Dieter Wilhelmi:

Übergangsforderungen, Übergangsprogramm

Vorbemerkungen zu den nachfolgenden Texten

Die nachfolgend dokumentierten Texte sprechen zum erheblichen Teil für sich. Für viele der Besucher unserer Seite ermöglichen sie einen Blick auf unbekannte bzw. verschollene Seiten kommunistischer Theoriegeschichte. Zugleich befriedigen die Texte ein dringendes Bedürfnis nach theoretischer Grundlegung des zentralen Problems unserer Zeit, nämlich der Frage danach, wie die Arbeiterbewegung wieder eigenständige strategische Handlungsfähigkeit gewinnen und aus der jetzigen Phase der Defensive herauskommen kann, um den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft wieder zur greifbaren Perspektive zu machen. Diejenigen Marxisten, die das Konzept der Übergangsforderungen kennen, werden im weithin unbekannten Text August Thalheimers neue Anregungen finden können.

Hintergrund für alle der nachfolgenden Texte ist die Auffassung, daß die kapitalistische Gesellschaftsformation ihre Aufstiegsphase im welthistorischen Sinne hinter sich gelassen hat und sich in der Phase des Niedergangs, d.h. in der Epoche des Übergangs zum Sozialismus befindet. Dementsprechend müssen Kommunisten ihre politische Tätigkeit als eine der Vorbereitung der sozialistischen Revolution begreifen. Die maßgebliche strategische Frage ist dann die nach der bewußten Gestaltung des proletarischen Klassenkampfes in dieser Übergangsepoche. Daß diese Übergangsepoche historisch-dialektisch als widersprüchliche begriffen werden muß, als eine, die durch den Klassenkampf bestimmt ist, die deshalb Siege und Niederlagen kennt und nicht nur mechanistische Abfolgen von “Gesetzmäßigkeiten”, sollte sich von selbst verstehen.

Der hier veröffentlichte Text Thalheimers ist ein Auszug aus einer längeren Kritik des Programmentwurfs der Kommunistischen Internationale zu deren 6. Weltkongreß. Der letztgenannte Text wurde von der bereits weitgehend stalinisierten Komintern unterdrückt und erst im Jahre 1993 erstmals veröffentlicht[1]. Bemerkenswert ist dabei, daß Thalheimer seinen programmatisch-strategischen Ansatz, der in den hier veröffentlichten Abschnitten seiner Arbeit dargelegt wird, wenigstens teilweise faktisch fallengelassen hat, soweit es sich um die Formulierung strategischer Grundsätze für alle Sektionen der kommunistischen Bewegung handelte. Weder Thalheimer noch die von ihm geführte Kommunistische Partei (Opposition) haben diese Arbeit veröffentlicht. Dies steht im Gegensatz zum Inhalt der Arbeit selbst, in der Thalheimer sich als Mitglied der Programmkommission der Komintern auf den Auftrag der III. und IV. Weltkongresse der Komintern beruft, der jeweils unter maßgeblicher Beteiligung Lenins zustandegekommen war.

Es ist zwar richtig, daß viele der Vorstellungen Thalheimers in die Plattform der KPD-Opposition von 1929 Eingang fanden, wie Theodor Bergmann 1993 schrieb[2], doch in einer Hinsicht gilt dies nicht. Thalheimer begründet zu Recht und ausführlich, daß es dem marxistischen Konzept entspricht, Übergangsforderungen für jede Entwicklungsetappe des Klassenkampfes aufzustellen und diese Programmkonzeption nicht nur für unmittelbar vorrevolutionäre oder revolutionäre Phasen des Klassenkampfes zu reservieren.

Dieser Grundgedanke wurde schon von vormarxistischen Sozialisten vertreten. In seiner Kritik an Pierre Joseph Proudhons “Philosophie des Elends” zitiert Marx ausführlich den englischen Ökonomen Bray, dessen Arbeit er als “bemerkenswert” bezeichnete: “Wenn eine Veränderung der Charaktere unumgänglich notwendig ist, um ein auf Gemeinsamkeiten beruhendes gesellschaftliches System in seiner vollendeten Form zu ermöglichen, wenn andererseits das gegenwärtige System weder die Möglichkeit noch die Umstände zeitigt, die geboten sind, diese Veränderung der Charaktere herbeizuführen und die Menschen für einen besseren Zustand, den wir alle wünschen, vorzubereiten, so ist es klar, daß die Dinge notwendigerweise so bleiben müssen, wie sie sind, wenn man nicht einen vorbereitenden Modus der Entwicklung entdeckt und durchführt — einen Prozeß, der sowohl dem gegenwärtigen System als auch dem Zukunftssystem (System der Gemeinschaftlichkeit) angehört — eine Art Übergangsstadium, in welches die Gesellschaft eintreten kann mit allen ihren Ausschreitungen und allen ihren Verrücktheiten, um es alsdann zu verlassen, reich an den Eigenschaften und Fähigkeiten, welche die Lebensbedingungen des Systems der Gemeinschaftlichkeit sind.[3] Marx verwarf die von ihm nachfolgend zitierten ökonomischen Vorstellungen Brays, die Proudhon inhaltlich teilte, hob aber bei Bray positiv hervor,”daß Herr Bray, weit davon entfernt, das letzte Wort der Menschheit sprechen zu wollen, nur die Maßregeln vorschlägt, welche er für eine Epoche des Überganges von der heutigen Gesellschaft in das System der Gemeinschaftlichkeit für geeignet hält.”[4]

Trotz seiner ideologischen Grenzen stellte dieser utopische Sozialist bereits Fragen, die zu denken viele der heutigen Reformisten bis auf den heutigen Tag nicht in der Lage sind, von Antworten gar nicht zu reden. Wie Thalheimer aufzeigt, hat Marx später selbst jeweils in unterschiedlichen Klassenkampfetappen derartige Übergangsmaßregeln vorgeschlagen. Dasselbe gilt für die russischen Kommunisten unter Lenin und zum Teil für die Sektionen der Kommunistischen Internationale zu Anfang der zwanziger Jahre. Lenin, Trotzki, Sinowjew , Radek und Bucharin, erklärten als Vertreter der russischen Delegation auf dem 4. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, daß Übergangsforderungen in jedes kommunistische Programm gehören. Sie beantragten deshalb, jede Sektion der Kommunistischen Internationale zu verpflichten, Übergangsforderungen zu einem notwenigen Bestandteil jedes Programms der nationalen kommunistischen Parteien zu machen.[5]

Die Kommunistische Internationale hat unter Stalin das Konzept der Übergangsmaßregeln und die Formulierung eines Übergangsprogramms stillschweigend aufgegeben. Bemerkenswerterweise gilt dies auch für die Gruppe Arbeiterpolitik, die sich in der politischen Tradition Thalheimers sieht. Nur die trotzkistische Opposition der Komintern und spätere IV. Internationale hielt immer daran fest. Große Teile der trotzkistischen Bewegung sprechen vom Gründungsprogramm der IV. Internationale nur als "Übergangsprogramm". Wir dokumentieren hier den Teil des Gründungsprogramms der IV. Internationale, der das Übergangsprogramm in engerem Sinne für die entwickelten kapitalistischen Länder umfaßt.

Zugleich ist in diesem Zusammenhang anzumerken, daß sich zwar alle Strömungen der trotzkistischen Bewegung offiziell zu diesem Programmteil bekennen, aber dieses Bekenntnis nicht notwendig praktische Folgen zeitigt. Hinzu kommt, daß eine Reihe trotzkistischer Organisationen das kommunistische Programm in der Praxis auf Übergangsforderungen reduziert und es so zentristisch deformiert. Es bleibt aber das Verdienst Trotzkis, den einzigen Versuch unternommen zu haben, das Konzept der Übergangsforderungen formuliert und einem Übergangsprogramm so Gestalt verliehen zu haben.

Trotzkis Übergangsprogramm der IV. Internationale sollte dabei nicht etwa konkretere Aktionsprogramme nationaler kommunistischer Parteien ersetzen, sondern die strategischen Grundlinien der nationalen Sektionen der kommunistischen Bewegung in der imperialistischen Epoche bestimmen. In diesem Sinne ist der Text heute noch unentbehrlich.

Berlin, den 30.12.2002

Dokumentation:

  1. August Thalheimer: Programmatische Fragen: Kritik des Programmentwurfs der Kommunistischen Internationale (VI. Weltkongreß), 1928 — Auszug

  2. Protokoll des 3. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale — Auszug aus den Thesen über die Taktik: Teilkämpfe und Teilforderungen)

  3. Leo Trotzki: Die Agonie des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale, 1938 — Auszug

  4. Plattform der Kommunistischen Partei Deutschlands (Opposition), beschlossen auf deren 3. Reichskonferenz, Dezember 1930 — Auszug

  5. Edwin Hoernle: Übergangsforderungen. Zur Programmdebatte


[1]Thalheimer, August: Programmatische Fragen: Kritik des Programmentwurfs der Kommunistischen Internationale (VI. Weltkongreß), Mainz 1993
[2]Bergmann, Theodor: Vorwort zur v.g. Broschüre, S. 9
[3]Karl Marx: Das Elend der Philosophie, in MEW 4, 63 ff (102)
[4]Karl Marx, a.a.O., S. 103
[5]Protokoll des 4. Weltkongresses der III. Internationale, Reprint, Erlangen o. Jhg., S. 542 f - > mehr...