Die Versorgungsdiktatur und der befreite Mensch

Das Entwicklungsgesetz des Sozialismus

Lässt man das bürgerliche Diktaturgestammel über Wesen bzw. Unwesen des realen Sozialismus beiseite, beachtet man ausdrücklich nicht die delirierten Visionen vom Folter-,

Mord- und Stasistaat. Glaubt man nicht an den revolutionären Energiegehalt einer fehlenden Banane oder an die konterrevolutionäre Wirkung eines Ostseeurlaubes, so bleiben drei Antworten auf die Frage: Wieso ging die DDR (der reale Sozialismus) überhaupt unter? Denn die sozialen und kulturellen Menschenrechte waren (fast) über die Maßen erfüllt. Der Wohlstand breitester Massen war real, auch wenn er sich vom konsumbesoffenen und oralrezptiv-neurotischen des Westens gründlich unterschied. Manche meinen, das war Absicht.

Viele tippen auf eine vernachlässigte Produktivkraftentwicklung. Die Unterlegenheit geschah demnach gerade dort, also in der Ökonomie, wo sie nach den Klassikern des Marxismus keinesfalls hätte stattfinden sollen. Andererseits floss, für den Sozialismus völlig absurd, ein großer Teil der gesellschaftlichen Reichtums in den militärischen Schutz des Unternehmens Sozialismus. Und, noch absurder, gerade hier war das technologische Niveau des Sozialismus mindestens ebenbürtig, wenn nicht eindeutig höher als als beim kapitalistischen Todfeind.

Nun zu den drei Antworten auf die Frage: Wieso gingen wir unter? Nimmt man die Titanic zum Gleichnis, könnte formuliert werden:

1. Der Eisberg war schuld

2. Der betrunkene Kapitän war schuld

3. Punkt 1. und 2. bilden ein gemeinsames Ursachengeflecht, das nicht mehr eindeutig entscheiden lässt, was nun ursächlich war. Ein betrunkener Kapitän benötigt immerhin noch einen Eisberg, von dem er gestoppt werden kann. Fehlt der Eisberg, kann er sich ohne nennenswerte Folgen ins Koma trinken. Und der Eisberg selbst? Hatte er eine Wahl? Natürlich! Es macht heute kaum noch Sinn, nüchtern ins Eismeer zu fahren. Denn es gibt dort kein Eis mehr; was nicht unwesentlich mit der Herstellung des Schiffes zu tun hat.

Die verschiedenen Sozialisten von heute behandeln Punkt 1. verschiedentlich so:

a) Der Eisberg ist eine Naturgewalt. Es war überhaupt falsch, Touristen in diese Kälte zu

fahren.

b) Der Eisberg wurde von einer Konkurrenzwerft in den Kurs des Bootes geschleppt.

Die verschiedenen Sozialisten von heute behandeln Punkt 2. verschiedentlich so:

a) Der Kapitän war entweder von der Konkurrenz angeheuert oder wollte wechseln (und sich

so empfehlen).

b) Ein Kapitän ist für solch ein Ausnahmeboot ein unzureichendes Mittel. Das Steuern und

Leiten solcher Projekte bedarf einer anderen Herangehensweise. Überhaupt war das Boot

(in der Form und für die Gäste) selbst schon eine dumme Idee.

Zurück zum Ernst der Tatsachen. Oder wie Wittgenstein fragen würde: Was war der Fall?

In der DDR. Befreit von der Mühsal des täglichen Überlebenskampfes; an Nahrung, Wohnraum, medizinischer Versorgung und Bildung satt, stellte sich die Frage nach dem Charakter der Arbeit neu. Die Arbeit:

Im Kapitalismus alleiniger Ort der Mehrwertproduktion, deren Ausbeute privat angeeignet wurde, weshalb auch Ausbeutung genannt, sollte im Sozialismus nicht nur eine gesellschaftliche Aneignung des Reichtums geschehen, sondern die Arbeit selbst ihren Charakter soweit ändern, dass sie zur schöpferischen Selbstsetzung des Individuums, zur Verwirklichung all seiner Möglichkeiten führte.

Der Arbeiter setzt sich im Sozialismus selbst als Zweck der Arbeit. Durch den gesellschaftlichen Plan und durch die Arbeiterkontrolle in der Produktion werden Abertausende von Einzelwillen gleichsam als Fäden zu einem großen Teppich allgewaltiger, weil eben befreiter Kreativität des, im Sinne des Wortes, entfesselten Produzenten. Die Produktivkraftentwicklung verlagert ihr Hauptaugenmerk vom bloßen Technikfetisch zum innerpsychischen Quantensprung des Produzenten. Die Macht der Maschine verliert sich und sattelt um: Das Pferd reitet nicht mehr den Reiter. Die arbeitende Klasse hält die Zügel und schickt sich an, große Sprünge zu machen.

Die Entfremdung zwischen Produkt und Produzent ist aufgehoben, die Arbeit wird vom Mittel zum Leben zum Lebensmittel selbst. Sie ist die weitgehenste Selbstentäußerung eines omnipotenten Schöpferwesens, wobei die Objekt-Subjekt-Dichotomie aufgehoben ist. Diese Selbstentäußerung ist erstmals eine universelle, betrifft also jeden. Vorher war sie auf Inseln “genialer Denker”, Wissenschaftler, Künstler oder anderer Ver-rückter beschränkt.

Die Realität in der DDR und den anderen realsozialistischen Ländern entsprach dem nicht. Es gab weder eine “freie Assoziation der Produzenten” (Marx) noch ein partizipatives System der Arbeiterkontrolle oder eine demokratische Planung der Wirtschaft. Und das ist die Wahrheit der Praxis: Ist es im Kapitalismus die Konkurrenz auf dem Markt, die zu Höchstleistungen antreibt, ist das Fortschreiten im Sozialismus ganz auf die nichtentfremdete kreativ-schöpferische Selbstverwirklichung des Einzelnen gerichtet. Es ist dann aber nicht mehr nur ein rein wirtschaftliches Fortschreiten; es kann nicht länger unterschieden werden zwischen Produktion und Konsumtion, zwischen Ökonomie und Sozialraum.

Das Kreativ-schöpferische wurde in den Arbeiterstaaten des 20. Jahrhunderts durch die industriell-bürokratischen Zunftwerkstatt negiert und damit gleichzeitig der Sozialismus liquidiert. All die emanzipatorischen Höchstleistungen die trotzdem geschaffen wurden, reichten nicht aus. Der alles entscheidende Hebel wurde nicht umgelegt.

Das gesellschaftliche Eigentum (Struktur) reicht allein nicht aus! Alle politischen- und ökonomischen Formen (des Prozesses) des Sozialismus fallen zusammen. Das geschieht zuerst mit der direkten Verfügbarkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter im Schöpfungsprozess: durch demokratische Planung, Kontrolle und Verteilung. Dies wird so dringend wie die Luft zum Atmen.

Handelt es sich im Kapitalismus um eine vordergründige Tauschwert-Wertschöpfung, die die Sache am Laufen hält, ist es jetzt eine gezielte Gebrauchswert-Wertschöpfung, die dabei noch die individuellen Bedürfnissen genauso befriedigt wie die gesellschaftlichen, noch schlimmer: Man kann kaum noch zwischen ihnen unterscheiden.

Im Kapitalismus ist es vor allem die Peitsche der Konkurrenz, die technologisch vorantreibt; das Recht auf Ausbeutung ist sozial verbrieft, denn ohne die Lohnarbeit geschieht nicht einmal eine minimale Emanzipation oder Selbstverwirklichung des Lohnabhängigen. Diese Ausbeutung wird damit in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit sogar zum Privileg. Das schöpferisch Kreative wird über die Ware und deren Tauschwert materialisiert und als Mehrwert bzw. Profit privat angeeignet. Die entfremdete Selbstentäußerung des Arbeiters wird zur einzigen Lebensäußerung des Kapitalisten. Mit der Präexistenz der Arbeiters kann sich jeder Bourgeois sogar seinen eigenen Existenzialismus leisten.

Im Sozialismus findet eine Selbstschöpfung des Individuums statt, die aber gesellschaftlich organisiert, geplant und kontrolliert ist. Diese Selbstschöpfung hat die Befreiung des Individuums von der Lohnknechtschaft und damit die Lösung der sozialen Frage zur unbedingten Vorraussetzung. Diese wird aber nicht verordnet, also am Krankenbett per Rezept verschrieben, wie Arbeitslosengeld, Spenden oder Renten, sondern allein die Selbstaktivität der revolutionären Massen und die Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums zur individuellen (nicht privaten) Aneignung ist gemeint.

Die soziale Frage löst sich also mit der Sozialisierung, das Beibehalten der Dynamik ist wiederum nur durch die Aktion der Massen denkbar (Revolution). Sozialismus ist die permanente Aktivität der Masse. Unermüdlich schreibt sich die Revolution fort, hört nie auf, ist unendlich: Der Motor ist die unentwegte Selbstentfaltung aller Entwicklungsmomente des Individuums.

Die Emanzipation des Menschen vom bloßen Zahnrad zum autonomen Getriebe für sich und zum gesellschaftlichen Keilriemen an sich, beendet die bürokratische, ob kapitalistische oder realsozialistische, also entfremdete Teilexistenz des Menschen als Zutat zur Produktion; ob als Bauer, der den Boden pflügen muss, oder als Fabrikarbeiter, der als Anhängsel der Maschine malocht. Der Mensch wird zur reinen Selbstexistenz, völlig befreit, an und für sich, Er ist fortan ein gesellschaftlich transzendentes Individuum genauso wie eine Repräsentanz der Gesellschaft, die einer Spaltung in mannigfaltige Funktionsträger nicht mehr bedarf, denn es gibt nur noch eine einzige Funktion: Die vollständige Selbstentfaltung. Die Bloßlegung der Contitio humana.

Der simulierte Brutkasten der degenerierten Arbeiterstaaten unterdrückte (geschichtlich unbewusst) also genau das, was dem Sozialismus sein Bewegungsgesetz ist. Wie ein Rad, das durch die soziale Revolution Fahrt aufnahm und nochmals zulegte, als die Dominanz des privaten Eigentums an Produktionsmitteln gebrochen wurde, kam es langsam ins Trudeln, als der Fahrer gezwungen wurde, die Füße aus den Pedalen zu nehmen. Am Ende konnte es nur noch umfallen. Wir wissen damit auch, dass die Frage nach der Titanic falsch gestellt wurde. Denn einen Eisberg, ob zufällig da oder böswillig in den Weg gelegt, kann man umfahren. Und einen besoffenen Kapitän können wir in die Kajüte legen, wenn denn eine Kultur des Wir da ist, wenn vom Maschinenraum bis zum Ausguck Menschen gleichermaßen tätig wie lebend sind. Die Trennung von Arbeit und Leben (Privates, Heim & Hof), heute einziger Rettungsanker im Titanic-Geschäft, ist im Sozialismus aufgehoben.

Hier lässt sich auch der Urkommunismus klarer fassen. Hier schwingt ebenfalls die materielle Not die Peitsche, um schöpferisch Kreatives ins Materielle zu übersetzen. Die Aneignung ist zweifellos gesellschaftlich, aber der Auslöser der Bewegung ist die nicht gesicherte soziale Existenz, und das Tun dort war eben nicht frei und lustvoll. Alle folgenden Wirtschaftsformen haben ein ungeheures Anwachsen des Reichtums organisiert und die soziale Frage verschieden und für die Massen unbefriedeigend beantwortet. Schlüssel zur Antwort war immer die Entwicklung der Produktivkräfte, die als Mittel und Instrumente im Produktionsprozess, die Menge und Qualität der Reichtümer einer Gesellschaft bestimmten.

Der Kapitalismus ist die letzte Etappe entfremdeter Arbeit. Er schafft eine solch unglaubliche wirtschaftliche Potenz, dass die einst aus dem Paradies vertriebenen (nackten) Menschen wieder dahin (bekleidet) zurückkehren können. Sie können auch angstfrei auf dem Sonnendeck der Titanic neue Drinks ordern und dem Cäptn (der kollektive Leitung der Gewählten und jederzeit Rechenschaftspflichtigen und Abwählbaren) zuprosten. Die Kapitalismus-Titanic von Heute wird so oder so sinken. Bisher können die Fahrgäste allerdings die Musik wählen, mit der sie untergehen wollen.

Die fehlende Dynamik in der DDR (den realsozialistischen Ländern), ihr Siechtod, die als drückend erlebte Stagnation (innerlich wie gesellschaftlich) war demnach nichts anderes als die verhinderte Inkraftsetzung des entscheidenden Entwicklungsgesetztes des Sozialismus: Die Selbstaktivität der Werktätigen in allen Bereichen. Die klassische Produktion wird damit geschichtlich negiert und was bleibt, ist der Ausdruck dessen, was die einzige Conditio humana darstellt: Leben.

Leben, das sich erstmals personell wie geschichtlich bewusst ist. Einem biblischen Schöpfer gleich.

Viele Schöpfergötter vertrieben uns aus dem Paradies (Urkommunismus) und es war die Schlange die zur jüdisch-christlichen Eva sagte (und ihr den Apfel gab):

“Ihr werdet mitnichten des Todes sterben;
sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon esst,
so werden eure Augen aufgetan, und
ihr werdet sein wie Gott (Hervorhebung des Autors)
und wissen, was gut und böse ist.”
1. Mose 3,4+5

März 2008 - Andy Züon