Philosoph und moralischer Rigorist

Zum 75. Geburtstag von Wolfgang Harich

Die Meinungen über den am 9. Dezember 1923 in Königsberg geborenen Wolfgang Harich gehen weit auseinander. In den zu seinem Tode im Jahr 1995 zahlreich erschienenen Nachrufen finden sich Charakteristiken, die von seltsamer Dissident über kämpferischer Philosoph, eigenwilliger Nonkonformist, deutscher Patriot, selbsternannter Literaturkritiker, kommunistischer Ulbricht-Gegner bis Ökostalinist reichen. Er sei aufsässig, spritzig-intelligent, dogmatisch verbohrt, selbstkritisch, fanatisch, eloquent, unangepaßt, stur, unhöflich, charmant, begabt, lernfähig, meistgehaßt, ja, sogar ein "Wunderkind der jungen DDR" gewesen.

Obwohl viele dieser Benennungen auf ihn mehr oder weniger zutreffen, sind sie doch alle nur ein zeitgeistgeschwängerter Reflex des jeweiligen Betrachters, der sich das für ihn Wichtige oder zu Verteufelnde an der scheinbar so widersprüchlichen Gestalt heraussucht, weniger um W. Harich, gerecht zu werden, sondern vor allem, um seine eigene geistige Position ins Licht zu rücken. Ein Mann wie Harich eignet sich dazu besonders gut, ist doch sein Wirken in vielem ein getreues Abbild der konfliktbeladenen Geschichte des marxistischen Denkens in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts, Reflex der widersprüchlichen Entwicklung des von der Oktoberrevolution ausgegangenen sozialistischen Versuches. Die Stellung der Betrachter zu diesem Epochenereignis bestimmt bis heute auch die Stellung zu W. Harich. Denn trotz. aller Irritationen, die sein Werk bis heute auslöst, blieb er selbst sich immer treu - beziehungsweise der Sache, die er zu seiner gemacht hatte. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre hatte sich Wolfgang endgühig für den Marrxismus entschieden, nicht nur als Philosoph, zu dem er sich selbst gerade ausbildete, sondern auch als politisch Handelnder. Es lag vielleicht an seiner Profession, daß er sich in seinem Marxismusverständnis ein Leben lang sehr von dem unterschied, was gerade "richtig" war, für ihn war die geistige Integrität seiner Weltanschauung immer wichtiger, als die gerade herrschende WeItsicht von selbsternannten Parteitheoretikern und -führern.

Folgerichtig kämpfte er schon seit Ende der vierziger Jahre gegen den Dogmatismus der Stalintreuen, verteidigte in den frühen Fünfzigern Hegel und sein Werk gegen sie, stritt mutig für Ernst Bloch und unterstützte seinen Freund und Lehrer Georg Lukacs, als dieser Unperson geworden war, bescherte der marxistischen Literaturwissenschaft eine völlige Neubewertung des deutschen Dichters Jean Paul, warnte Ende der sechziger Jahre die antikapitalistische Bewegung in Westeuropa vor dem Abgleiten in den Anarchismus, als dieser gerade Mode wurde, begründete Mjtte der siebziger Jahre die Notwendigkeit marxistischen ökologischen Denkens, als man in der DDR die UmweItprobleme noch für ein Krisensymptom des untergehenden Kapitalismus hielt, führte in den achtziger Jahren heftige Attacken sowohl gegen Nietzsche als auch seine Kollegen, als er den Versuch einer "Ehrenrettung" für den Theoretiker des Übermenschen in der DDR zu erkennen glaubte, ebenfalls in den Achtzigern warb er für eine intensive Rezeption des Ontologen Nicolai Hartmann in der marxistischen Philosophie und trat schließlich seit 1991 vehement für eine gerechte und ausgewogene Betrachtung der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte ein, die es auch den Ex-DDR-Bürgern gestatten sollte, mit Würde und Stolz auf das von ihnen geschichtlich Geleistete in den neuen Abschnitt deutscher Geschichte einzutreten.

Er war also im besten Sinne des Wortes ein Querdenker, ihn interessierte nicht das vermeintlich Aktuelle, sondern der Querschnitt des jeweiligen Bewußtseinsstandes und seine Konsequenzen. Daraus zog er seine Schlüsse und die waren für Zeitgenossen nicht immer sofort verständlich, was seinen Biografen Siegfried Prokop veranlaßte, sein Harich-Buch mit dem Ausspruch ,;Ich bin zu früh geboren" zu betiteln. Wenn er wirklich ein Zu-Früh-Geborener war, was hat er dann uns später Lebenden zu sagen? Für die Philosophie im engeren Sinne ist vor allem seine Hinwendung zur Ontologie zu nennen. Die "Seinslehre" ist im Marxismus immer etwas stiefmütterlich behandelt worden, außer Lenins "Materialismus und Empiriokritizismus" gibt es bis heute kaum etwas Wesentliches, mit der Ausnahme von Lukacs-Harich. Weithin unbekannt ist nämlich, das es der junge Harich war, der 1952/53 den Budapester Lehrer-Freund auf seinen eigentlichen philosophischen Lehrmeister hinwies, auf Nicolai Hartmann. Hartmann, der bedeutendste bürgerliche Ontologe unseres Jahrhunderts, bei dem sich Harich unter falscher Altersangabe mit 16 Jahren ins Seminar an der Berliner Universität geschlichen hatte, wurde zum Anreger und Ausgangspunkt für das Spätwerk von G. Lukacs "Die Ontologie des gesellschaftlichen Seins". Für Harich blieb die Ontologie ebenfalls das große Thema. So ist es nicht zufällig, daß er sich der Herausgabe der Werke von L. Feuerbach widmete. Als er 1975 sein Buch "Kommunismus ohne Wachstum" veröffentlichte, hatte er einen bis heute kaum beachteten Schritt getan, die Begründung der marxistischen Ökologie! Für den Ontologen Harich war es selbstverständlich, daß in der ganzheitlichen ökonomischen Gesellschaftstheorie von K. Marx von Anfang an auch ein klares Programm zum Umgang mit der Natur steckte, Marx eine starke ökologische Komponente hatte, nur war dieses Bewußtsein bei den Nachgekommenen stark in den Hintergrund getreten. Indem er auf die wesentlichen Belegstellen in den Marx-Texten hinwies, zugleich aber auch materialistisch-naturwissenschaftliche Erkenntnisse führender Biologen nutzbar machte, kam Harich zu einer ganz anderen Einschätzung der Tätigkeit des "Club of Rome", als die offizielle DDR. Er war meines Wissens der erste Marxist in Europa. der in vollständiger Konsequenz erkannte, das die Lösung der Umweltfragen die gleiche oder möglicherweise sogar eine höhere Sprengkraft für die kapitalistische Gesellschaft besitzt. wie die von Marxisten traditionell untersuchte soziale Frage. Wenn dies für die heutige Linke auch allgemein akzeptiert ist. so ist doch W. Harich als ,.Urheber' dieser Seite moderner Gesellschaftsanalyse weitgehend unbekannt. Sicher liegt dies auch daran, daß die Schlußfolgerungen, die Harich aus der Bedeutung der Öko-Frage für die neu zu errichtende Gesellschaft damals gezogen hatte, immer noch abgelehnt werden; wahrscheinlich zu Recht Allerdings mangelt es heutigen Diskussionen zu dieser Frage oftmals genau an dem, was Harichs Leistung ist - der ganzheitlich-ontologischen Dimension. Einiges zu diese Thema muß heute noch ungesagt bleiben, denn die zweite wesentliche Arbeit von Harich zur Ontologie ."Nicolai Hartmann - Größe und Grenzen", ist bis heute nicht gedruckt erschienen, was den obskuren Praktiken der Erbin bei der Nachlaßverwaltung geschuldet ist.

Die von Harich-Lukacs eingeleitete ontologische Wende ist nicht nur ein Teil der notwendigen Erneuerung im Marxismus einem Schritt zu den theoretischen Erfordernissen des neuen Jahrtausends, sondern zugleich auch eine Quelle neuer Erkenntnisse, wovon man sich u.a. in den jüngsten Arbeiten von Gerhard Branstner überzeugen kann. In politischer Hinsicht teilt Harich das Schicksal vieler marxistischer Intellektueller, die bei aller Richtigkeit ihrer theoretischen Erkenntnisse in Bezug auf die praktische gesellschaftliche Situation eigenen Illusionen erlegen sind. Denn so heroisch und notwendig sein und seiner Mitstreiter Versuch zu einer grundlegenden Reform der DDR im Jahr 1956 gewesen ist, so mußte er doch an den weltgeschichtlichen Realitäten dieser Zeit scheitern. Daß sie es dennoch versucht haben, ist einer der wenigen Lichtblitze in der Nacht des Stalinismus gewesen. Zugleich beleuchtet es einen lebenslangen Charakterzug von Wolfgang Harich: wenn er etwas als notwendig für die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung angesehen hatte, konnte ihn nichts und niemand davon abhalten, sich rückhaltlos dafür einzusetzen. Dieser aus tiefstem philosophischen Grund gespeiste moralische Rigorismus war es, der ihm so viele Feinde verschaffte und es auch seinen Genossen nicht immer leicht machte, bei ihm zu stehen; der ihn aber weit über die Schar wirklicher oder selbsternannter Dissidenten erhebt und zu einem der bedeutendsten kommunistischen Intellektuellen der Nachkriegszeit macht

Peter Feist

Dipl.-Philosoph