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Das Polizeimassaker an streikenden Minenarbeitern in Südafrika

Was war passiert?

Am 16. August 2012 schoß die südafrikanische Polizei auf eine Gruppe von ca. 3000 streikenden Arbeitern der Platinmine von Marikana, die bei Rustenburg 100 km nordwestlich von Johannesburg gelegen ist. Mindestens 34 Arbeiter starben dabei. Mehr als 250 Streikenden wurden verhaftet. Bereits vor diesem Massaker starben bei gewalttätigen Protesten in der letzten Woche 10 Menschen, zwei Polizisten eingeschlossen. Die Aktivisten Thapelo Lekgowa, Botsang Mmope and Peter Alexander berichten auf socialistworker.co.uk von ihren Untersuchungen am Schauplatz des Massakers:

Die Streikenden waren von schwer bewaffneten Polizisten und Soldaten umzingelt. Sie wurden getötet, während sie versuchten, den Schüssen zu entkommen. Die bewaffneten Kräfte des südafrikanischen Staats haben nicht in "Notwehr" gehandelt. Sie nahmen an einer wohl-organisierten, vorsätzlichen Schlächtung teil.

Wir befragten überlebende Minenarbeiter und schauten uns den realen Schauplatz des Massakers an. Was wir fanden, ist sogar schockierender als die Geschichte, die in den Medien präsentiert wurde, selbst hier in Südafrika. Folgende Ereignisse sind wie auf der Grafik nummeriert.

Grafischer Ablauf des Massakers
  • (1) Am Todestag versammelten sich ungefähr 3000 streikende Minenarbeiter auf und unter dem "Berg" (tatsächlich ein kleiner Hügel). Joseph Mathunjwa, Präsident der AMCU (Gewerkschaft der Minen- und Bauarbeiter), kam und bat sie den (außerhalb des Minengeländes gelegenen) Platz zu verlassen, um einen Polizeiangriff zu vermeiden. Die Minenarbeiter lehnten ab.
  • (2) Innerhalb einer Viertelstunde nachdem Mathunjwa gegangen war, legten die Polizei und die Armee einen Stacheldrahtverhau aus und trennten so die Streikenden von der inoffiziellen Enkanini-Siedlung, wo viele von ihnen lebten. Gepanzerte Truppentransporter, Pferde und Wasserwerfer wurden eingesetzt, um die Arbeiter einzuschließen.
  • (3) Einige Arbeiter gingen runter zum Stacheldrahtzau, um zu sehen, ob sie da durch eine Lücke schlüpfen könnten. Augenzeugen berichten, die Polizei nahe einem Hügelchen ("small koppie") eröffnete das Feuer auf sie, wahrscheinlich mit Gummigeschössen. Einige Arbeiter flohen durch eine fünf Meter breite Lücke im Stacheldrahtverhau. Sie trafen auf einen Hagel von scharfem Feuer von der Polizei, und viele starben. Bilder dieser Schüsse wurden als Video in vielen Medien weltweit gesendet.
  • (4) Verängstigte Streikende verstreuten sich in alle Richtungen, die meisten suchten in der Richtung eines ungefähr 300 Meter weit gelegenen Hügels gegenüber vom Stacheldrahtverhau Deckung. Dieser Todeshügel ("killing koppie") ist es, wo die meisten Arbeiter starben. Keine Kameras haben dieses Massaker aufgezeichnet. Aber Spuren blieben noch am Montag vier Tage nach dem Massaker sichtbar. Es gibt überreste von Blutlachen. Polizeimarkierungen zeigen, wo Leichen entfernt wurden. Wir fanden Markierungen mit Buchstaben bis "J".
  • (5-8) Andere Streikende wuden getötet, als sie über die Felder flohen. Schüsse wurden von Hubschraubern abgegeben, und einige Arbeiter, die auf einen kleinen Hügel zurannten, wurden von minengeschützten gepanzerten Truppentransportern zerquetscht.

Die Darstellung der Polizei

Polizeipräsidentin Riah Phiyega verteidigte am Freitag auf einer Pressekonferenz das Vorgehen der Polizei. Sie beschrieb in einem auffälligen Kontrast zu Schilderungen von Augenzeugen einen verzweifelten Kampf der Polizei, um eine Menge von Macheten schwingenden aufgebrachten Minenarbeitern wegzuhalten. Nachdem diese zwei Verteidigungslinien durchbrochen hätten, hätte die Polizei keine andere Wahl gehabt, als mit scharfem Feuer zu antworten.

Ein Polizeioffizier gab folgende Aussage: "Ich weiß nicht, wieviele wir erschossen haben. Wenn sie solche Dinge tun, müssen sie es auf die harte Tour lernen." Solche Dinge - das war friedliches Sitzen an einem Ort außerhalb des Minengeländes. Die Aktion der Polizei war also nicht mit dem Hausrecht des Minenbetreibers zu begründen. Gut möglich, daß die Polizei einen Racheakt als Vergeltung für die zwei toten Polizisten bei Unruhen am Anfang der Woche ausführte.

Die Minenarbeiter und der Streik

Der wilde Streik begann bereits am 10. August, als Tausende von Arbeitern ihren Arbeitsplatz verließen. Sie forderten, daß ihre Löhne von ungefähr umgerechnet 400 Euro auf 1200 Euro verdreifacht werden sollten. Damit soll auch der Tatsache Rechnung getragen werden, daß erstens die Minenarbeiter und ihre Familien wie schon zu Apartheid-Zeiten immer noch in nicht genehmigten, notdürftig selbst errichteteten primitiven Siedlungen ohne fließendes Wasser leben und sich die langjährigen Versprechen des ANC (African National Congress, Regierungspartei) über richtige Häuser mit Sanitär- und Elektrizitätsversorgung als Luftnummer erwiesen haben. Zweitens gilt die Arbeit in den Minen nach wie vor als gefährlich. Allein dieses Jahr starben 40 Minenarbeiter bei Unfällen. So nimmt es nicht wunder, daß es gerade die Felsbohrer waren, die den Streik begannen.

Am Samstag nach dem Massaker marschierten Schwestern, Ehefrauen und Töchter zum Tatort. Eine Frau erzählte: "Mein Mann hat hier seit 27 Jahren gearbeitet. Um 3 Uhr morgens stand er auf und kehrte um halb drei Uhr nachmittags zurück. Er bekam 3.000 Rand (umgerechnet 285 Euro) pro Monat. Welcher Clown würde so wenig verdienen und nicht protestieren?"

Tatsächlich umtreibt immer größere Teile der südafrikanischen Arbeiterklasse eine große Wut auf die herrschende Elite des Landes mitsamt dem ANC. Exemplarisch die Worte von Joyce Lebelo gegenüber der Journalistin Lydia Polgreen von der New York Times. Als sie 1998 vier Jahre nach dem Ende der Apartheid zu einer Barackensiedlung nahe einer Platinmine zog, baute sie nur einen dünnen Schuppen in der Erwartung, daß die neue ANC-geführte Regierung ihr bald ein ordentliches Haus hinstellen würde. Sie wartet immer noch: "Als wir (für den ANC) stimmten, dachten wir nicht, wir würden 10 Jahre in einer Baracke verbringen." Sie sitzt unter dem dünnen Dach ihres dünnwandigen Häuschens, das sie über all die Jahre so ausgebaut hat, das es eine Küche, Schlafnischen, ein Eßzimmer und von Wand zu Wand reichende Teppiche hat. Aber Ziegelsteine und Mörtel, geschweige denn fließendes Wasser und Elektrizität sind immer noch ein ferner Traum. "Ihre Versprechen haben sie nicht wahr gemacht. Die Leute, die an die Macht kamen, sind fett und reich. Sie haben die Menschen unten vergessen.", sagt Frau Lebelo.

Dabei ist Frau Lebelo noch eine der Glücklicheren, denn sie hat einen Job als Köchin für Schulen, und ihr Mann arbeitet als Fahrer in der Platinmine. Wenigstens ihre Familie hat zwei Einkommen. Viele andere, die in der Siedlung wohnen, haben gar keinen Job.

Wie verhalten sich die Gewerkschaften?

Die Arbeiter der Mine sind in zwei Gewerkschaften organisiert, die meisten mit Doppelmitgliedschaft. Zum einen gibt es die traditionelle NUM (Nationale Gewerkschaft der Minenarbeiter), die insgesamt 300.000 Mitglieder zählt und als wichtigste Einzelgewerkschaft zum Gewerkschaftsverband COSATU gehört. Die NUM wurde 1982 gegründet und war lange Zeit ein wichtiger Faktor im Kampf gegen die Apartheid. Sie ist bis heute politisch wie der Dachverband COSATU eng mit dem ANC verbandelt. Inzwischen fühlen sich aber immer mehr Arbeiter von der NUM nicht ausreichend vertreten. So gibt es die neue vom Minenbetreiber Lonmin nicht anerkannte Gewerkschaft AMCU, die den aktuellen Streik unterstützt.

Die NUM jedoch lehnt den Streik ab und ist die Gewerkschaft, die allein vom Minenbetreiber Lonmin als Verhandlungspartner akzeptiert wird. Frans Baleni, Generalsekretär der NUM, verteidigte die Polizei in einem Interview mit dem Radio Kaya FM: "Die Polizei war geduldig, aber diese Leute waren extrem bewaffnet mit gefährlichen Waffen."

Tatsächlich hatte die NUM noch vor dem Massaker mit dem Lonmin-Management vereinbart, daß die Arbeiter zur Arbeit zurückkehren sollen. Allerdings steht die NUM unter dem Druck der radikaleren AMCU, die mittlerweile wie die NUM zirka 30% der Belegschaft in Marikana als Mitglieder zählt. Viele der AMCU-Aktivisten sind ehemalige ausgeschlossene NUM-Mitglieder gewesen, so auch der AMCU-Vorsitzende Mathunjwa selbst.

Am Anfang der Woche kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der NUM und der AMCU, bei denen 10 Menschen starben, zwei Polizisten eingeschlossen. Jeffrey Mphahlele, Generalsekretär der AMCU, sagte, daß der Konflikt damit begann, wie NUM-Mitglieder auf ACMU-Mitglieder geschossen hätten. Die NUM soll auch routinemäßig Gewalt einsetzen, um sich zur AMCU absetzende Arbeiter einzuschüchtern.

Auf Twitter berichtet die New-York-Times-Korrespondentin Lydia Polgreen passend, daß die Arbeiter die NUM zunehmend als Teil der Machtelite empfinden. Bezeichnend ist auch, was am Vortag des Massakers geschah. Sowohl der NUM-Vorsitzende Senzeni Zokwana als auch danach der AMCU-Sprecher Mathunjwa kamen am Mittwochnachmittag zu den Arbeitern, die am Hügel kampierten. Während Zokwana sich nicht aus dem sicheren Polizeiauto heraustraute, als er zu den Arbeitern mit dem Megaphon sprach und sie zur Arbeit aufforderte, mußte Mathunjwa von der Polizei sichtlich davon abgehalten werden, direkt den Hügel raufzugehen und ohne Polizeibegleitung mit den Arbeitern zu sprechen. Ein anderes Indiz für die Verflechtung der NUM mit der Machtelite ist auch die Tatsache, daß dem NUM-Generalsekretär Baleni inzwischen ein stattliches Salär von mehr als 105,000 Rand monatlich zusteht (zirka 10,000 Euro). Ferner: Die NUM muß nunmehr es als ihr ureigenes Interesse ansehen, daß die streikenden Minenarbeiter gefeuert werden, damit frischer Nachschub von neuen Wanderarbeitern von weit weg kommt, der in die NUM integriert werden kann...

Die Rivalität zwischen NUM und AMCU wurde auch im Februar spürbar, als in der Impala-Platinmine wilde Streiks mit Unterstützung der AMCU etztlich erfolgreich waren und zu einer Lohnsteigerung von 4,000 Rand auf mehr als 8,000 Rand für Felsbohrer führten. Während die NUM stark an Zuspruch verlor (so geht unter den Arbeitern die Geschichte um, daß Jeffrey Thanzi, der NUM-Vertreter von Impala-Nord, vom Management eine Farm mit 50 Stück Vieh gekauft bekommen haben soll), konnte die AMCU bei Impala jetzt mindestens auf 11,000 Mitglieder zulegen. Auch das erklärt die Kultur der Gewalt zwischen den Gewerkschaften im Kampf um Einflußsphären.

Lonmins Rolle im Streik

Der Minenbetreiber Lonmin, der als drittgrößter Platinproduzent der Welt gilt und dessen Zentrale in London/England liegt, ließ nach dem Massaker durch seinen Finanzchef Simon Scott verlautbaren: "Was geschah war, daß ein illegaler Streik stattfand. Beschäftigte zogen es vor, nicht zur Arbeit zu erscheinen. Und dann eskalierte das sehr schnell zu einem Akt öffentlicher Gewalt, die außerhalb unserer Kontrolle liegt und die das Einschreiten der südafrikanischen Polizei notwendig machte." Ähnlich qualifizierte der Vorsitzende von Lonmin, Roger Phillimore, die Gewalt als eine "klar öffentliche Angelegenheit denn eine tarifliche Auseinandersetzung".

Freilich hält diese Einschätzung die Lonmin-Offiziellen nicht davon ab, trotz der allgemeinen Trauer ob des Massakers, das Erinnerungen an Sharpeville 1960 und Soweto 1976 weckt, die streikenden Arbeiter mit Entlassung zu bedrohen, sofern sie nicht sofort zur Arbeit zurückkehren. Lonmin ist nicht zuletzt durch die kriselnde Autoindustrie als Hauptabnehmer für Platin (47%) unter Druck, die eigene Profitrate soweit wie möglich aufrechtzuhalten.

Die Haltung der South African Communist Party SACP

In einem Google-Forum der Kommunistischen Universität von Johannesburg fordert die SACP Nordwest die Verhaftung der AMCU-Führer Mathunjwa and Steve Kholekile. Begründet wird das mit der Wiederherstellung der "Stabilität" in den Rustenburg-Minen. In diesem Kontext wird auch die Einsetzung einer präsidialen Untersuchungskommission gefordert, von der der südafrikanische Präsident Zuma gleich nach dem Massaker nebst der allgemeinen Trauerbekundung gesprochen hatte (natürlich ohne die Polizei zu beschuldigen).

Auf der Webseite www.politicsweb.co.za erlätert die SACP Nordwest die Aufgaben einer solchen Untersuchungskommission:

"Die präsidiale Untersuchungskommission muß auch das Schema der Gewalt untersuchen, das mit der Pseudo-Gewerkschaft AMCU verbunden ist, wo immer sie sich zu positionieren versucht. Aufgebaut in Witbank von zwei früheren NUM-Mitgliedern, verstoßen wegen anarchistischen Verhaltens, wurde AMCU gegründet von BHP Billiton in einem absichtlichen Versuch, die NUM zu schwächen. Die Kommission sollte besonders ihren Führer Joseph Mathunjwa untersuchen."

Was sagt die trotzkistische Workers International Vanguard League (WIVL)?

Die WIVL rief die Arbeiter aller Platinminen noch am Freitag, den 17. August zu einem unbegrenzten Solidaritätsstreik auf. Ferner unterstützt und befürwortet die WIVL die Bildung von Streikkomitees als Selbstverteidigungsmaßnahme gegen die Polizeigewalt. Der Streik und die Besetzung von Minen sollten dauern, bis unter anderem folgende Forderungen erfüllt werden:

  • Sofortige Freigabe aller Leichen der getöteten Minenarbeiter
  • Sofortige Freilassung aller verhafteten Streikenden
  • Verhaftung der Polizisten und ihrer Befehlshaber, die das Massaker begingen
  • Verhaftung der Lonmin Minenbesitzer und -manager (Lonmin traf die Polizei vor dem Massaker und ist deshalb ein Komplize)
  • [...]
  • 12,500 Rand Mindestlohn für die Platin-Minenarbeiter (der Platinpreis hat während der letzten 10 Jahre um 300% zugenommen, während die Arbeiter Hungerlöhne erhielten)
  • Entschädigung für die Familien der getöteten Minenarbeiter (Wir verwerfen die Idee einer Untersuchungskommission des Staats - wie können die Mörder sich selbst untersuchen? Wie andere Untersuchungen, dies dient nur der Verschleierung der Wahrheit über das Massaker)