Fremdbestimmung oder Eigendetermination

Woran ist der „real existierende“ Sozialismus gescheitert?
April 2005 (aus dem Gästebuch übernommen)


Lieber Ingo Wagner!

ich schreibe Dir diesen Brief als einen Diskussionsbeitrag zu „War die Niederlage des Sozialismus in Europa gesetzmäßig? (Thesen)“ in Marxistisches Forum Heft 49 (2005) und natürlich auch auf Deinen gleichnamigen Artikel in der jungen Welt.

Ich bin mit Deinen Artikeln in der Tendenz und in fast allen Einzelheiten sehr einverstanden.
Natürlich auch und gerade weil Du diesen Artikel meinem hochverehrten Lehrer Gottfried Stiehler zum 80-zigsten Geburtstag gewidmet hast. Gerade aber im Gedenken an diesen fühle ich mich aufgefordert, mit Dir zu diskutieren.
Ich bin nur in einer Nuance anderer Meinung, vielleicht beruht der Unterschied ja nur in einer nicht genügend präzisen Formulierung der Artikelüberschrift?

Der Sozialismus in Osteuropa ist nicht gescheitert, er konnte gar nicht scheitern, weil er kaum da war oder genauer, weil seine ersten wirklichen (wesentlichen) Ansätze zwischen 1917 und 1928 bald wieder verschwanden.

Gescheitert ist das administrativ-bürokratische System stalinscher Prägung (im weiteren „bürokratisch-degenerierte Übergangsgesellschaft“ genannt). Und das Scheitern dieses Konstrukts war allerdings gesetzmäßig! (und ist nicht nur von Trotzki vorhergesagt worden.)

Warum war das Scheitern dieser bürokratisch-degenerierten Übergangsgesellschaft gesetzmäßig. Dies ist zu allererst eine philosophische und danach auch eine politische Frage.

Das Wesen des Sozialismus als einer Übergangsgesellschaft von den Ausbeutungs- und Klassengesellschaften zu einer ausbeutungsfreien, klassenlosen Gesellschaft der universellen Freiheit, dem Kommunismus, ist gekennzeichnet durch so widersprüchliche Merkmale wie: Klassengesellschaft, Entfremdung, Ausbeutungsfreiheit, weitgehende soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Ungleichheit, Demokratie und absterbender, aber auch niederhaltender Staat etc. pp.

Dieses, bisher nur in der Theorie und wenigen praktischen Erfahrungen bekannte Wesen, trat unter sehr ungünstigen Bedingungen, die sehr bald, zu bald, in Deformationen umschlugen, in die Existenz.

Inwieweit Elemente des wirklichen Sozialismus in der frühen Sowjet-Gesellschaft vorhanden waren, welche davon deformiert wurden, welche auf Grund der Geburtsbedingungen noch gar nicht entstehen konnten usw., kann und will ich an diesem Ort nicht diskutieren, ich weiß aber aus unseren bisherigen Debatten, das wir beide darüber schnell eine Einigung erzielen könnten.

Aber, so ist zu fragen, blieb es nach den Deformationen das „Wesen des Sozialismus“, erscheinend als „real“ existierender Sozialismus“ oder bildete die bürokratisch-degenerierte Übergangsgesellschaft ein eigenes Wesen aus?

Das ist der erste theoretische Streitpunkt. Früher hätte ich eher JEIN gesagt, heute aber, mit einigem historischen Abstand, sage ich deutlich JA: die bürokratisch-degenerierte Übergangsgesellschaft hat ihr eigenes Wesen ausgebildet. (Monika Leske, Götz Redlow und Gottfried Stiehler haben in ihrem gemeinsamen Buch „Warum es sich lohnt, um Begriffe zu streiten“ (Berlin 198?) die wichtigsten Argumente dazu schon vorgetragen, wenn auch unter anderem Vorzeichen, aber mit großer theoretischer Schärfe und es ist kein Zufall, das dieses vielleicht/wahrscheinlich beste Buch zur Sozialismus-Theorie in der DDR so gut wie ohne Resonanz geblieben ist!!!) Warum und wie?

Unter dem Begriff „gesetzmäßiger Verlauf der Geschichte“ versteht man unter anderem, daß die Prozesse, die wir mit Blick auf längere Zeiträume als allgemeine, notwendige und wesentliche Erscheinungen betrachten, in ihrem eigenen Entwicklungsverlauf die ihnen gemäßen Bedingungen ihrer Existenz als Voraussetzungen ihrer Entwicklung produzieren und reproduzieren. (Einheit von Gesetz und Bedingungen). Soll heißen: bestimmte Bedingungen produzieren und reproduzieren andere Bedingungen, die nun ihrerseits Voraussetzungen (Bedingungen) weiterer Bedingungen (sozusagen Bedingungen von Bedingungen) sind, sie werden gesetzmäßige Voraussetzungen neuer Bedingungen etc. Diesen Prozeß nennt man Eigendetermination.

Betrachtet man die bürokratisch-degenerierte Übergangsgesellschaft genauer, so wird schnell klar, daß die anfänglichen Deformationen infolge der Eigendetermination neue „Verschlechterungen“ geschaffen haben, die als Bedingungen determinierend auf die weitere Entwicklung gewirkt, Alternativen zum wirklichen Sozialismus zunehmend eingeengt und endlich sogar abgeschnürt haben.

Also: die Deformationen führten zur Reproduktion deformierter Zustände und auf Grund des Charakters der Deformationen, die alle die furchtbarsten „Muttermale“ der alten kapitalistischen Klassengesellschaft (Zwang, Ausbeutung, Unterdrückung, Einschränkung der Freizügigkeit, theoretisch-ideologische Devastierung und ganz besonders schlimm: Terror und Massenmorde, Arbeitssklaverei in Gulag´s, Zwangsumsiedlungen, etc. – siehe G. Branstners Argumentation von der Überwindung der Verhaltensweisen der Klassengesellschaften) fortgeschrieben haben. Diese Reproduktion deformierter Zustände wurde zu einer sich immer schneller drehenden Abwärtsspirale, zu einer „negativen Dialektik“.

Das Resultat war vorhersehbar und ist eingetreten: ein unrühmlicher Abgang aus der Geschichte, in seinem konkreten Verlauf (z.B. Gorbatschow) natürlich zufällig, aber in seinen Ursachen gesetzmäßig.

Wenn ich so etwas sage, werde ich immer moralisch angefeindet und beschimpft, wobei meine Kontrahenten einfach etwas übersehen: wenn ich behaupte, daß das Scheitern der bürokratisch-degenerierte Übergangsgesellschaft gesetzmäßig war, behaupte ich selbstverständlich nicht, daß diese (Fehl-) Entwicklung unumkehrbar war. Das ist der zweite theoretische Streitpunkt. Selbstverständlich war diese Deformation umkehrbar, das Durchstoßen zum wirklichen Sozialismus und damit zu einer entwicklungspotenten Zukunft jederzeit möglich.

Aber dazu mußte man diese Gesellschaft zerbrechen, in einem revolutionären Akt auf die dem Sozialismus gemäßen Entwicklungsbedingungen umstellen. Hier beweist sich übrigens noch einmal die theoretische Tiefe von Trotzkis Antizipation. Indem er von einer zweiten Revolution, einer Revolution gegen die Bürokratie als Ausweg aus der Krise des degenerierten Arbeiterstaates sprach, hat er ohne alle einzelnen Entwicklungen voraussehen zu können, den Finger auf die Wunde gelegt. Zwischen einfach unterschiedenen Gesellschaftszuständen gibt es keine revolutionären Übergänge. Der theoretisch-dialektische Begriff der Revolution zielt auf den Übergang von einer Qualität (Wesen) zu einer anderen Qualität (Wesen). Was meine obige Argumentation unterstützt.

Noch einmal: gesetzmäßiges Scheitern und Umkehrbarkeit einer (Fehl-)Entwicklung sind zwei verschiedene Dinge, sie zu vermischen, noch dazu moralisierend, ist eine typische Methode der dogmatischen Verteidiger des gescheiterten Gesellschaftsmodells. Sie ist nicht nur anti-marxistisch, sondern auch intellektuell unredlich.
Du, lieber Ingo, hast diese Verwischung natürlich nicht gemacht, aber Du bleibst bei der Zurückweisung der stalinistischen Heilslegende von der Ermordung des real existierenden Sozialismus durch äußere Feinde, eigene Verräter und (fast) ohne eigene Ursachen und Fehler, ein klein bißchen inkonsequent, wenn Du die verhängnisvolle Macht der Eigendetermination und ihre finale Wirkung nicht brutal beim Namen nennst.
Anders gesagt: Nachdem dieser falsche Entwicklungsweg einmal eingeschlagen war und nicht rückgängig gemacht wurde, war sein Scheitern gesetzmäßig, sonst wäre es nämlich gar nicht eingetreten (und die Stalinisten hätten Recht, wenn sie von Verschwörung faseln).

Und gar nicht nebenbei: Deine deutliche Position, das Versagen des subjektiven Faktors, die Degeneration der Partei, sei der entscheidende Fehler beim Untergang gewesen, die ich voll teile, bringt uns auf eine ähnliche Frage:
Ist die Partei Lenins die gleiche, wie die KPdSU von 1988? Das sie nicht die selbe Qualität hat, ist offensichtlich, sie ist degeneriert, wie die gesamte Gesellschaft. Genauer gesagt: Die degenerierte Partei ist Voraussetzung und Resultat der Degeneration der Gesellschaft. Auch hier hätte nur ein revolutionärer Bruch helfen können.

Dieser Unterschied zwischen uns ist, wie gesagt, nur eine Nuance, die beiden von mir benannten Streitpunkte sind keine zwischen uns, sondern welche mit den „Rotfüchsen“.

Aber ich finde, diese Nuance ist eine produktive. Der Sozialismus als bewußt geplante, geleitete und wissenschaftlich gestaltete Gesellschaft muß sich auf jeder Stufe seiner Entwicklung über die Folgen, Wirkungen und konstitutiven Bedingungen seiner Eigen- und Selbstdetermination (was nicht dasselbe ist) im klaren sein. Nur dann kann er seinen eigenen Entwicklungsprozeß beherrschen und Fehlstrukturen rechtzeitig erkennen und abbauen. Über die Eigendetermination des Sozialismus, sozusagen positiv gewendet, hat Gottfried Stiehler vieles sehr wichtiges in seinem von uns beiden geschätzten Artikel „Sozialismus – ein aporetisches Projekt“ in der Zeitschrift „Sozialismus“ vom März 2002 gesagt, insofern ist dieser Brief an Dich auch in besonderer Weise eine Würdigung seines Werkes.

Auf eine Fortsetzung unserer Diskussion sich freuend,
verbleibe ich mit lieben Grüßen

Dein Genosse Peter Feist