Europaresolution

der Marxistischen Initiative

Leitsätze zur europäischen und internationalen Orientierung

1. Die Erfahrung der Jahre 1989 bis 1992 lehrt, daß siegreiche Revolutionen nur dann gesichert sind, wenn die sozialistische Revolution in den wichtigsten kapitalistischen Ländern gesiegt hat - und, so muß hinzugefügt werden, wenn keine Bourgeoisie mehr in der Lage ist, den Untergang der Menschheit auf militärischem Wege herbeizuführen.

Jede sozialistische Politik muß daher notwendig das Ziel einer weltweiten Föderation der sozialistischen Räterepubliken verfolgen. Der erfolgreiche Kampf für dieses Ziel ist undenkbar ohne den gleichzeitigen Kampf für den Aufbau einer revolutionären, proletarischen Internationale, einer Weltpartei der sozialistischen Revolution. Sozialistische Politik ist zugleich nur als internationalistische Politik denkbar.

Die Aussage des Manifests der Kommunistischen Partei, daß die vereinigte Aktion des Proletariats wenigstens der zivilisierten Länder Bedingung seiner Befreiung ist, bleibt die Richtschnur revolutionärer proletarischer Politik. Die Arbeiter haben kein Vaterland. Wenn sie mit ihrer Revolution in einem Land siegen, konstituieren sie sich zwar als Nation, aber nicht im Sinne der Bourgeoisie.

2. In den verschiedenen Weltregionen ist es aus soziokulturellen Gründen sinnvoll, diesen Grundgedanken in die Form von Etappenzielen zu kleiden, etwa:

- Föderation sozialistischer Republiken des Balkans;

- Vereinigte sozialistische Staaten Europas oder: Für ein rotes Europa!

- Vereinigte sozialistische Staaten Mittelamerikas und der Karibik;

- Vereinigte arabische Räterepublik in einer Föderation der sozialistischen Republiken des Nahen und Mittleren Ostens;

- Föderation sozialistischer Republiken Indochinas;

etc. etc.

Die Liste erhebt bezüglich der notwendigen Präzisierungen, Konkretisierungen oder Ergänzungen keinen Anspruch auf Perfektion. Derartige Losungen sind Übergangsforderungen, ebenso wie die Losungen der Arbeiterregierung oder gegebenenfalls der Arbeiter- und Bauernregierung auf staatlicher Ebene.

3. Die Losung der Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas oder eines Roten Europas ist keineswegs identisch mit dem Kampf für die sozialistische Transformation der Europäischen Union. Europa und die Europäische Gemeinschaft sind schon geographisch nicht deckungsgleich. Eine sozialistische Transformation der Europäischen Union ist nicht möglich. Schon der Gedanke einer unter einem Brüsseler Dach strukturell gemeinsam betriebenen Außenhandelspolitik von europäischen Arbeiterstaaten und von imperialistischen Mächten ist absurd.

Die Europäische Union ist heute ein Kartell europäischer imperialistischer Staaten unter der Hegemonie Deutschlands und Frankreichs, die trotz der Tatsache, daß sie im gemeinschaftlichen Interesse alle jeweils Teile ihrer Souveränitätsrechte an die Europäische Union übertragen haben, nach wie vor ihre einzelstaatliche Souveränität bewahrt haben. Entscheidend ist dabei, daß es bisher nicht zur Herausbildung eines supranationalen Kapitals gekommen ist. Die europäischen Bourgeoisien sind nach wie vor nationale Bourgeoisien.

Dementsprechend ist der Europäische Ministerrat der Einzelstaaten das höchste beschlußfassende Organ der Union, nicht das machtlose Europäische Parlament. Es gibt daher in der Europäischen Union nicht einmal die Fiktion einer europäischen Volkssouveränität. Jede Verfassung dieser Europäischen Gemeinschaft kann daher nur die gemeinschaftlichen Interessen und Geschäfte der herrschenden Klassen Europas regeln. Europäische Sozialpolitik findet in diesem Rahmen nur insoweit statt, als sich die nationalen europäischen Bourgeoisien aus Gründen des Wettbewerbs auf gemeinsame Ausbeutungsstandards (Angleichung und damit tendenzielle Vereinheitlichung des Werts der Ware Arbeitskraft) und auf gemeinsame Regeln zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Stabilität einigen können. Das Ziel ist dabei zumindest die Absenkung des Standards der reicheren Länder.

Der absolute Vorrang der Nationalstaaten in der Europäischen Union wurde und wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, daß die große Bourgeoisie aller kapitalistischen Länder inzwischen international agiert. Die Kontrolle der nationalen Bourgeoisien über ihren Staat bleibt ihnen bis jetzt unverzichtbar. Das gilt, obwohl insbesondere die kleinen und schwächeren Staaten ihre Schutzrolle für die eigene Bourgeoisie schon lange nicht mehr allein ausüben können und sich unter die Fittiche anderer Mächte begeben müssen.

Diese Zustandsbeschreibung wird auch dann noch ihre Richtigkeit behalten, wenn es den größeren Staaten gelingt, ihre Interessen auf einigen Gebieten der Gemeinschaftspolitik durch Mehrheitsentscheidungen stärker durchzusetzen. Eine Änderung dieser Analyse wäre allenfalls dann angebracht, wenn es eine Europäisierung der Klassenverhältnisse und zur Herausbildung einer supranationalen Staatsstruktur wie auch eines starken Bedeutungsverlusts der Nationalstaaten käme. Davon kann derzeit noch nicht entfernt die Rede sein.

4. Der Gedanke, die Europäische Union schrittweise in einen supranationalen sozialistischen Staat oder wenigstens in eine Art Motor für einen gesellschaftlichen Fortschritt in Richtung Sozialismus umzuwandeln, ist noch abgeschmackter, als die Vorstellung einer schrittweisen Transformation bürgerlicher Staaten in sozialistische.

Jede erfolgreiche soziale Revolution in einem Land der Union führt notwendig zum Bruch mit dem Rest der Union. Nur das internationalistische Bündnis der Arbeiterklasse Europas wird in einem solchen Falle verhindern können, daß die herrschenden Klassen Europas und die NATO gegen die erste oder die ersten sozialen Revolutionen mit Waffengewalt vorgehen. Siegreiche Revolutionen sind deshalb ohne den vorherigen internationalistischen Zusammenschluß der Arbeiterklasse nicht vorstellbar.

Ein rotes Europa kann nur das Resultat des Zusammenschlusses sozialistischer Räterepubliken sein, das Ergebnis erfolgreicher Revolutionen in den Einzelstaaten.

5. Die Beteiligung an Wahlen zum Europäischen Parlament ist für Marxisten ein taktisches Problem.

Wie auch bei nationalen Wahlen lassen sich die Wahlen als Tribüne sozialistischer Propaganda und Agitation nutzen. Die Funktion von Wahlen, Gradmesser des politischen Einflusses revolutionärer Kräfte zu sein, erfüllen diese Wahlen sogar besser, weil wegen der offenkundigen Zweitrangigkeit und Machtlosigkeit des Parlaments das Motiv der "nützlichen" Wahl eine geringere Rolle spielt als bei sonstigen Parlamentswahlen. Eine revolutionäre Organisation sollte deshalb eine eigene Wahlbeteiligung ins Auge fassen. Als kleiner revolutionärer Zirkel sind wir dazu leider nicht in der Lage.

Im Kern sind die Wahlen zum Europäischen Parlament immer noch eine Summe nationaler politischer Stimmungsbilder und nicht Schauplatz der Auseinandersetzung um Fragen europäischer Politik. Dennoch können Marxisten das gesteigerte Interesse an europäischer Politik ausnutzen, um die Arbeiterklasse über den Charakter und die reaktionäre Politik der europäischen Bourgeoisien aufzuklären und dem die sozialistischen Perspektiven entgegensetzen.

Eine parlamentarische Arbeit im Europäischen Parlament kann nützliche Beiträge zum Aufbau einer Internationale ermöglichen. Dies gilt, obwohl das geringe Interesse an den Debatten des Europäischen Parlaments dessen effektive Nutzung als Tribüne des Klassenkampfs nahezu ausschließt.

Die Machtlosigkeit des Parlaments ebenso wie seine Tätigkeit in einer faktisch nichtexistenten europäischen Öffentlichkeit ermöglichen es den mit weitgehenden Vetorechten ausgerüsteten nationalen Regierungen, in Brüssel unter Ausschluß der Öffentlichkeit gemeinsam Maßnahmen zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von der Arbeiterklasse auf die Bourgeoisie zu beschließen und diese dann auf nationaler Ebene als unantastbare Sachzwänge zu präsentieren. Ein zunehmender Teil der neoliberalen Offensive des Kapitals gegen die Arbeiterklasse wird daher institutionell unter Ausnutzung des undemokratischen Gefüges der Europäischen Union und in Form ihrer verbindlichen "Direktiven" umgesetzt. Die parlamentarische Arbeit einer marxistischen Fraktion im Europäischen Parlament könnte daher zu einer frühzeitigen Mobilisierung des Widerstands in den Mitgliedsländern der Union beitragen. Eine solche nützliche Funktion als Frühwarnsystem haben reformistische Parteien und ihre Parlamentarier bisher jedoch nicht geleistet.

Berlin, Februar 2004