Peter Feist

Dipl.-Philosoph, Berlin

Rassismus

Zur Entstehungs- und Wirkungsweise
ideologischer Phänomene

Dem Seminar-Vortrag lagen folgende, (von den Teilnehmern vorher zu lesende) Texte zu Grunde.

Karl Marx: “Das Geheimnis der spekulativen Konstruktion”, in: “Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik”, MEW Bd. 2, S. 59-63 und Friedrich Engels an Joseph Bloch (Brief v. 21. Sept. 1890), MEW Bd. 37, S.462-65.

“Das Sein bestimmt das Bewußtsein” - nach diesem allgemeinen Lehrsatz suchen Marxisten und andere Linke nach Antworten auf das Problem eines um sich greifenden Rassismus - das heißt, sie leiten aus der Klassenlage (sozialen Situation) ab, warum in dieser Ideologie heutige Probleme artikuliert werden und warum sie als ein Massenphänomen ausgebrochen sind - und kommen zu wenig befriedigenden Antworten.

Warum?

Es handelt sich hier um ein methodisches Problem:

Der Zusammenhang von Sein und Bewußtsein ist keine platte Abbildbeziehung, das Bewußtsein ist nicht einfach ein Spiegel des Seins, der realen Welt, sondern ihm kommt eigenständige Qualität zu. Diese Eigendynamik, die “relative Selbständigkeit des Bewußtseins”, ist mein Hauptanliegen in diesem Vortrag.

Die materialistische Denkweise vom “Primat der Materie” gilt nur in dem engen Sachzusammenhang mit der von Friedrich Engels so benannten Grundfrage der Philosophie (eigtl. Grundfrage der Gnoseologie, der Lehre von der Erkenntnis und ihren Formen). Für die Betrachtung wirklicher gesellschaftlicher Verhältnisse, darauf hat schon Lenin hingewiesen. gilt eine “Relativität der Entgegensetzung” von Materie und Bewußtsein.

“Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens (...) Wir machen Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter sind die ökonomischen die schließlich entscheidenden. Aber auch die politischen usw., ja selbst die in den Köpfen der Menschen spukende Tradition, spielen eine Rolle, wenn auch nicht die entscheidende."[1]

Der o.g. allgemeine Grundsatz besagt lediglich, daß das Sein die Formen unseres Bewußtseins hervorbringt, daß in jeder Bewußtseinsform sozusagen ein realer Kern enthalten ist, daß sich Bewußtseinstatsachen aus der Reflexion von Erfahrungen (mit dem Seienden) bilden. Diese Reflexion kann allerdings sehr verzerrt sein. Wir unterscheiden das Bewußtsein in wahres, falsches und verkehrtes; worauf später noch zurückzukommen zu sein wird.

Solche verzerrten, besser "verkehrten" Abbilder nannten Marx und Engels schlicht "Ideologie", also in etwa "Ideenlehren" (oder negativer "Ideenbrei" - P. F.), ein bei ihnen durchweg negativ besetzter Begriff.

"Zwischen den materiellen Grundlagen einer Gesellschaft und ihren ideellen und ideologischen Reflexen besteht keine a priori gegebene Entsprechung. sondern Übereinstimmung wird durch Nichtübereinstimmung ergänzt."[2]

Wir werden nun zeigen müssen, daß es ein dialektisches Wechselverhältnis zwischen zwei Faktoren gibt:

a) daß der Rassismus in die Sphäre des "Ideenbreis" gehört und

b) daß er reale Erfahrungen widerspiegelt (also Seinsbehaftet ist) und welche "Erfahrungen" dies sind.

Dafür sind folgende Denkschritte notwendig:"

- Wie entstehen Ideologien?

- Warum wirkt Rassismus?

- Sind Gegenstrategien möglich. ?

I. Rassismus als ideologisches Phänomen

Einer der Grundgedanken des historischen Materialismus besteht in der Dialektik von Verhalten und Verhältnis. in Kurzfassung etwa so:

Die Menschen konstituieren durch ihr Verhalten zueinander gegenseitig wirkende (objektive) Verhältnisse. Ihr Verhalten zueinander ist allerdings kein willkürliches, sondern durch die Resultate früheren Verhaltens und dadurch geschaffener Verhältnisse bestimmtes (determiniertes) Verhalten. Die Voraussetzungen unseres Handels sind zugleich die Resultat unseres vorausgegangenen Handeins. Daher unterscheidet der historische Materialismus sinnvollerweise in

a) materielle Verhältnisse und

b) ideelle/ideologische Verhältnisse.

Materielle Verhältnisse sind z.B. Produktionsverhältnisse und Eigentumsverhältnisse; aber das ist hier zu vernachlässigen

Ideelle/Ideologische Verhältnisse sind Rechtsverhältnisse, Politik, Religion etc.

Rechtsverhältnisse sind z.B. nichts weiter als Verabredungen zwischen Menschen, diese oder jene Frage so oder so zu regeln. Da diese Verabredungen aber eine lange Tradition haben, zum Beispiel: die rechtliche Ausgestaltung von Besitzverhältnissen darstellen. erscheinen sie den Nachfolgenden als objektive Sachzwänge, als außermenschliche Verhaltensnormen. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet z. B. auf der Grundlage der (von Menschen

geschriebenen) Verfassung über die Rechtmäßigkeit eines Gesetzes und Millionen von Menschen. einschl. der Regierung, richten ihr Verhalten darauf ein. als ob diese Verfassung etwas außerhalb unseres Willens und unserer Beeinflussung liegendes Ewiges wäre. Sie ist aber "nur" ein (objektives, gesellschaftliches) ideologisches Verhältnis.

Die Menschen produzieren und reproduzieren also ideelle/ideologische Verhältnisse, die ihnen als Voraussetzungen ihres Handelns erscheinen und dies auch in bestimmter Hinsicht sind (objektiver Schein/Fetisch). Marx: "Mein Verhältnis zu meiner Umgebung ist mein Bewußtsein".[3]

Es gibt zwei Ideologiebegriffe im marxistischen Sprachgebrauch:

1. der Begriff von Ideologie, wie ihn Marx und Engels benutzten ("Ideenbrei"), nämlich als "verkehrtes" Bewußtsein. "Verkehrtes Bewußtsein" meint hier: einzelne soziale Erscheinungen (Phänomene) nehmen die Form gesellschaftlicher Mächte an. Die Ideen werden als die eigentlichen Subjekte betrachtet (nicht als die Attribute der Subjekte). Eine Ideologie kann den Inhalt und Zusammenhang der gesellschaftlichen Entwicklung in ihrer Zeit nicht "kritisch" sehen, sondern setzt die jeweilige Gesellschaft absolut (z.B.: der Kapitalismus ist die "natürliche Form" der menschlichen Gesellschaft).

Verkehrung bedeutet: es handelt sich um eine objektive Umkehrung, deshalb wollten Marx/Engels die alten Ideologien vom "Kopf auf die Füße stellen".

Beispiel: "Geld regiert die Welt", anstatt: Geld ist ein allgemeines Äquivalent im Warenaustausch, aus heute eigentlich wertlosem Material (z.B. Alu-Chips, Muscheln), das nur dadurch als allgemeiner Tauschwert anerkannt wird, weil wir es als einen solchen anerkennen wollen und müssen. Würden wir uns darauf einigen, ab morgen nur noch Ping-Pong-Bälle als allgemeines Äquivalent aller Tauschwerte anzuerkennen, wäre die jetzige Geldform (Münzen und Scheine) vollkommen wertlos, nichts weiter als bedrucktes Papier. Weil aber die Menschen eben diesen Verhältnischarakter des GeIdes nicht erkennen können (objektiver Schein/Fetisch), "regiert" es dem An-"Schein" nach die Welt.

Aber: Selbst völlig falsche, "verkehrte", irrationale Ideologien können handlungsorientierend wirken, sogar partiell das gesellschaftliche Sein verändern.

2. Der zweite Begriff von Ideologie ist der von Lenin geprägte, der Ideologie als System von Anschauungen mit philosophischen oder theologischen Begründungen und daraus abgeleiteten Verhaltensnormen versteht, (es handelt sich dabei aber nicht um eine geschlossene Weltanschauung).

Im weiteren wird der Begriff Ideologie in diesem Sinne verwendet. Für den Rassismus scheint mir der Begriff Ideologie "zu hoch gegriffen", ich verwende lieber den Begriff "ideologisches Phänomen", um den eklektischen und widersprüchlichen Charakter dieser Bewußtseinsform zu charakterisieren. Soll heißen = Phänomene sind die Dinge, die erscheinen, also Rassismus ist eine Bewußtseinserscheinung

der komplexere Ideengebilde (Bewußtseinsinhalte) zugrunde liegen, ohne von ihr immer benutzt zu werden.

Hier speisen sich gleiche oder ähnliche Gedankenkonglomerate aus einem Grund:

Rassismus, Nationalismus, Fremdenhaß, Ausländerfeindlichkeit, Chauvinismus, ohne daß man sie als Identisches bezeichnen darf.

II. Wie entstehen ideologische Phänomene?

Plechanow verwendet dafür den Begriff der "gesellschaftlichen Psychologie"[4], das will sagen:

Ideologen machen ihre Theorie(n) auf der Grundlage eines allgemeinen gesellschaftlichen Unbehagens, eines "Krisenbewußtseins". Indem sie dieses Krisenbewußtsein artikulieren, eine Massenstimmung artikulieren, also die Seelenlage (Psychologie) einer Gesellschaft zum Ausdruck bringen, verschaffen sie sich das notwendige Gehör für ihre Art von Lösungsvorschlägen.

Dabei folgt die Bewußtseinsentwicklung folgenden allgemeinen, notwendigen und wesentlichen Zusammenhängen (Gesetzen):

1. das Bewußtsein ist eine Reflexion des Seins, seine Entwicklung und Bewegung ist bestimmt durch die Entwicklung und Bewegung des objektiven gesellschaftlichen Seins, z.B. dem Reifegrad der Gesellschaftsordnung und der jeweiligen konkreten Gesellschaft (Arbeiterstaat, Sowjetunion 1938);

2. die Möglichkeiten der Erfassung, Widerspiegelung des Seins sind abhängig vom sozialen Dasein des erkennenden Subjekts, insbesondere von seiner Klassenzugehörigkeit und der geschichtlichen Bestimmung dieser Klasse im Verhältnis von Fortschritt und Reaktion (z.B.: die Ideologen reaktionärer Klassen stoßen in der Gesellschaftstheorie zunehmend an Erkenntnisschranken, weil das Bewahren des Bestehenden im Vordergrund ihres Denkens steht);

3. das Bewußtsein ist selbst Ausdruck historischer Entwicklungszusammenhänge, so spiegeln sie eine bestimmte Sicht auf das Vergangene wider und stellen, ausgehend von der sozialen Lage des Rezipienten, eine bestimmte Form der Antizipation des Zukünftigen dar. Diese Zusammenhänge sind immer historisch-konkrete, es gibt keine zeitunabhängige objektive Erkenntnis (genau so wie es keine subjektunabhängige Erkenntnis gibt);

4. die These von der "relativen Selbständigkeit des Bewußtseins" gründet sich u. a. darauf, daß immer an vorhandenes Gedankenmaterial angeknüpft wird. dieses Vorhandene bestimmt oft die Form einer Ideologie, das Bewußtsein ist auch Schöpfer seiner selbst. "Das Bewußtsein des Menschen widerspiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch."[5];

5. es gibt spezifische Gesetze der Bewußtseinsentwicklung für einzelne Formationen, Produktionsweisen, Klassen etc.

Es ist notwendig, diese allgemeinen Zusammenhänge zu kennen, um eine konkrete Ideologie analysieren und bekämpfen zu können.

III. Funktionen von bürgerlicher Ideologie in der kapitalistischen Gesellschaft

In der kapitalistischen Gesellschaft muß jede bürgerliche Ideologie folgende drei Funktionen erfüllen, um die Bedürfnisse der Herrschenden zu befriedigen und sich durchzusetzen:

1) immunisieren: sie muß die Nichtprivilegierten gegen emanzipatorische und sozialistische Ideen immunisieren;

2.) integrieren: einbinden möglichst aller Menschen in die bürgerliche Gesellschaft. In dieser Gesellschaft fallen materieller und ideeller Lebensprozeß auseinander. Während die Einbindung in den materiellen Lebensprozeß zwanghaft über das Kapitalverhältnis erfolgt, muß eine ideelle Einbindung in die bürgerliche Gesellschaft, möglichst bis zu einer Identifikation mit dieser, erst manipulatorisch erzeugt werden;

3.) mobilisieren: Engagement für den Erhalt der bürgerlichen Ordnung, vor allem der Eigentumsverhältnisse, entwickeln. Versuch mit außerökonomischen Mitteln Leistungsbereitschaft im Produktionsprozeß zu erzeugen.

Diese Funktionsbestandteile bedient das ideologische Phänomen Rassismus nur in Teilaspekten, vor allem weil es ein destruktives Element in sich enthält.

Zusammenfassend kann festgestellt werden: der Ideologiebildungsprozeß ist ein gesellschaftlicher Prozeß, obwohl ihn Individuen "hervorbringen" (eine konkrete Ideologie entspringt einem individuellen Gehirn). Die Ideologien entstehen aus dem Zusammenwirken von Individuen und Subjekten, die Schöpferkraft des Einzelnen ist gesellschaftlich vermittelt. Sie knüpfen sowohl an vorhandenes Gedankenmaterial (Traditionen) an, sind aber zugleich auch Resultat von Erfahrungswissen. Gesellschaftliche Wirksamkeit erreichen sie nur, wenn sie die objektive Realität in einer geeigneten Form (auch in "verkehrter") widerspiegeln und handlungsorientierend wirken. Ideologien ohne jeglichen Erfahrungs- oder Realitätsbezug sind sinnleer und unwirksam.

IV. Warum wirkt Rassismus?

Es handelt sich bei ihm um keine komplexe Ideologie, sondern eigentlich um eine Reiz-Reaktion auf der Grundlage eines biotischen Verhaltenstyps (Urinstinkt, Archetyp), der Angst vor dem Fremden. Hier in der Form der Angst vor dem vermeintlich Andersrassigen, dem, der nicht der eigenen Ethnie angehört. Diese Angst vor dem Anderen/Fremden bildet ein korrelatives Paar mit dem Gemeinschaftsgefühl / Gruppeninstinkt, was in diffusen Begriffen wie z.B. Volksgemeinschaft ausgedrückt wird.

Die Cliquenmentalität rassistischer Gruppen ist also nichts weiter als die Umkehrung ihres aggressiven Verhaltens gegen Andere.

Nebenbemerkung:

Wird diese Grundstimmung (Rassismus), verbunden mit 1. sozialer Demagogie ( z.B. Arbeitsplatze und Wohnungen nur für Deutsche ) sowie der 2.) offenen Propagierung von Terror gegen die Anderen (z. B. physische Vernichtung), so wird damit der Übergang zum Faschismus markiert.

Um diesen Verhaltenstypus ideologisch nutzbar zu machen wird mit Feindbildern gearbeitet. Feindbilder dienen dazu. objektive Interessengegensätze in Emotionen zu transformieren. die dann handlungsstimulierend wirken.[6] Sie haben Informationsvereinfachungen zur Voraussetzung, es entstehen ideologisch überfremdete, verzerrende Stereotypen. Diese Stereotypen sind notwendig, da es normalerweise nicht möglich ist, "reale" Menschen grundlos zu hassen. Diese Stereotypen werden dann mit inhumanen Diffamierungen und Gefahrengeneralisierungen gekoppelt (z.B. "alle Bolschewisten fressen kIeine Kinder").

Feindbilder sind gekennzeichnet durch:

- Personalisierung: Krisenbewußtsein wird in einen "konkreten Gegner" projiziert, dies setzt starke Handlungsschübe frei, sprengt moralische Grenzen und hilft, auch Gefahrenmomente (Schock, Angst) zu überwinden;

- Mystifizierung des Gegners, z.B.: Untermensch, religiöser Fanatiker; dies erzeugt Überlegenheitsgefühle, kann aber auch in Angst umschlagen (ambivalentes Moment).

Im Rassismus im engeren Sinne werden auf der Grundlage äußerlicher Merkmale (Hautfarbe, Körperbau, aber auch Sprache und Kultur) Menschengruppen psychische und soziale Eigenschaften kollektiv zugeordnet ("Polen sind faul, Asiaten sind grausam").

Wie oben ausgeführt, braucht jede Ideologie einen Realitätsbezug. Der konkrete Realitätsbezug des Rassismus verpflichtet uns zur Beseitigung jener gesellschaftlichen Probleme, aus denen er entsteht.

Welche Realitätsbezüge sind aufzufinden?

1. Es gibt reale biologische Unterschiede zwischen verschiedenen Menschenarten (races), aber: daraus läßt sich biologisch gesehen keine verschiedene Wertigkeit zwischen den Gruppen oder gar Individuen ableiten. Werten ist ein typisch gesellschaftliches (menschliches), ideologievermitteltes Verhalten, das in der Natur (Biologie des Menschen) keinen Platz hat.

2. Es gibt bewußt geschaffene Interessengegensätze zwischen z.B. deutschen und ausländischen Arbeitern im Rahmen der Politik des "divide et impera".

Ein ideologisch stärker vermittelter Realitätsbezug ergibt sich aus dem Zwillingspaar von Rassismus und Nationalismus, nämlich der Tatsache, daß es eine gemeinsame Sprache, Kultur und Traditionen in einem Volk gibt, was die Grundlage für die Herausbildung bürgerlicher Nationalstaaten war. Notwendig wurde dieser Staat vor allem zur Schaffung eines nationalen Marktes und seines Schutzes gegen äußere Konkurrenten. Der bürgerliche Nationalstaat stellt einen objektiven historischen Fortschritt dar.

Als die Großbourgeoisie aber einen internationalen Markt mit internationaler Arbeitsteilung schuf, entstand eine kleinbürgerlich-reaktionäre Gegenbewegung. Diese kleinbürgerlichen Schichten wollten einen überschaubaren ökonomischen Handlungsraum (künstlich) erhalten, deshalb entstand eine nationalistische und in deren Folge eine rassistische Ideologie, die sich vom Großmachtchauvinismus der Bourgeoisie unterscheidet. Ideologisch überformt durch vulgärbiologistische und vulgärsoziologische Ideologen (Gobinaut, Chamberlain) entstand dieses ideologische Phänomen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.

Ideologietheoretisch haben wir es hier mit einer spekulativen Konstruktion[7] zu tun.

V. Rassismus als spekulative Konstruktion

Mit der Entdeckung des Mechanismus der spekulativen Konstruktion gelang es Marx/Engels das Geheimnis aufzudecken, wie der Idealismus, also die nichtmaterialistische Denkweise, entsteht. Es wurde damit möglich, primitivere Vorstellungen (die sind einfach dumm, Religion ist Priesterbetrug) abzulösen und durch eine wissenschaftlich-dialektische Erklärung zu ersetzen.

Marx konnte zeigen, daß idealistische Konstruktionen die Produkte der Art und Weise unseres Denkens sind und nicht bloßes Resultat eines Denkfehlers. Die spekulative Konstruktion des Rassismus erfolgt, vereinfacht gesagt, nach folgendem Schema:

1. einzelne Eigenschaften einzelner Individuen, z. B. Hugo ist faul, werden

2. auf die / alle Hugos übertragen, d. h., es wird geschlußfolgert, alle Hugos sind faul (einfacher Syllogismus)

3. aber dann werden die Resultate meines Denkens zugleich ihre Voraussetzungen (die eigentliche "Konstruktion") indem: immer wenn ich einen neuen Hugo kennenlerne, suche ich solange nach geeigneten Verhaltensweisen, bis ich mir seine Faulheit nachweisen kann, denn ich weiß ja (aus angeblicher Erfahrung, in Wirklichkeit durch meine spekulative Konstruktion), daß alle Hugos faul sind.

Die Gefahr dieser Denkweise, in der meine Denkresultate zugleich die Voraussetzungen meines Denkens sind, ist ihre große Evidenz, ihre scheinbare Folgerichtigkeit und die ihr (scheinbar) innewohnende Möglichkeit, sie an meinen eigenen Erfahrungen zu überprüfen.

VI. Gegenstrategien

Für die Entfaltung von Gegenstrategien sehe ich folgende drei Probleme:

1. Basierend auf dieser "Angst vor dem Anderen/Fremden" und den genannten sozialen Faktoren gibt es eine jederzeit abrufbare emotionale Basis für rassistische Ideologien im Kapitalismus.

2. Der Rassismus ist in seiner langen Geschichte eine tradierte Ideologie geworden - er ist ein (gewachsenes) gesellschaftliches Verhältnis, das als Erziehungshintergrund tief in die Verhaltensstrukturen vieler Menschen eingelagert ist.

3. Der objektive Problemdruck, aus dem sich der jüngste Rassismus speist, wächst weiter an:

-Nord-Süd-Armutsgefälle

-ökonomische Völkerwanderung

-konflikthafte Zuspitzungen in den "reichen Ländern"

-Motiv der "Besitzstandswahrung" auch bei den Unterprivilegierten.

4. Die bürgerliche Ideologie braucht immer Feindbilder, sonst werden Immunisierung, Identifikation und Mobilisierung als Funktionen von Ideologie in der Klassengesellschaft nicht erreicht.

Zusammenfassend gesagt:

Eine wirkliche, dauerhafte Überwindung des Rassismus ist unter den Bedingungen der entfremdeten Arbeit in der warenproduzierenden Gesellschaft nicht möglich.

Gegenstrategien müssen daher darauf abzielen, seine ideologische "Verwertbarkeit" abzuschwächen,

z.B. durch:

- Kampf gegen biologistische Gesellschaftstheorien, die Menschen nur oder vorwiegend als natürliches Wesen und nicht als gesellschaftlich bestimmtes begreifen

- das Organisieren realer Erfahrungen mit Menschen anderer Kulturen (aktiver Internationalismus), Stärken des Solidaritätsgefühls auf allen emotionalen Ebenen

- das Anprangern der inhumanen Aspekte der rassistischen Ideologie, um humanistisches Wertpotential innerhalb der bürgerlichen Ideologien zu mobilisieren

-Kampf gegen die Formen der realen Ungleichheit: (Niedriglöhne, Sondergesetze, Abschiebungen)

-in der Arbeit mit Jugendlichen aus der rechten Szene genaue Differenzierung in: nationalistische, rassistische, faschistische Denkweisen und dafür jeweils verschiedene Antwortstrategien.

P. F., 1993


[1]Engels, MEW Bd. 37, S. 463
[2]Gottfried Stiehler in: M. Leske, G. Redlow, G. Stiehler, "Warum es sich lohnt, um Begriffe zu streiten", Berlin, 1982, S. 48
[3]Marx, Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 30
[4]G. Plechanow, Grundprobleme des Marxismus
[5]Lenin, Werke, Bd. 38, S. 203
[6]W. Frindte, "Feindbilder aus der Sicht des Psychologen" in: Wissenschaft und Fortschritt, 39. JG. (1989), Heft 3, Berlin
[7]siehe: "Das Geheimnis der spekulativen Konstruktion", in: MEW, Bd. 2, S. 59-63)