Anmerkungen zu Jost Kaschubes Elsässerkritik

Haltung der Linken zur EU:

Jost Kaschube hat sicher recht, daß Marx und Engels Zentralisten waren, die zu ihrer Zeit eine politische Vereinigung der europäischen Staaten unterstützt hätten. Das scheint mir aber ein Spiel mit recht abstrakten Fiktionen zu sein. Das historisch optimal erscheinende Terrain der kapitalistischen Entwicklung war seinerzeit der große, einen ausreichend großen Markt bietende territoriale Nationalstaat mit einheitlicher Sprache (dem wichtigsten Kommunikationsinstrument). Nachdem die kapitalistische Entwicklung und mit ihr die Herausbildung der Arbeiterklasse im wesentlichen vollzogen und die Klassenpolarisierung der Gesellschaft weitestgehend vollbracht war, stand für Marx ebenso wie für Luxemburg, Lenin, Trotzki und andere Marxisten eben nicht die weitere Zentralisierung des Kapitalismus im Zentrum proletarischer Politik, sondern die soziale Revolution.

Der kapitalistische Fortschritt war ja von Anfang an mit der Entfesselung von Destruktivkräften verbunden. Nachdem er aber einmal zum weltumspannenden System, zum Imperialismus, geworden war, gab es für das Proletariat keinen Grund mehr, den Prozeß der weiteren kapitalistischen Zentralisation zu unterstützen. Dies kann nicht heißen, da stimme ich mit Jost Kaschube völlig überein, auf ein illusorisch-reaktionäres Konzept der politischen Verteidigung des Nationalstaats gegen die Europäische Union zurückzugreifen.

Dennoch muß m.E. nach die EU wegen ihrer erzreaktionären Züge (fehlender demokratischer Charakter und fehlende demokratische Kontrolle ihrer Instititionen, reaktionäre Harmonisierung der Sicherheits- und Militärpolitik, durch und durch imperialistische Strukturpolitik etc. etc.) von einem internationalistischen Standpunkt aus angegriffen werden. Ein sozialistisches Europa kann nur auf den Trümmern der EU errichtet werden, nicht auf dem Weg eines Umbaus bei laufendem Betrieb. Die notwendige Absage der Linken an die EU darf also keineswegs bedeuten, einem Rückfall auf nationalistische Positionen das Wort zu reden. Im Gegenteil. Eine soziale Umwälzung ist in Europa nur als internationale Bewegung der Arbeiterklasse mehrerer Länder gleichzeitig denkbar.

Die Position Elsässers (und Lafontaines) greifst Du dort an, wo sie ihre national-linken Schwächen offenbart: Bei Elsässer ist dies die Kapitulation vor dem dumpf-nationalen Chauvinismus des deutschen Stammtischs, wenn er sich gegen EU-Erweiterungen stellt, um den sozialen Frieden nicht durch ein noch größeres Wohlstandsgefälle in der EU zu gefährden. Aber wieso sollten wir als Linke nicht in der Lage sein, uns den antitürkischen Ressentiments entgegenzustellen und gleichzeitig die Versuche der europäischen Bourgeoisien zu bekämpfen, durch neue europäische Streitkräfte eine eigene Rolle bei der Neuaufteilung der Welt zu spielen? Warum sollten wir und Linke in anderen Mitgliedsstaaten der EU darauf verzichten, soziale Errungenschaften der Arbeiterklasse in einzelnen Mitgliedsländern gegen Angriffe der herrschenden Klassen zu verteidigen, nur, weil sie als Schritte zur europäischen Einheit getarnt werden und in mehreren Ländern gleichzeitig erfolgen (wie z.B. die Bolkestein-Richtlinie zu den grenzüberschreitenden Dienstleistungen)? Für die Linke gibt es keinen Grund, eine Entscheidung zwischen pseudolinkem Nationalismus und imperialistischer Zentralisierung zu treffen. Internationalismus kann und darf nicht bedeuten, sich zwischen zwei Varianten bürgerlicher Politik zu wählen. Bürgerlicher (=imperialistischer) und proletarischer Internationalismus haben heute keine praktischen Berührungspunkte mehr.

Deine Position, daß ein kapitalistisch vereintes Europa zu unterstützen sei, weil Europa sich nur so von der Vormachtstellung der USA befreien könne, erscheint mir wenig überzeugend begründet. Dein Hinweis auf das gaullistische Frankreich ist schlecht gewählt, weil Frankreich nur politisch in die NATO-Strukturen integriert ist, nicht aber militärisch. Die politische Integration und damit die Position als Bündnispartner wollte Frankreich nie aufgeben. Es beharrte jedoch auf einer eigenständigen Rolle als Juniorpartner mit eigenen Interessen. Weil es nicht stark genug für offene Alleingänge war, mußte es in Europa Rückhalt suchen. Den konnte es wegen des Kalten Krieges in der BRD vor 1990 nur sehr bedingt finden. Nach 1990 wiederum drohte es durch die stärkere Rolle Deutschlands auf der internationalen Bühne ins Hintertreffen zu geraten - trotz eigener atomarer Bewaffung und fehlender Stützpunkte der US-Armee in Frankreich.

Ganz abgesehen davon, daß Lenins Bemerkung, daß die Schaffung der Vereinigten Staaten Europas unter kapitalistischem Vorzeichen nicht gelingen kann, noch lange nicht durch die Geschichte widerlegt ist, sehe ich in der Anwesenheit US-amerikanischer Stützpunkte in Deutschland keinen Souveränitätsverlust der deutschen Bourgeoisie. Das Bündnis mit dem US-Imperialismus liegt derzeit und für die nächste Phase der imperialistischen Entwicklung noch im Interesse der deutschen und anderer europäischer Bourgeosien, die ohne ihren transatlantischen Bündnispartner nicht in der Lage wären, die imperialistische Weltordnung zu sichern. Interessanterweise zeichnet sich gegenwärtig aber auch ab, daß dies mehr und mehr auch umgekehrt gilt. Die Aufrechterhaltung dieser Ordnung ist deshalb trotz aller interimperialistischer Reibereien eine strategische Überlebensfrage für alle imperialistischen Mächte.

Wenn Linke heute für den Austritt aus der NATO plädieren, für den Abzug aller ausländischen Truppen aus der BRD, gegen jede Beteiligung der BRD an internationalen Militäraktionen, so sollten sie sich davor hüten, die kapitalistische Zentralisierung Europas zu unterstützen, um dem US-Imperialismus eine Art europäisches Gegengewicht entgegenzusetzen. Ihr Ziel sollte sein, das Hauptaugenmerk auf die Schwächung des Imperialismus generell zu richten, das beginnt natürlich mit der Schwächung des "eigenen" Imperialismus. Einen allerersten Beitrag dazu kann jeder bereits dadurch leisten, daß der klassenübergreifende imperialistische Konsens zerstört wird.

Dieter Elken, 15.05.2007


Mehr zum Thema Europa: Europa-Resolution der Marxistischen Initiative