Peter Feist

Auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt


aus: "Die Rote Fahne", Berlin 1994

Die Frage nach dem revolutionären Subjekt scheidet heute wie niemals vorher die Geister, es ist geradezu eine Mode geworden, immer neue revolutionäre Subjekte überall zu suchen, bloß nicht in der Arbeiterklasse.
Dafür gibt es eine Reihe von Ursachen, auf die ich zum Teil hier eingehen werde, aber vorerst erscheint es mir notwendig, die authentische Marx'sche Fassung der Begründung der geschichtlichen Rolle der Arbeiterklasse und ihres Subjektwerdens zu rekonstruieren. Erst danach ist es möglich, die konkreten Bedingungen zu untersuchen, unter den sich heute das Klassenbewußtsein der Arbeiterklasse entwickelt bzw. warum es sich nicht entwickelt.

(1) Der historisch erste Schritt bei Marx findet sich in seiner Schrift "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie - Einleitung" von 1844: "allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig die Massen zu ergreifen, .... sobald sie radikal wird. Radikal sein ist, die Sache an der Wurzel zu fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst." (MEW 1, 337)
Eine solche "radikale", wurzelhafte Denkweise führt ihn zu dem gedanklichen Schluß: "daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, eine verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."
Dieses "Umwerfen aller Verhältnisse", anders gesprochen, diese radikale Revolution bedarf aber derjenigen, die es tun, der Revolutionäre, benötigt ein geschichtlich agierendes, revolutionäres Subjekt.
Marx fragt nun: Wer kann das Subjekt eines solchen "radikalen" Emanzipationskampfes sein ? Nur derjenige, antworte er uns, der zu sich selbst ein radikales, an seine eigene Wurzel gehendes Verhältnis hat. Die Wurzel aller Verhältnisse der bürgerlichen Ordnung sind die objektiven Verhältnisse der materiellen Produktion, mit ihrem gesellschaftlichen Kern, den Eigentumsverhältnissen.
Subjekt der Umwälzung kann also nur derjenige sein, der zu diesen Eigentumsverhältnissen eine radikales Verhältnis haben kann, soll heißen, der unbelastet von Privateigentum an den PM ist und durch die Abschaffung der herrschenden Eigentumsverhältnisse nur gewinnen kann - der Proletarier, der nichts zu verlieren hat, als seine Ketten, wie es im Kommunistischen Manifest so schön heißt.
Das bedeutet: Nicht das Mitleid mit den Unterdrückten, der Heroismus der Arbeit oder jeweilige Zustand einer konkreten Arbeiterklasse haben Marx dazu bewogen, diese Klasse als revolutionäres Subjekt der Geschichte zu erkennen. Es war vielmehr die objektive Stellung dieser Klasse in der bürgerlichen Ordnung, ihre objektiv einzigartige geschichtliche Potenz.
Diese Möglichkeit besteht in ihrer uneingeschränkten Radikalität, die so weit geht, daß das höchste Ziel ihres Kampfes darin besteht, sich selbst als Klasse abzuschaffen und damit die in der Existenz von Klassen und Klassenherrschaft begründete jahrtausendealte Unterdrückung aufzuheben.

(2) Natürlich geschieht weder die Revolution noch das "Revolutionär-Werden" der Klasse" von allein.
a.) Spontan entwickelt sich in der Klasse nur ein begrenztes Bewußtsein, nämlich das über ihre unmittelbare ökonomische Lage, davon ausgehend entwickelt sich das Verständnis für gemeinsame ökonomische Interessen. Die elementare Klassensolidarität führt zu gemeinsamen Arbeitskämpfen (Keimformen des Klassenkampfes), es entstehen die dafür notwendigen Arbeiterorganisationen - die Gewerkschaften (engl. Trade Unions), die Klassiker sprechen deshalb hierbei auch von "tradeunionistischem Bewußtsein".
b.) Einsicht in die komplexeren politischen Zusammenhänge entsteht nicht spontan. Die Entwicklung des politischen Klassenbewußtseins erfordert ursprünglich, daß einzelne Intellektuelle bewußt auf die Seite der Arbeiterklasse übergehen und ihr eine politische und soziale Theorie geben. Sie vermittelten in dieser Theorie das notwendige Wissen über die objektive Lage der Arbeiterklasse und ihre geschichtlichen Möglichkeiten (historische Mission).
c.) Werkzeug zur Schaffung eines Zusammenhangs zwischen den spontan entstehenden Formen des Klassenkampfes und der wissenschaftlichen Theorie ist die Partei der Arbeiterklasse.

Sie organisiert einerseits den Prozeß der Verbreitung der Theorie in der Klasse und andererseits verallgemeinert sie konkrete Erfahrungen des Klassenkampfes, die zur Weiterentwicklung der Theorie führen. Dies und die Zentralisierung der Kämpfe ist ihre objektive Funktion. Sie ist allerdings, wie so oft in der Geschichte der Arbeiterbewegung, vor allem im "Stalinismus" geschehen, kein Selbstzweck, der unabhängig von der Klasse, in "ihrem Namen", anstelle der Klasse, handeln kann oder soll.
Eine solche ("Avantgarde")-Partei ist notwendige Bedingung zur Konstituierung der Arbeiterklasse zu einem revolutionären politischen Subjekt.
d.) Marx unterscheidet, in Anlehnung an Hegel, die Klasse "an sich" von der Klasse "für sich".
Die Klasse an sich meint hier, die objektive soziale Stellung als Klasse der Lohnabhängigen, unabhängig vom Bewußtsein über ihre Klassenlage.
Die Klasse wird "für sich", wenn sie diese objektive Lage erkennt, Klassenbewußtsein entwickelt und politisches Formen des Klassenkampfes anwendet.
Diese Marx'sche These ist oft fehlinterpretiert worden, so als ob es sich um einen einmaligen historischen Vorgang handele, bei dem die Arbeiterklasse einmal "für sich" geworden, immer auf diesem Entwicklungsstand bleibt. In meinem Verständnis ist dies nicht so: es handelt sich nicht um historische Stufen der Entwicklung der Klasse sondern um logische Stufen, d.h. es muß in jeder Generation, immer wieder um die Entwicklung des Klassenbewußtseins gekämpft werden, das "für-sich-Werden" neu errungen werden.
Lenins entwickelte später ausführlich die Bedingungen und Stufen der Entstehung des Klassenbewußtseins und unterschied die 3 Formen des Klassenkampfes (ökonomischer, politischer und ideologischer), worauf hier aber nicht näher eingegangen werden kann.
Eine andere Bemerkung von Lenin zum "Werden" des revolutionären Subjekts ist für diese Fragestellung von entscheidender Bedeutung:
"Damit aber wirklich die ganze Klasse, damit wirklich die breiten Massen der Werktätigen und vom Kapital Unterdrückten zu dieser Position gelangen, dazu ist Propaganda allein, Agitation allein zu wenig. Dazu bedarf es der eigenen politischen Erfahrung dieser Massen. Das ist das grundlegende Gesetz aller großen Revolutionen... .(LW 31, S.60)
Diese eigene politische Erfahrung, die die Massen machen müssen, kann durch die Politik der Arbeiterpartei organisiert und muß von ihr agitatorisch begleitet werden. Aber es handelt sich in jedem fall um einen langwierigen und mühseligen Prozeß von "Alltagsarbeit". Intellektuelle neigen dazu, diesen komplizierten Weg abkürzen zu wollen. Deshalb empfehlen sie uns:
a.) Reformen, die den Kapitalismus "klüger" machen sollen (Reformismus in seinen verschiedenen Spielarten)
b.) die Suche nach anderen, vermeintlich revolutionären gesellschaftlichen oder politischen Gruppen und leugnen dabei die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt (Parteien der "neuen Linken", Autonome etc.)
c.) den Ultrarevolutionarismus, das heißt das Verhalten von kleinen Sekten, die völlig losgelöst vom realen Klassenbewußtsein Losungen "gegen die Wirklichkeit" schreien und davon Veränderungen erwarten.
d.) den oben beschriebenen Substitutionalismus (d.h. an Stelle der Klasse handeln)
Alle diese Empfehlungen sind nichts weiter als ein kleinbürgerliches Ausweichen vor den "Mühen der Ebene", der Versuch sich vor der Verantwortung zu drücken. Im Umkehrschluß wird dann der Arbeiterklasse ihre revolutionäre Potenz abgesprochen, werden soziologische Begründungen "gefunden", die angeblich eine Subjektbildung bei den Lohnabhängigen verhindern, wird sogar die Existenz dieser Klasse in der "modernen Gesellschaft" geleugnet etc. Diejenigen aber, die an der Orientierung auf die Arbeiterklasse festhalten, werden als Dogmatiker oder Romantiker beschimpft.
Im Gegensatz zur stalinistischen Tradition, die unter Arbeiterklasse immer etwas einseitig nur die Kernschichten des Industrieproletariats verstanden hat (von denen in der Tat behauptet werden kann, das sie zum Teil verschwinden) ist für mich die Arbeiterklasse nur in der Originaldefinition von Friedrich Engels als historisches Konkretum zu fassen. ("Unter Proletariat ((wird verstanden)) die Klasse der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können." Manifest, engl. Ausgabe von 1888, F. Engels))
Für die gegenwärtige Situation des Klassenbewußtseins, das von vielen Kommunisten als erschreckend gering eingeschätzt wird, ist eine Reihe von Gründen anzuführen. Die entscheidende Ursachen sehe ich aber in der Katastrophe des Stalinismus (mit seinem historischen Höhepunkt, dem Zusammenbruch der bürokratisierten Arbeiterstaaten) und der daraus resultierenden Schwäche und Zersplitterung der revolutionären Kräfte.

Welche Chancen gibt es für eine Reaktivierung des Klassenbewußtseins?

1.) Der Fordismus, d.h. eine Wirtschaftspolitik, die eine relative Beteiligung der Lohnabhängigen an dem von ihnen produzierten Reichtum ermöglichte, einschließlich einer sozialen Mindestsicherung (mit dem Ziel, die Binnennachfrage zu stärken) und die durch massive Staatsaufträge den Monopolen gesicherte Absatzmärkte verschaffte, ist historisch am Ende. Diese Ende zeigt sich in einer massiven und nicht mehr aufholbaren Staatsverschuldung und dem "Schrumpfen der Märkte" mit den damit einhergehenden "neuen Handelskriegen", so daß man besser von einem Scheitern spricht.
Die Antwort darauf ist die Politik des Neoliberalimus, die einen offenen Krieg gegen die Arbeiterklasse und die von ihr erkämpften sozialen Errungenschaften und Rechte darstellt. Obwohl diese Strategie in den USA, Japan und GB schon als gescheitert gilt, versuchen die Bonner diese Politik in Deutschland zu forcieren.

2.) Der "Sieg über den Kommunismus" hat sich als Pyrrhussieg erwiesen. Aus einer relativ stabilen Weltlage, des sog. Kräftegleichgewichts, ist ein sehr instabiler Zustand, mit vielen neuen Krisenherden geworden. Da der gemeinsame Feind weggefallen ist, erhöht sich die Gefahr innerkapitalistischer Konflikte.
Der Kapitalismus, der sich als stärker, weil ökonomisch potenter, erwiesen hat, muß jetzt seine vermeintliche geschichtliche "Überlegenheit" in Osteuropa beweisen. Die anfängliche Euphorie, die Illusionen über die alleinseeligmachende Marktwirtschaft verringern sich bei den Massen in Ost und West dramatisch.

3.) Der Druck der globalen Probleme, vor allem der ökologischen Fragen, schafft ein wachsendes Bewußtsein über die Unfähigkeit diese Fragen "marktwirtschaftlich" zu lösen.

4.) Der Stalinismus hinterläßt eine große Anzahl politisch geschulter und akademisch gebildeter Marxisten, die das objektive Potential für eine neue Avantgarde bilden. Die Massenerfahrung im Osten mit einer anderen Art der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und darauf gegründeter anderer Formen des Zusammenlebens ist, trotz pausenloser bürgerlicher Propaganda, teilweise positiv besetzt.

Zusammenfassend gesagt: die systemimmanenten Widersprüche nehmen deutlich zu, die Bruchlinien, an denen sich diese Widersprüche artikulieren, sind schwerer (z.B. mit Hilfe des Antikommunismus) zu verschleiern. Der "fordistische" Interessenkonsens ist unhaltbar zerbrochen.
Andererseits ist die Abwehrbereitschaft der Werktätgigen, trotz des Verrats der reformistischen Gewerkschaftsbürokratien, bei den letzten Klassenkämpfen deutlich gewachsen.
Entscheidend für die Kommunisten bleibt, 1. wie es ihnen gelingt, an den realen Bruchlinien und Fragestellungen anknüpfend, weitergehende Forderungen zu stellen, die zu politischen Klassenbewußtsein führen. Es geht um die gemeinsame Ausarbeitung von Übergangsforderungen für die heutige Situation in der BRD.
Wichtig ist dabei, nicht auf verbitterte kleinbürgerliche Intellektuelle oder sog. Autonome zu setzen, sondern auf die reale Arbeiterklasse, weil nur dort das quantitative Gewicht zu gewinnen ist, das wir brauchen, um die bürgerliche Ordnung zu stürzen. Zugleich müssen wir 2. die organisatorische Einheit der Kommunisten in Deutschland herstellen, um in geeigneter Weise und mit dem notwendigen Gewicht in die sozialen Kämpfe intervenieren zu können.
"Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl. Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird." K.Marx/F.Engels, Manifest der Kommunistischen Partei.



Autor: Peter Feist
Quelle: © Peter Feist, erstmals veröffentlicht in: "Die Rote Fahne", April 1994