Seppmanns Schwierigkeiten mit dem Kommunismus

Auf der Berliner Konferenz der Marx-Engels-Stiftung vom November 2005 zum Thema "Welchen Sozialismus wollen wir eigentlich?" stellte Werner Seppmann (DKP) die Frage in den Mittelpunkt, wie ein alternatives Gesellschaftsmodell zum Kapitalismus aussehen kann und welche sozialen Kräfte Träger eines revolutionären Prozesses sein können[1]. Die Antworten auf diese Fragen sind für ihn ein Schlüssel zu neuen Erfolgen für die kommunistische Bewegung.

So sehr Seppmann zuzustimmen ist, daß die kommunistische Bewegung einer Neuorientierung bedarf, einer Neuorientierung, die an der Aufarbeitung der historischen Erfahrungen der kommuinistischen Bewegung nicht vorbeigehen darf, so sehr wird an seinen Fragen auch klar, daß die angestrebte Neuorientierung bei ihm auch mit handfester Desorientierung verbunden ist.

Seppmanns Frage nach den "sozialen Kräften", die "heute Träger eines revolutionären Prozesses" sein können, ist dafür kennzeichnend.

Kein Kommunismus ohne proletarische Revolution

Der Kapitalismus kann nur durch eine proletarische Revolution überwunden werden. Eine andere Klasse als das Proletariat, das ist für Marx und Engels die Klasse der Lohnabhängigen[2], ist dazu nicht in der Lage - und nicht in Sicht.

Die Bourgeoisie schafft die Vorbedingungen für die soziale Revolution, aber sie wird sie schwerlich machen. Das traditionelle Kleinbürgertum, das produzierende Handwerk, die Kleinhändler und selbständige Bauern werden quantitativ immer bedeutungsloser. Eine eigene, klassenspezifische Produktionsweise außerhalb der Entwicklung der kapitalistischen Warenproduktion hat es nicht. Dasselbe gilt erst recht für das neuere Kleinbürgertum im selbständigen Dienstleistungsbereich, in dem aber ebenfalls aufgrund der kapitalistischen Entwicklung ein Konzentrations- und damit zugleich auch ein Verproletarisierungsprozeß stattfindet. Es bleibt nur die große Hauptklasse der bürgerlichen Gesellschaft, das Proletariat. Welche andere soziale Kraft mit revolutionärem Potential kennt Seppmann noch? Die Antwort bleibt er schuldig, ebenso wie die Antwort auf die Frage, welche anderen revolutionären Prozesse es neben der proletarischen Revolution geben könnte.

Unterstellen wir, daß Seppmann auf den enormen Wandel der Klasse der Lohnabhängigen anspielt, mit dem sich auch andere Theoretiker schwer tun. Ein solcher Hinweis auf die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten einhundert Jahre ginge in die Irre: Niemand kann bestreiten, daß die Arbeiterklasse aufgrund der kapitalistischen Entwicklung die größten Teile des einstigen Kleinbürgertums und der Bauern aufgesogen hat, daß sie enorm angewachsen ist; niemand kann auch ernsthaft negieren, daß sich die Struktur der Arbeiterklasse aufgrund der Entfaltung der kapitalistischen Arbeitsteilung und der technologischen Revolutionierung des gesamten gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses tiefgreifend gewandelt hat.

Damit ist auch die Gleichsetzung von Industriearbeiterklasse mit dem Proletariat, die noch zu Lenins Zeiten wenigstens empirisch weitestgehend richtig war, zu einem Fehler geworden. Es ist natürlich unbestreitbar, daß die traditionelle Industriearbeiterklasse wenigstens in den imperialistischen Metropolen schrumpft. Das ist allerdings nur ein Indiz für die theoretische Unhaltbarkeit der Gleichsetzung von Industriearbeiterklasse mit dem Begriff des Proletariats unabhängig von Zeit und Raum, mit der z.B. Manfred Sohn das völlig überflüssige Konstrukt einer Art verbundenen, neuen "A-Klasse" von Industrieproletariat, Angestellten und Arbeitslosen begründet[3]. Sohn versteht mit seinem ahistorischen Kategorienverständnis nicht, daß der Klassenbegriff bei Marx eine soziologische Kategorie ist, deren Verständnis sich mit ihrem realen Gegenstand verändern muß. Dies zwingt ihn dazu, der Realität mit Theoriensalat hinterherzuhecheln.

Die Veränderungen der Arbeiterklasse im Verlauf der Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise rechtfertigen in keinerlei Hinsicht die Behauptung, die Arbeiterklasse habe ihr revolutionäres Potential verloren. Das Proletariat ist und bleibt die einzige Klasse, die sich nur dadurch befreien kann, daß sie jede Klassenherrschaft aufhebt. Die politische Herausforderung jeder kommunistischen Politik besteht darin, dieses Potential zu aktivieren.

Der Stellenwert der konkreten Utopie

Seppmann ist nicht vorzuwerfen, daß er das Ausmaß antikapitalistischer Stimmungen in der Arbeiterklasse unterschätzt. Er konstatiert, daß die eskalierende Krisenentwicklung und die Gefahr eines permanenten Krieges bei vielen die Überzeugung reifen läßt, daß die Überwindung des Kapitalismus wünschenswert sei. Er glaubt, daß den verbreiteten Zweifeln in die Realisierbarkeit einer grundsätzlich anderen Welt durch die Propagierung einer besseren, demokratischeren Sozialismuskonzeption begegnet werden könnte und bemüht sich deshalb, für "ein alternatives Gesellschaftsmodell" institutionelle Garantien gegen einen Rückfall in den sog. realen Sozialismus zu finden. Das allein ist aller ehren wert. Aber weil er wohl spürt, daß das auch noch nicht genügt, die Zweifler und die Unentschlossenen zu Kommunisten zu machen, wünscht er sich ein Konzept, das "neuen Transformationsversuchen" Erfolgsaussichten verleiht.

Seppmann verkennt, daß die überwältigende Mehrheit der Arbeiterklasse wie auch der unzufriedenen Teile der Arbeiterklasse kommunistische Positionen nicht deshalb ablehnt, weil sie Angst vor einer Neuauflage des realen Stalinismus hat. (Stalinismus im hier verwendeten Sinne ist die Herrschaft der der Bürokratie, das System und die Politik im Interesse verselbständigter Bürokratien in den Arbeiterstaaten). Die Arbeiterklasse schreckt auch nicht deshalb vor dem Kommunismus zurück, weil ihr für die Revolution keine Erfolgsgarantien gegeben werden, sondern deshalb, weil sie glaubt, im Kapitalismus die besseren Lebensperspektiven zu haben.

Nur eine kleine, aber wachsende Minderheit verliert derzeit das Vertrauen in die Fähigkeit des Kapitalismus, den Wohlstand für alle oder doch für die große Mehrheit der Bevölkerung sichern zu können. Noch viel kleiner ist die Minderheit derjenigen, die den Kommunismus will. Seppmanns Einsicht, daß diese Minderheit keinen Grund hat, sich einer Partei anzuschließen, die die Gründe für den Zusammenbruch der Arbeiterstaaten (und damit das historische Scheitern des Stalinismus) immer noch nicht begriffen hat, ist zu begrüßen. Aber so wichtig dieses Problem ist, so sehr ist es nur eines unter vielen Problemen des kommunistischen Neuanfangs.

Der Weg zur Revolution

Die grundlegenden Voraussetzungen für die proletarische Revolution werden bekanntlich nicht durch die Kommunisten geschaffen, sondern durch die kapitalistische Gesellschaft und ihre Entwicklung selbst. Nur die krisenhafte Zuspitzung der Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft vermag die während des imperialistischen Nachkriegsbooms gewachsenen und verfestigten Illusionen in die Fähigkeit des Kapitalismus zu zerstören, Wohlstand auch für die Arbeiterklasse zu garantieren.

Hierbei ist die Bourgeoisie der beste Helfershelfer der marxistischen Aufklärung. Ihre Angriffe gegen die erworbenen Lebensstandard der Arbeiterklasse machen den behäbigen Konservativismus der Nachkriegszeit zum revolutionierenden Moment der Entwicklung. Die Verteidigung des Besitzstands wird zur Quelle neuer Erfahrungen und zum Ausgangspunkt des Erwerbs neuer Einsichten. Je systematischer und bewußter die Arbeiterklasse ihre Kämpfe führt, desto schneller kann sie ihre Illusionen überwinden, desto schneller wächst ihr Selbstvertrauen, desto schneller verwandelt sie sich in eine tatsächlich revolutionäre Klasse. Dieser Prozeß der Selbsttransformation verläuft nicht geradlinig, nicht in einem stetigen Prozeß, sondern sprunghaft, mit regressiven Zwischenphasen etc. Die Aufgabe der Kommunisten besteht darin, an diesem Prozeß teilzunehmen, ihn zu beschleunigen. Die propagandistische Befassung mit gesellschaftlichen Zukunftsmodellvorstellungen ist und kann nur ein Moment der kommunistischen Tätigkeit sein. Viel wichtiger ist es, der Arbeiterklasse ihre eigenen Eerfahrungen zu verdolmetschen.

Die soziale Revolution wird erst dann eine politische Möglichkeit und tagesaktuelle Aufgabe geworden sein, wenn der Prozeß der revolutionären Selbsttransformation der Arbeiterklasse deren überwältigende Mehrheit erfaßt haben wird und für deren große Mehrheit wesentlich abgeschlossen ist. Wir finden dann eine Situation vor, in der die Arbeiterklasse mehrheitlich die Überzeugung gewonnen hat, im Kapitalismus nicht mehr leben zu können und wollen. Der Klassenkampf wird dann schnell an einen Punkt gelangen, in dem die Bourgeoisie paralysiert und/oder gespalten ist, und in dem sie mit ihren alten Herrschaftsmethoden nicht mehr existieren kann. Aber auch in einer solchen revolutionären Lage gibt es für die Revolution keine Erfolgsgarantien. Die wird es nie geben.

Was kommt nach einer Revolution?

Im Falle einer siegreichen Revolution stellen sich neue Fragen. Die weitere Entwicklung der Revolution hängt dann von vielen Faktoren ab: Wie stark ist die Revolution im Innern? Wie stark ist der Widerstand der Konterrevolution? Gelingt die Revolution in anderen Ländern? Erhält sie Hilfe von außen? Wie stark ist der Widerstand gegen Interventionen anderer imperialistischer Mächte in den jeweiligen Ländern? Wie reibungslos klappt die sozioökonomische Transformation? Welche politische Anziehungskraft entwickelt die Revolution? etc. etc.

Alle diese Faktoren bestimmen das Maß an Selbstaktivität und damit auch des Selbstbewußtseins, das die Arbeiterklasse in einem künftigen neuen Arbeiterstaat haben wird. Nur eine im Kern aktive und selbstbewußte Arbeiterklasse wird in der Lage sein, bürokratische Deformationen in einem künftigen Arbeiterstaat zu verhindern. Hierbei können rätedemokratische Verfassungen und institutionelle Sicherungen hilfreich sein. Aber wenn die Selbstaktivität der Arbeiterklasse fehlt, sind sog. institutionelle Garantien demokratischer Rechte und Freiheiten nutz- und wirkungslos.

Seppmanns doktrinär anmutende Überlegungen offenbaren, daß er den entscheidenden Zusammenhang zwischen der Klassenkampfentwicklung im Innern eines Arbeiterstaates wie auch auf internationaler Ebene mit der Frage nach der politischen Entwicklung sozialistisch-demokratischer Verhältnisse im Arbeiterstaat nicht verstanden hat. Er verliert sich in Strukturmodellen und übersieht, daß in der Geschichte nicht Strukturen handeln, sondern Klassen und Teile von Klassen.

So diagnostiziert Seppmann am sog. realen Sozialismus die "Unfähigkeit, die gesellschaftlichen Prozesse so zu organisieren, daß die Menschen sich als am sozialen Geschehen aktiv Beteiligte hätten erleben können". Er stellt fest, daß "die Menschen die sozialen Beziehungen und die Arbeitsverhältnisse in wesentlichen Punkten als frembestimmt" erlebten. Das ist alles richtig. Richtig ist auch, daß die "Teilnahme der arbeitenden Menschen an den gesellschaftlichen Lenkungs- und Entscheidungsprozessen" fehlte. Seppmann erkennt auch zutreffend, daß der Ausschluß der Arbeiterklasse von den relevanten Entscheidungsprozessen in den Arbeiterstaaten ein verbreitetes "Gefühl der Gängelung und Bevormundung" und schließlich eine "latente Verweigerungshaltung" produzierte.

Mangelnder Materialismus

Aber die entscheidende Schlußfolgerung, die ihn auf die richtige Spur der materialistischen Analyse hätte bringen können, zieht Seppmann nicht: Wenn es nicht die reale Arbeiterklasse war, die im sog. realen Sozialismus die politische Führung inne hatte, welche soziale Formation dann? Die Antwort ist einfach: Die von der Arbeiterklasse politisch verselbständigte Bürokratie.

Weil er sich zu dieser materialistischen Antwort nicht durchringt, kann er nach altbekannter Manier vom angeblich zunächst "förderlichen" Charakter der administrativen Organisation des materiellen und sozialen Reproduktionsprozesses in den meisten Ländern des sozialistischen Blocks unter den damaligen historischen Bedingungen sprechen und sodann erklären, es habe kein Grund bestanden, dies fortzuschreiben. Das ist Metaphysik im Stile halbaufgeklärter poststalinistischer Theoretiker wie Werner Hofmann, die sich von den schlimmsten Verbrechen Stalins und dem Personenkult distanzierten, aber die unsinnige Behauptung reproduzieren, die Industrialisierung der UdSSR sei in den zwanziger und dreißiger Jahren nur mit Hilfe der administrativen Methoden Stalins möglich gewesen.

Die Verselbständigung der Bürokratie als sozialer Formation von der Arbeiterklasse, die eben daran deutlich sichtbar wird, daß das bürokratische System auch nach Stalin mit anderem Spitzenpersonal grundsätzlich unverändert weiter bestand und weiter unter Ausschluß der realen Arbeiterklasse herrschte, beweist, daß es sich bei den bürokratischen Herrschaftsmethoden nicht um die Launen des verkrachten Absolventen eines russischen Priesterseminars handelte, sondern um die Herrschaftsmethoden einer sozialen Formation. Die Beibehaltung des wesentlichen Kerns dieser Herrschaftsmethoden war die Existenzbedingung der politischen und sozialen Herrschaft dieser Formation. Es gab für sie also einen (schlechten) gesellschaftlichen "Grund". Und dieser "Grund" schloß die sozialistische Selbstreformation der Bürokratie aus.

Wird die auf der Hand liegende Antwort auf die Frage danach, welche gesellschaftliche Formation in den Arbeiterstaaten herrschte, einmal gegeben, kann nach den gesellschaftlich-ökonomischen Ursachen der Herausbildung der Bürokratie gefragt werden, nach den Ursachen ihrer Verselbständigung, ihren besonderen sozialen Interessen, den Bedingungen für die Übertragung von Varianten dieses Herschaftssystems auf andere Länder und der fatalen politischen Rolle der diversen bürokratischen Spitzen beim Zusammenbruch der Arbeiterstaaten. Nicht zuletzt kann dann auch die Frage beantwortet werden, weshalb die bürokratischen Spitzen nur in Richtung Kapitalismus "reformierten".

Erst, wenn diese materialistische Analyse bewältigt wird, löst sich das Mysterium auf, das der Zusammenbruch der Arbeiterstaaten für viele Altstalinisten geblieben ist. Erst dann können sie zu klaren neuen kommunistischen Perspektiven finden.

Dieter Elken, Strausberg


[1]Werner Seppmann: Was ist Kommunismus? Versuch über die Zukunftsgesellschaft, in: junge welt v. 23.12.05
[2]"Unter Bourgeoisie wird die Klasse der modernen Kapitalisten verstanden, die Besitzer der gesellschaftlichen Produktionsmittel sind und Lohnarbeit ausnutzen. Unter Proletariat die Klasse der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können" Anm. Engels zur engl. Ausgabe des Manifests der Kommunistischen Partei, MEW 4,462. Dieser soziologische Klassenbegriff macht sich fest an der Stellung zum Eigentum an Produktionsmitteln, nicht, nicht an Fragen wie produktiver oder unproduktiver Arbeit.
[3]vgl. Manfred Sohn in http://www.jungewelt.de/2005/12-20/004.php und in http://www.jungewelt.de/2004/11-01/003.php