Leo Trotzki (1926):

Radioaktivität und Materialismus

Aufgabe von Wissenschaft und Technik ist es, die Materie und Raum und Zeit, die von ihr untrennbar sind, dem Menschen untertan zu machen. Zwar gibt es gewisse idealistische Abhandlungen - keine klerikalen, sondern philosophische -, in denen man lesen kann, Zeit und Raum seien Kategorien unseres Verstandes, sie entstammten den Erfordernissen unseres Denkens und es entspreche ihnen in der Wirklichkeit eigentlich nichts. Aber es fällt schwer, dieser Auffassung zuzustimmen. Sollte irgendein idealistischer Philosoph, statt rechtzeitig vor Abfahrt des Neun-Uhr-Zugs da zu sein, zwei Minuten zu spät kommen, würde er nur mehr das hintere Ende des abfahrenden Zuges sehen und sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß Zeit und Raum von der materiellen Realität nicht zu trennen sind. Die Aufgabe ist, diesen Raum zu verringern, ihn zu überwinden, Zeit zu sparen, das menschliche Leben zu verlängern, die Vergangenheit zu dokumentieren, das Leben auf ein höheres Niveau zu heben und reicher zu gestalten. Das ist der Grund für den Kampf um Raum und Zeit, dem der Kampf um die Unterwerfung der Materie zugrunde liegt, jener Materie, die nicht nur die Grundlage alles dessen, was wirklich existiert, sondern auch aller Vorstellungstätigkeit bildet. Unser Kampf um wissenschaftliche Erkenntnis ist selbst nur ein sehr komplexes System von Reflexen, das heißt von Phänomenen physiologischer Ordnung, die auf einer anatomischen Basis erwachsen sind, die sich selbst wieder aus der anorganischen Welt, aus chemisch-physikalischen Prozessen entwickelt hat. Jede Wissenschaft ist eine Anhäufung von Wissen, das auf der Erfahrung mit der Materie und ihren Eigenschaften beruht. Mit Hilfe von begrifflichen Verallgemeinerungen lehren die Wissenschaften, wie die Materie den Interessen und Bedürfnissen des Menschen dienstbar gemacht werden kann.

Je mehr die Wissenschaft über die Materie erfährt, je unvermutetere Eigenschaften der Materie sie entdeckt, desto hitziger stürzt sich das dekadente philosophische Denken der Bourgeoisie auf diese neuen Eigenschaften oder Manifestationen der Materie, um zu zeigen, daß die Materie keine Materie ist. Der Fortschritt der Naturwissenschaft in der Beherrschung der Materie ist von einem philosophischen Kampf gegen den Materialismus begleitet. Gewisse Philosophen und sogar manche Wissenschaftler haben die Phänomene der Radioaktivität dazu benutzt, den Materialismus zu bekämpfen. Früher bildeten Atome, Elemente die Grundlage der Materie und des materialistischen Denkens. Nun aber ist dieses Atom uns unter den Händen in Stücke zerfallen, ist in Elektronen zerbrochen. Und kaum begann die Elektronentheorie populär zu werden, da entbrannte sogar in unserer Partei ein Streit um die Frage, ob die Elektronen ein Beweis für oder gegen den Materialismus seien. Wer an diesen Fragen interessiert ist, wird aus der Lektüre von Wladimir IIjitschs Materialismus und Empiriokritizismus großen Nutzen ziehen. Freilich fügen weder die "mysteriösen" Phänomene der Radioaktivität, noch die nicht minder "mysteriösen" Phänomene der drahtlosen Übertragung elektromagnetischer Wellen dem Materialismus auch nur den geringsten Schaden zu. Die Phänomene der Radioaktivität, die uns nötigen, im Atom ein komplexes System noch immer nicht vorstellbarer Partikel zu sehen, können nur von armseligen Vulgärmaterialisten, für die Materie nur ist, was sie mit Händen greifen können, als Munition gegen den Materialismus verwandt werden. Aber das ist Sensualismus, nicht Materialismus. Sowohl das Molekül, das letzte chemische Teilchen, als auch das Atom, das letzte physikalische Teilchen, entziehen sich unserem Gesichts- und Tastsinn. Aber unsere Sinnesorgane sind, obgleich mit ihrer Hilfe alles Wissen beginnt, keineswegs die letzte Wissensquelle. Das menschliche Auge und das menschliche Ohr sind sehr primitive Apparate, die nicht ausreichen, um bis zu den Grundelementen physikalischer und chemischer Phänomene vorzudringen. Lassen wir uns in unserem Verständnis der Realität nur von unseren Sinnesorganen leiten, so ist schwer vorstellbar, daß das Atom ein komplexes System ist, daß es einen Kern hat, daß sich um diesen Kern herum Elektronen bewegen und daß daraus die Phänomene der Radioaktivität resultieren. Unser Vorstellungsvermögen paßt sich im allgemeinen neuen Erkenntnissen nur unter Schwierigkeiten an. Als Kopernikus im fünfzehnten Jahrhundert entdeckte, daß sich nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne dreht, schien das phantastisch, und eine träge Vorstellungskraft findet es auch heute noch schwierig, sich auf diese Tatsache einzustellen.

Wir beobachten das bei Analphabeten und bei jeder neuen Generation von Schulkindern. Aber wir, die wir einige Bildung genossen haben, zweifeln trotz der Tatsache, daß es auch uns so erscheint, als drehe sich die Sonne um die Erde, nicht daran, daß es sich in Wirklichkeit umgekehrt verhält, weil das durch die Beobachtung vielfältiger astronomischer Phänomene bestätigt wird. Das menschliche Gehirn ist ein Entwicklungsprodukt der Materie und gleichzeitig ein Instrument zur Erkenntnis dieser Materie; allmählich paßt es sich seiner Funktion an, versucht, seine Beschränkungen zu überwinden, bringt immer neue wissenschaftliche Methoden hervor, erdenkt immer komplexere und präzisere Instrumente, legt sich über seine Tätigkeit wieder und wieder Rechenschaft ab, dringt Schritt für Schritt in vorher unbekannte Tiefen ein, verändert unsere Konzeption der Materie, ohne sich doch je von dieser Grundlage alles dessen, was existiert, zu lösen.

Die Radioaktivität stellt keineswegs eine Bedrohung des Materialismus dar, sondern einen großartigen Triumph der Dialektik. Vor einiger Zeit noch nahmen die Wissenschaftler an, es gebe ungefähr neunzig Elemente auf der Welt, die nicht weiter analysierbar und ineinander überführbar wären. Diese Elemente bildeten sozusagen den Teppich des Universums, gewoben aus neunzig Fäden von verschiedener Qualität und Farbe. Diese Vorstellung widersprach der materialistischen Dialektik, die von der Einheit der Materie und von der Umwandelbarkeit der Elemente spricht. Unser großer Chemiker Mendelejew konnte sich his ans Ende seines Lebens nicht mit dem Gedanken befreunden, daß ein Element in ein anderes umgewandelt werden könne; er glaubte fest an die Stabilität dieser "Individualitäten", obgleich ihm die Phänomene der Radioaktivität bereits bekannt waren. Heutzutage aber glaubt kein Wissenschaftler an die Unwandelbarkeit der Elemente. Dank der Radioaktivität ist den Chemikern die "Exekution" von acht oder neun Elementen gelungen und damit zugleich die Exekution der letzten metaphysischen Reste im Materialismus, denn nun ist die Umwandelbarkeit eines chemischen Elements in ein anderes experimentell bewiesen. Die Phänomene der Radioaktivität bedeuten daher einen Erfolg des dialektischen Denkens.

Die Radiotechnik beruht auf der drahtlosen Übertragung elektromagnetischer Wellen. Drahtlose Übertragung heißt mitnichten immaterielle Übertragung. Das Licht kommt nicht nur von Lampen, sondern auch von der Sonne; es wird auch ohne die Hilfe von Drähten übermittelt. Wir sind mit der drahtlosen Übertragung des Lichts über sehr ansehnliche Entfernungen hinweg vollauf vertraut. Wir sind aber sehr überrascht, wenn wir mit Hilfe derselben elektromagnetischen Wellen, die den Lichterscheinungen zugrunde liegen, den Schall über eine viel kürzere Entfernung hinweg übertragen. All das sind Erscheinungen der Materie, materielle Prozesse - Wellen und Wirbel - in Raum und Zeit. Die neuen Entdeckungen und ihre technischen Anwendungen zeigen nur, daß die Materie weit vielfältigere und reichhaltigere Potenzen birgt, als wir bisher glaubten. Doch von nichts kommt nichts.

Die hervorragendsten unserer Wissenschaftler sagen, daß die Naturwissenschaft, vor allem die Physik, neuerdings an einem Wendepunkt angelangt ist. Es ist noch gar nicht so lange her, sagen sie, da gingen wir an die Materie sozusagen phänomenologisch. heran, das heißt, wir beobachteten ihre Erscheinungsweisen; jetzt aber beginnen wir, immer tiefer in das Innerste der Materie einzudringen, wir lernen ihre Struktur kennen und werden bald in der Lage sein, sie "von innen" zu regulieren. Ein guter Physiker könnte darüber natürlich besser sprechen als ich. Die Phänomene der Radioaktivität führen uns zu dem Problem der Freisetzung inneratomarer Energie. Das Atom enthält in sich eine gewaltige verborgene Energie, und die größte Aufgabe der Physik besteht darin, diese Energie freizusetzen, den Korken herauszuziehen, damit diese verborgene Energie hervorbrechen kann. Dann eröffnet sich die Möglichkeit, Kohle und Öl durch Atomenergie zu ersetzen, die auch zur wichtigsten Antriebskraft wird. Das ist keineswegs eine hoffnungslose Aufgabe. Was für Aussichten eröffnen sich uns! Schon dies gibt uns das Recht zu erklären, daß sich das wissenschaftliche und technische Denken einem großen Wendepunkt nähern, daß die revolutionäre Epoche in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auch eine revolutionäre Epoche im Bereich der Erkenntnis der Materie und ihrer Beherrschung sein wird. Vor der befreiten Menschheit werden sich unbegrenzte technische Möglichkeiten auftun.