Peter Feist

Vom Nutzen der Dialektik
Anmerkungen zu einer Debatte, die (unter Linken) leider nicht stattfindet


Daß die Dialektik eine wesentliche Grundlage des Marxismus ist, daß jeder von uns sich mit ihr beschäftigen muß und so weiter - solchen Leerformeln stimmt jeder zu bzw. gebraucht sie. In unserer Praxis ist es allerdings damit nicht weit her.
Dies hat auch Ursachen in der bürgerlichen Gesellschaft, die uns umgibt. Die erste Ursache besteht darin, daß für den bürgerlichen "gesunden Menschenverstand" die Dialektik etwas anrüchiges ist. Er versteht unter Dialektik irgend etwas verschlagenes, eine Art von "tricksen" in der Argumentation, mit dem der Normalbürger reingelegt, scheinüberzeugt oder eventuell manipuliert werden kann. So entschlüpfte z.B. MdB Gerster (CSU) bei einem SAT.1 "Talk im Turm" gegen G. Gysi der Satz: "mit ihren dialektischen Tricks können Sie sich da nicht rausreden !" Sie fürchten, was sie nicht begreifen ? - Nein, Sie verunglimpfen, was sie fürchten !

Eine Denkweise , die die reale Gegensätzlichkeit der Welt in ihrer inneren Einheit und Notwendigkeit denkend erfassen kann, führt (bei ihrer richtigen Anwendung) zu Analysen und Bewertungen, die den Schein der bürgerlichen Gesellschaft zerbrechen, den Nebelvorhang von Propaganda und Apologetik auseinanderwirbeln, letztendlich mehr Fragen aufwirft, als Antworten stanzt.
Darin liegt eine weitere Ursache des mangelnden Umgangs mit der Dialektik: In einer Welt der Schlagzeilen und kurzen Bilder sind komplexe Antworten auf komplexe Themen, eben dialektische Sichtweisen, nicht gefragt, weil scheinbar unpraktisch. Deshalb geben wir uns gelegentlich mit Schlagworten zufrieden oder fallen auf sie herein. Wird aber das Denken auf das praktisch-nützliche, also (medial) verwertbare reduziert, so ist das vielleicht noch ein "Erklären", aber keinesfalls mehr "Denken" im Sinne eines wesentlichen Ergründens. Die Wissenschaft von den Gründen, also den inneren Wirk-Ursachen und ihren Gesetzen wird aber gerade Dialektik genannt.
Die systematische Verunglimpfung der Dialektik im bürgerlichen Journalismus und besonders in der offiziellen Kathederphilosophie hat seit 1989 im Zuge der allgemeinen Verunglimpfung des Marxismus deutlich zugenommen. In der Universitätsphilosophie ist zur Zeit vor allem das Totschweigen die gebräuchliche Methode, wobei der "tote Hund" Hegel gleich mitbegraben wird.
Durch den Zusammenbruch der akademischen, staatlich geförderten Dialektikforschung in Osteuropa, sofern sie auf wissenschaftlichem Niveau stattfand, droht hier ein Theorie-Loch, insbesondere auf die Frontprobleme in der Wissenschaftsentwicklung in Physik, Biologie, Astrophysik und Informatik bezogen, dessen Auffüllen zur Lösung der globalen Menschheitsprobleme dringend erforderlich wäre. Es ist eine der wesentlichen Aufgaben von Kaderorganisationen, die sich die Verteidigung des revolutionären Marxismus zur Aufgabe gemacht haben, (soweit es ihre Kräfte zulassen), diese Defizite einzugrenzen. Denn jede Generation muß die philosophische Dialektik , d.h. ihren kategorialen Apparat und ihre zentralen Aussagen, auf den jeweiligen Stand anheben, damit diese Denkmethode in den anderen Wissensgebieten aufgegriffen werden kann. Nur wenn es eine solche breite Rezeption gibt, kann sich die dialektische Theorie auch selbst weiter entwickeln. Neben dieser historischen Verpflichtung geht es aber auch darum, die Dialektik als Methode ständig auf unsere praktischen Tagesaufgaben anzuwenden.

Worin liegt ihr Nutzen dabei?

Die Dialektik ist eine Theorie deren Kern, populär gesprochen, darin besteht, als einzige feststehende Wahrheit anzuerkennen, daß nichts feststehend, sondern alles beständiger Veränderung und Entwicklung unterworfen ist. Wer dies für eine selbstverständliche Platitüde hält, den fordere ich zu einem Gedankenexperiment heraus. Der Leser frage sich einmal, welche Elemente in einem bestimmten Sektor der BRD-Gesellschaft gegenwärtig den rasantesten Veränderungen unterworfen sind, die den Charakter der Gesellschaft umkrempeln oder sogar Entwicklungen, die noch völlig offen sind, einleiten. Nachdem er zweifellos 2 - 6 solche Problemfelder sofort gefunden hat, beginnt das eigentliche Analyse-Problem:
Woher kommen diese Veränderungen ? Was bewirkt sie, welche Wechselwirkungen erzeugen sie? Gibt es eine Hierarchie bzw. eine Ordnung in diesen Prozessen? Was davon ist Triebkraft historischen Fortschritts? Was ist Überwindung des Alten und Was Voraussetzung des Neuen? etc.
Das verständige Resultat dieses Gedankenexperiments besteht darin, eine allgemeine Unübersichtlichkeit zu konstatieren. Das vernünftige (dialektische) Resultat, den Einblick in komplexe Entwicklungszusammenhänge zu bekommen und die Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man darin intervenieren kann, stellt sich normalerweise (außer bei Genies) erst nach einer kollektiven Diskussion her. Hier kommt nämlich das Subjekt der Dialektik (das Erkennende, nicht das revolutionäre) ins Spiel. Niemand, selbst der genialste Anwender der Dialektik, ist von "Einseitigkeiten" frei, erfaßt alle Tendenzen der Wirklichkeit. Das verweist darauf, das dialektisches Denken ohne gesellschaftlich vermittelten Dialog nicht möglich ist. Eine komplexe Widerspiegelung der Wirklichkeit leistet nur die kollektive Diskussion. Wenn wir uns der Dialektik als unserer Methode versichern wollen, müssen wir diesen kollektiven Diskussionsprozess organisieren!
Eine solche kollektive Analyse darf aber nicht bei der Beschreibung des Ist-Zustandes und seiner Ursachen stehenbleiben (worin wir im Allgemeinen ganz gut sind), sondern muß das "Veränderliche", das über den Ist-Zustand hinaus weisende in den Blick rücken (wobei wir sehr viel Nachholbedarf haben). Nur daraus lassen sich Möglichkeiten und Perspektiven des revolutionären Handelns ableiten, ohne zu einer romantischen Revolutionsprognostik zu verkommen. Erst das Wissen um das "Veränderliche" ermöglicht die Formulierung von Übergangsforderungen und einer revolutionären Strategie.
Um es deutlich zu sagen: Es geht nicht darum, neue Gewißheit zu erringen, sondern im Gegenteil darum, sich die prinzipielle "Ungewißheit" unserer gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft bewußt zu machen.

Um dies an einem Beispiel zu demonstrieren:

Viele von uns bewegt die Frage, welches Strategien es gibt beim Übergang der ehemaligen Sowjetunion zu einer bürgerlichen Marktwirtschaft, insbesondere zur Bekämpfung der daraus entstehenden Instabilität. Auch wir wissen nicht was wird, wir wissen nicht einmal genau, ob die bürgerliche Gesellschaft überhaupt Instrumente zur Beherrschung der Situation bereitstellen kann. Aber wir wissen, daß eine solche Zone der Instabilität auf unsere Situation durchschlagen wird. Je früher wir hier über Analysen verfügen und je tiefgründiger diese sind, desto eher können wir uns auf die Formen dieses "Durchschlagens" einstellen. Das heißt Gegenstrategien entwickeln oder das Bewußtsein dafür schaffen, daß die "beste aller Ordnungen" eben nicht in der Lage ist, überall und jederzeit die Probleme auf diesem Planeten zu lösen.
Insofern verstehe ich das bisher Gesagte nicht als eine abstrakte methodische Belehrung, sondern als eine notwendige Anmerkung zur programmatischen Debatte im RSB .

Eine kleine dialektische Anmerkung

In letzer Zeit ist des Öfteren die "gutgemeinte Empfehlung" zu hören, wir sollten als taktische Maßnahme in der Sprache der Agitation auf die "traditionellen" bzw. "belasteten" Begriffe aus der Terminologie der Arbeiterbewegung (z.B. Klasse, Klassenkampf, Kapitalismus etc.) verzichten und sie durch "zeitgemäßere" ersetzen. Man könnte hier natürlich einwenden, daß Begriffe immer der Ausdruck sowohl gewonnener Erfahrungen als auch Resultat theoretischer Analyse sind, sich also nicht so einfach "ersetzen" lassen - aber ich will mich mit dem Hinweis von Altmeister Hegel begnügen: "Die größte List der Vernunft aber, ist das offenste Handeln selbst."

Peter Feist, Dipl.-Philosoph, Berlin Dieser Artikel erschien als Original in "Avanti-Die Internationale", Ausgabe Januar 1996 sowie (verändert) in "Aletheia - Neues Kritisches Journal der Philosophie, Theologie, Geschichte und Politik", Nr. 10 (1996)

Autor: Peter Feist