampfs voraussetzt. Da aber das Proletariat somit gar nicht imstande ist, die Staatsgewalt anders als 'zu früh' zu erobern, oder, mit anderen Worten, da es sie unbedingt einmal oder mehrmals 'zu früh' erobern muß, um sie anschließend dauernd zu erobern, so ist die Opposition gegen die 'verfrühte' Machtergreifung nichts als die Opposition gegen die Bestrebungen des Proletariats überhaupt, sich der Staatsgewalt zu bemächtigen."Uwe-Jens Heuer, der von "Erfahrungen des Stalinismus" und dem "Scheitern des europäischen Sozialismus" spricht (a.a.O., S. 24), anstatt von Erfahrungen des europäischen Sozialismus und dem Scheitern des Stalinismus zu sprechen, ist jetzt der Auffassung, einen gesetzmäßigen Übergang zum Sozialismus gebe es nicht, der Sozialismus liege wahrscheinlich in weiter Ferne und auf absehbare Zeit werde der Nord-Süd-Gegensatz dominant sein(a.a.O., S. 26). Er offenbart damit lediglich seine schematische und ahistorische Sicht des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und seine Befangenheit im mechanistischen Weltbild des Stalinismus, der meinte, durch die Überlegenheit des sog. sozialistischen Lagers in der Systemkonkurrenz den Imperialismus niederkonkurrieren zu können. Nach dem Katzenjammer folgt jetzt eine kaschierte Form der Kapitulation vor dem Reformismus. Anstatt zu begreifen, daß wir inmitten einer revolutionären Epoche leben und die Widersprüche dieser Epoche zu analysieren und zum Ausgangspunkt revolutionärer Politik zu machen, wird jetzt erklärt, es habe einen Epochenbruch gegeben und der Sozialismus stünde nicht nur nicht mehr auf der Tagesordnung, sondern er sei auch nicht mehr notwendig und gesetzmäßig..
[10]Dies sind nur die wichtigsten Faktoren - auf weitere bedeutende Momente der Entwicklung, so den angesichts der Systemkonkurrenz stark zurückgedrängten Faktor der innerimperialistischen Konkurrenz, muß hier nicht vertieft eingegangen werden.
[11]Auch Kautsky wies seinerzeit nach, daß Marx und Engels zu keinem Zeitpunkt von einem automatisch aus ökonomischen Krisen hereinbrechenden Zusammenbruch des Kapitalismus ausgegangen war. Kautsky bewies gleichzeitig, daß Bernsteins Kritik an den Marxschen Prognosen durch die tatsächliche Ökonomische Entwicklung widerlegt wurde, die die Marxschen Vorhersagen bestätigte.
[12]Hierbei sei angemerkt, daß die bedeutenden Reformwerke dieser Periode ohne Regierungsbeteiligungen von Sozialdemokraten, nur aufgrund der für die Arbeiterklasse günstigen Kräfteverhältnisse zustande gekommen waren. Das traf auch auf die bedeutendsten späteren Sozialreformen der deutschen Geschichte zu.
[13]Hierfür wird bewußt der Begriff Boom anstelle von Blüte verwandt. Der Boom der imperialistischen Nachkriegswirtschaft war zugleich mit permanenten Kolonialkriegen, Atomkriegsgefahr und wachsenden ökologischen Zerstörungen verbunden, d.h. einer Existenzgefährdung der Menschheit...
[14]R.L., S. 393
[15]R.L., S. 395 f
[16]R.L., S. 398
[17]R.L., S. 431
[18]R.L., S. 433 f