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Problemfall Sozialdemokratie

Marxisten und ihr Verhältnis zur Sozialdemokratie. Eine Auseinandersetzung mit der französischen Gruppe CRI.

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Problemfall Sozialdemokratie.

Marxisten und ihr Verhältnis zur Sozialdemokratie. Eine Auseinandersetzung mit der französischen Gruppe CRI[1]

Von Marcel Souzain (Brüssel) und Dieter Elken (Berlin)

Inhalt:

Vorbemerkung:
1. Der Begriff der bürgerlichen Arbeiterpartei und seine Grenzen
2. Wie begründete die Komintern die Einheitsfrontpolitik?
3. Warum konnte sich die SPD dennoch halten? Trotzkis Analyse
4. Links oder Rechts? Ist diese Unterscheidung heute überholt?
5. Weitere Gedanken zur Rezeptionsgeschichte der Einheitsfrontpolitik in der trotzkistischen Bewegung: Entrismus und Anpassung an den Reformismus
a) Scheitern der Komintern und Krise der Einheitsfrontpolitik
b) Die Marginalisierung der revolutionären Marxisten
c) Führungskrise der trotzkistischen Bewegung nach dem Weltkrieg
d) Pablos Zentrismus in der Frage der Arbeiter- und Bauernregierung 1946
e) 1. Exkurs: Zum belgischen Generalstreik 1960/61 und zur Politik Ernest Mandels
f) 2. Exkurs: Anpassungstendenzen der westdeutschen Trotzkisten während ihres Integrationsentrismus in der SPD — die Kritik Dieter Wilhelmis
6. Zwei Arten der “kritischen Wahlunterstützung” von Reformisten
7. Kritik der “Kriterien zur Definition einer bürgerlichen Arbeiterpartei”
a) Das Programm
b) Die Regierungspraxis…
c) Die Sozialstruktur

Problemfall Sozialdemokratie

Vorbemerkung:

Wir haben die vom Genossen Frédéric Traille zur Lektüre empfohlenen Texte Eurer Organisation zum Charakter der Sozialdemokratie aufmerksam gelesen. Wir sind jetzt besser in der Lage zu verstehen, zu welchen Fragen Meinungsverschiedenheiten bestehen. Bevor wir darauf eingehen, eine Vorbemerkung:

Obwohl die Marxistische Initiative noch eine sehr junge Gruppe ist, hatten bei unserer Gründung wenigstens unsere Leitungsgenossen bereits eine Vielzahl von Debatten zu diesem Thema hinter sich. Wir können insofern auf eine reichhaltige Kette von Diskussionen in der weiteren trotzkistischen Bewegung in der BRD zu diesem Thema zurückgreifen. Ein großer Teil dieser Debatten wurde sehr scholastisch geführt. Das vertiefte die Kenntnis der Klassiker-Texte, half aber nicht, bei Lenin oder Trotzki bereits fertige taktische Rezepte zu finden, wie Revolutionäre in den siebziger, achtziger oder den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der Sozialdemokratie umgehen sollten. Hinzu kommt, daß sich für nahezu jede taktische Haltung gegenüber der Sozialdemokratie das “passende Trotzki-Zitat” finden läßt — wenn der textuale Kontext jeweils ignoriert wird.

Trotzdem waren diese Diskussionen auch lehrreich und nützlich, wenn man an diese Theoriegeschichte selbst in historisch-materialistischer Weise herangeht und die Entwicklung der Sozialdemokratie und der mit ihr konkurrierenden Strömungen im Klassenkampf nachvollzieht. Allerdings reicht die Diskussion selbst bis zu den Anfängen der kommunistischen Bewegung zurück.

Wir waren daher nicht überrascht zu sehen, daß Ihr Euch in Eurem Diskussionspapier “Über das Wesen der PS: Das ist keine reformistische Arbeiterpartei mehr, sondern einfach eine rein bürgerliche Partei” u.a. auch mit der Position des 3. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale zur Einheitsfrontpolitik auseinandersetzt.

Diese Auseinandersetzung leidet aber darunter, daß Ihr diese Auseinandersetzung durch die Brille der trotzkistischen, genauer: der lambertistischen Terminologie betrachtet. Unserer Einschätzung nach ist besonders diese letztere Terminologie durch ein schematisch eingeengtes Verständnis des Verhältnisses zwischen historischer Analyse, daraus abgeleiteter Terminologie sowie hieraus abgeleiteter Taktik gekennzeichnet. Dies hat neben der Krise der trotzkistischen Bewegung zu einem Spannungsverhältnis zwischen Theorie und realem Geschichtsverlauf geführt, der nicht nur bei Euch in Frankreich Versuche provozierte, mit den entstandenen Widersprüchen fertig zu werden.

1. Der Begriff der bürgerlichen Arbeiterpartei und seine Grenzen

Zunächst ist festzustellen, daß der Begriff “bürgerliche Arbeiterpartei” in den Kominternthesen nicht verwendet wird, sondern späteren Ursprungs ist. Er sollte helfen, die Rolle und Funktion der Sozialdemokratie im Klassenkampf besser zu verstehen: Er bezeichnet eine Partei mit bürgerlicher, ja, konterrevolutionärer Politik, die sich, einst als Klassenpartei gegen alle bürgerlichen Parteien entstanden, trotz ihres gewandelten politischen Charakters immer noch wenigstens auf Teile der Arbeiterklasse stützt. Die gesellschaftliche Basis ihrer bürgerlichen Politik wie ihrer sozialen Stellung zwischen den Grundklassen der bürgerlichen Gesellschaft ist die verbürgerlichte Arbeiterbürokratie und die Arbeiteraristokratie und deren kleinbürgerliche Illusionen. Als Begriff, der die widersprüchliche gesellschaftliche Funktion aller Schattierungen der Sozialdemokratie prägnant zusammenfaßt, schätzen wir diesen Terminus.

Bei Euch erhält er jedoch einen ontologischen Charakter: Er mutiert zum Ausdruck des Wesens bzw. der Natur der Sozialdemokatie und des Reformismus. Das ist ein schwerer methodologischer Fehler mit weitreichenden Konsequenzen:

Die Frage nach dem Wesen bzw. der Natur der Sozialdemokratie wird in Euren Ausführungen nicht als Frage nach dem gesellschaftlichen, dem Klassencharakter der Sozialdemokratie gestellt. Die weitestgehende Konkretisierung ihrer “Natur”, die ihr gebt, ist “reformistisch”. Doch welchen Klassencharakter hat dieser Reformismus? Hier weicht jeder Eurer Texte auf Beschreibungen aus, auf Definitionen, wie eine Partei zu beurteilen ist, auf Kriterien der bürgerlichen Parteiensoziologie etc. Aber das eine wesentliche Kriterium für Marxisten, die wirkliche politische Praxis einer Partei im Klassenkampf, spielt in Euren Ausführungen (nur in dieser Frage) keine wesentliche Rolle bzw. erst seit 1980 (dazu werden wir unten Ausführungen machen).

Die Praxis der Sozialdemokratie war aber spätestens seit dem August 1914 bürgerlich — ohne wenn und aber. Das macht eine Analyse der Wandlungen der sozialdemokratischen Politik und der Rolle der Sozialdemokratie in den vergangenen 94 Jahren nicht überflüssig, steckt aber den Rahmen der Analyse ab. Auch bürgerliche Politik verändert sich im Verlauf der Geschichte des Klassenkampfs — ohne daß sie deshalb aufhörte, bürgerlich zu sein. Diese Wandel läßt sich, wie die Geschichte des Kapitalismus “periodisieren”. Dadurch werden diese Wandlungen der bürgerliche Politik der Sozialdemokratie jedoch noch lange nicht zu historisch-dialektischen Umschlagspunkten, die jeweils den Klassencharakter des Reformismus verändern.

Der Klassencharakter der SPD und der 2. Internationale hat sich genau einmal qualitativ verändert: 1914. Daß der Verbürgerlichungsprozeß damals nicht eingefroren wurde, sondern weiterging (und der Verlaufsprozeß immer wieder konkret analysiert werden muß) sollte sich von selbst verstehen. Aber Eure These vom qualitativen Wandel der Sozialdemokratie - von ein bißchen bürgerlich hin zu vollständig bürgerlich - ist ebenso ahistorisch wie methodisch widersinnig.

Der gesellschaftliche Charakter der Sozialdemokratie, ihr Wesen oder ihre Natur, ist seit fast 100 Jahren bürgerlich. Sie hat seitdem ihren Klassencharakter nicht verändert. Welches Klasseninteresse sollte das bürgerliche Interesse ersetzen, wenn von einer Änderung der Natur der Sozialdemokratie die Rede ist?

Wir fürchten, daß Ihr hier Opfer Eurer lambertistischen Vergangenheit geworden seid. Obwohl Ihr Euch zu recht gegen die Unterstellung verwahrt, nicht zu wissen, daß die sozialdemokratischen Reformisten seit 1914 eine bürgerliche Politik betreiben, verleiht Ihr dem sozialdemokratischen Reformismus faktisch dennoch einen gesellschaftlichen Zwittercharakter: Bürgerlich, aber immer noch ein bißchen proletarisch. Es gibt aber keine Zwei-Klassen-Parteien. Schon diese Vorstellung ist ihrem Inhalt nach — wir bitten, dies nicht als Beleidigung zu verstehen! - durch und durch kleinbürgerlich. Wir sehen hier eine Nachwirkung der Anpassung des Lambertismus an sozialdemokratisch-reformistische Gewerkschaftsapparate. Dies kommt leider auch bei Eurem Rekurs auf die Politik der Einheitsfront zum Ausdruck. Das Problem ist in diesem Fall nicht die Bösartigkeit Eurer Kritiker, sondern die Widersprüchlichkeit Eurer Position.

2. Wie begründete die Komintern die Einheitsfrontpolitik?

Die Einschätzung der Natur bzw. des Charakters der Sozialdemokratie ist, da stimmen wir mit Euch überein, eng mit dem Konzept der Einheitsfrontpolitik verbunden. Um so erstaunter waren wir bei der Lektüre Eurer Papiere, daß Ihr den Inhalt der Thesen zur Taktik der Kommunistischen Internationale nicht richtig wiedergegeben habt. Es ist eine hundertprozentige Fehlinterpretation dieser Thesen, wenn behauptet wird, die Einheitsfronttaktik umfasse auch Vorschläge an die Reformisten, gemeinsam die Macht zu erobern. Diese Vorstellung findet sich weder in den Thesen des Dritten, noch in denen des Vierten Weltkongresses der Kommunistischen Internationale.

Zur Erinnerung: Bei der Diskussion der denkbaren Typen von Arbeiterregierungen in den Thesen des Vierten Weltkongresses der KI wird zwar erwähnt, daß die Kommunisten unter gewissen Bedingungen auch nichtkommunistische Arbeiterregierungen unterstützen können, daß sie dabei jedoch die Massen intensiv aufzuklären haben, daß nur die Diktatur des Proletariats selbst dessen wirkliche Befreiung sichert. Die Teilnahme an Arbeiterregierungen unterhalb dieser Entwicklungsstufe des Klassenkampfs, so heißt es dort, sei nur da denkbar, wo die betreffenden Regierungen:

  • die Arbeiterklasse bewaffnen,
  • die Konterrevolution entwaffnen,
  • die Arbeiterkontrolle der Produktion einführen,
  • die Hauptlast der Steuern auf die Bourgeoisie abwälzen
  • und die Bourgeoisie entmachten.

Wo auf der Welt sollte das heute möglich sein oder wenigstens als Perspektive in Betracht kommen? Die Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen 1923 (zwei Provinzregierungen der deutschen Weimarer Republik, in denen die damals noch revolutionäre KPD mit der SPD koalierte) kamen dem noch am nächsten, setzten aber nichts von diesem Mindestprogramm durch und wurden widerstandslos von der SPD-geführten Reichsregierung abgesetzt.

Über propagandistische und agitatorische Konkretisierungen dieses Konzepts mußte natürlich nachgedacht werden im Mai 1968 in Frankreich und 1974-1975 in Portugal. Dort hatten sich die Klassenkämpfe objektiv und subjektiv so zugespitzt, daß Sozialdemokraten und Stalinisten aufgefordert werden mußten, mit der Bourgeoisie zu brechen. Das Problem war jeweils die Schwäche und Unerfahrenheit der revolutionären Kommunisten und der von Anfang an zu erwartende offene Verrat der Reformisten, die nicht im Traum daran dachten, eine wirkliche Arbeiterregierung zu etablieren.

Die Propagierung einer solchen Arbeiterregierung in Form einer Koalitionsregierung (stalinistischer) Kommunisten mit sozialdemokratischen Reformisten wäre danach, seit den dreißiger Jahren, nicht nur offenkundig eine weltfremde Albernheit gewesen sondern auch eine Illusionsmacherei in den Reformismus. Besonders die Grant/Wood-Tendenz[2] mit ihrem ewigem “For a Labour Government — on a Socialist Program” bot und bietet für diese Illusionsmacherei immer wieder Beispiele.

Eine KP-SP-Regierung heute kann also nach den Maßstäben des 4. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale bestenfalls eine reformistische bzw. sozialdemokratische, höchstwahrscheinlich aber nur eine scheinbare Arbeiterregierung sein. Die (Regierungs-)Praxis selbst von Parteien wie Rifondazione Comunista in Italien oder der “Linken” in Deutschland spricht Bände.

Von der Illusionsmacherei in den Reformismus war (und ist) der Lambertismus leider alles andere als frei. Eure Bemerkung, daß es bis 1980 insbesondere richtig gewesen sein soll, KP und SP aufzurufen, sich auf der Basis eines Arbeiterprogramms zu einigen und sogar schon im ersten Wahlgang zu ihrer Wahl aufzurufen — trotz ihres reformistischen Programms, weil es darum gegangen sei, denjenigen Parteien eine Niederlage beizubringen, die direkt die Bourgeoisie repräsentieren, liegt ganz auf dieser Linie.[3] . Die revolutionären Marxisten hätten der Arbeiterklasse zugleich und ebenso eindeutig sagen müssen, daß die von diesen Parteien beabsichtigte Politik garantierte, daß aus einer taktischen Niederlage der Bourgeoisie bei den Wahlen danach ein ganzer Sieg der Bourgeoisie werden würde, weil die Arbeiterklasse durch ihr Vertrauen in diese Parteien der zu erwartenden Offensive der Bourgeoisie völlig unvorbereitet gegenüberstehen würde. Stattdessen wurde so getan als sei es möglich, die traditionellen Führungen tatsächlich dazu zu bringen, ihrer “Verantwortung” gerecht zu werden.

Es ist bereits ein zentristisches Mißverständnis der Einheitsfrontpolitik, abstrakt zur Einheitsfrontbildung aufzurufen anstatt zu konkreten Mobilisierungen um konkrete Forderungen oder Ziele (z.B. Abwehr des Faschismus). Kern der Einheitsfrontpolitik ist, so Trotzki im Kapitel “Ein Rückblick auf die Geschichte der Einheitsfrontfrage” in seiner Schrift “Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats”, Vorschläge zu machen, die der (objektiven) Situation und dem Bewußtsein der Massen entsprechen. Das vorgenannte revolutionäre kommunistische “Minimalprogramm”[4] für die Teilnahme an einer Arbeiterregierung hat in den letzten 30 Jahren weder objektiv noch subjektiv auf der Tagesordnung gestanden.

Ebenso falsch ist die Darstellung, die Komintern unter Lenin und Trotzki hätte die Einheitsfrontpolitik aus der Natur bzw. dem Charakter des sozialdemokratischen Reformismus abgeleitet. Der klare Wortlaut der Kominternthesen zur Taktik der KI widerspricht dieser Behauptung. Es kann keine Rede davon sein, daß die KI die Einheitsfronttaktik damit begründete, daß die Sozialdemokratie und die Zentristen sich in Sonntagsreden und ihren offiziellen Programmen weiter auf den Sozialismus als Ziel beriefen. Ausgangspunkt der KI war die Notwendigkeit, die Mehrheit der Arbeiterklasse für die Revolution zu gewinnen. Voraussetzung dafür war, das Vertrauen der Mehrheit der Klasse zu gewinnen. Diesem Ziel diente die Einheitsfrontpolitik. Mit ihrer Hilfe sollten die Kommunisten dem an der Sozialdemokratie orientierten Teil der Arbeiterklasse beweisen, daß die Kommunisten besser und effektiver für die Tagesintereressen der Arbeiterklasse kämpfen als die Sozialdemokraten. Mit den Programmen der sozialdemokratischen Reformisten hatte das nichts zu tun. Zu berücksichtigen war nur, daß die Mehrheit der Klasse noch immer von Reformisten geführt wurde bzw. daß die Mehrheit der Klasse sich an diesen orientierte.

Wie begründete die KI wirklich ihre Position? Wir wollen versuchen, diese Entwicklung in aller Kürze zu skizzieren.

Vorausgeschickt sei: Die deutsche Sozialdemokratie, lange Zeit der Stolz und die Mustersektion der 2. Internationale, hatte sich bereits in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg in vielen Gemeindeverwaltungen an den bürgerlichen Staat angepaßt und mit ihm im Alltagsleben arrangiert. Zu diesem Prozeß trug der kontinuierlich steigende Lebensstandard der Arbeiterklasse bei, der von den Gewerkschaften aufgrund der ständig steigenden Nachfrage nach Arbeitskräften relativ problemlos durchgesetzt wurde. Dies stärkte besonders in den Gewerkschaftsapparaten die Bindung an den Kapitalismus.

Die offizielle Gegnerschaft der Sozialdemokratie zum Kapitalismus und zum Kaiserreich wurde 1914 als Ballast abgeworfen. In der Stunde der Not der eigenen herrschenden Klasse ging die Sozialdemokratie auf die Seite der bürgerlichen Ordnung über.

Der 3. August 1914 war nicht irgendeine Zäsur. Die Unterstützung des Krieges bedeutete die Zustimmung für den imperialistischen Massenmord an der europäischen Arbeiterklasse in Uniform und die endgültige Unterordnung unter die imperialistische deutsche Bourgeoisie. Die Rolle der SPD bei der militärischen Niederschlagung des Spartakusaufstandes und auch später in den Klassenkämpfen in der Weimarer Republik ließ keinen Zweifel daran, daß die SPD als Partei unwiderruflich auf die Seite der bürgerlichen Ordnung übergegangen war. Sie zog dann konsequenterweise 1933 den Sieg Hitlers einer Zusammenarbeit mit der KPD vor (daß Trotzki vor 1933 seine Kritik auf die KPD konzentrierte, lag nicht daran, daß er Illusionen in die SPD hatte, sondern daran, daß die endgültige Bindung der sozialdemokratischen Führung an die Bourgeoisie für ihn eine feststehende Tatsache war). Politisch betrachtet war die SPD für Lenin und Trotzki eine vollständig bürgerliche Partei — ohne Einschränkungen oder Relativierungen. Diese Auffassung war die Grundlage für die Gründung der Kommunistischen Internationale.

Die KAPD und die holländische Schule, die Bordigisten, britische und nachher die deutschen Ultralinken in der KPD zogen aus dieser Diagnose den Schluß, daß die Mobilisierung einer Klasseneinheitsfront nur gegen und unter allen Umständen ohne die Führer der Sozialdemokratie stattfinden könne. Aufgrund der von den Sozialdemokraten gezogenen Blutspur gegen das revolutionäre Proletariat hatten diese Strömungen wenigstens zunächst beträchtlichen Anhang bei den revolutionär gesinnten Teilen nicht zuletzt der deutschen Arbeiterklasse. Diese Strömungen waren schon damals der Ansicht, daß die offen bürgerlich-konterrevolutionäre Politik der Sozialdemokratie jede Zusammenarbeit wenigstens mit den Führern des Reformismus ausschloß.

Dem traten Lenin und Trotzki dennoch von Anfang an prinzipiell entgegen. Weil sie noch nicht die Mehrheit der Klasse hinter sich hatten und die Kommunisten, die Revolutionäre, nur eine Minderheit der Arbeiterklasse stellten, galt es, das Vertrauen der sozialdemokratisch beeinflußten Massen im Kampf für Teilziele, sogar im Kampf für Minimalziele zu gewinnen. Kommunisten hatten dabei zu berücksichtigen, daß für die reale Mehrheit der Arbeiterklasse die Reformisten noch nicht erledigt waren. Deren Vertrauen zu gewinnen, so erklärte der Dritte Weltkongreß der KI, sei deshalb möglich, weil die Reformisten in Zeiten der kapitalistischen Krise sogar den Kampf um die bescheidensten Ziele der Arbeiterklasse verraten.

Auch, wenn diese “sozialdemokratischen” beeinflußten Teile des Proletariats mit der Sozialdemokratie haderten und mit ihr nicht oder nicht mehr zufrieden waren, so blieb wahr, daß sie den Kommunisten jedenfalls noch weniger vertrauten als den Reformisten. Weil Teile der Arbeiterklasse in der SPD nach wie vor ein kleines Stück Interessenvertretung gegenüber den schon immer bürgerlichen Parteien sahen, betonte Trotzki in der Diskussion zum Kampf gegen den Faschismus die Notwendigkeit einer besonderen Taktik gegenüber der bürgerlichen SPD.

Lenin und Trotzki, ebenso wie der Dritte und Vierte Weltkongreß der KI begründeten ihre Einheitsfrontpolitik und ihre Angebote für gemeinsame Aktionen mit der SPD nicht damit, daß sich die SPD auch noch nach 1914 zum sozialistischen Endziel bekannte (sie bekannte sich auch noch in ihrem Görlitzer und danach im Heidelberger Programm von 1926 dazu). Sie begründeten sie im Gegenteil damit, daß deren Bekenntnis, die tagtäglichen Interessen der Lohnabhängigen und sonstigen Werktätigen besser zu vertreten als die bürgerlichen Parteien, ihr gegenüber eine besondere Taktik erzwingt, die Taktik der Einheitsfront. Trotzki betonte erst später, daß diese Taktik angesichts der faschistischen Gefahr große Chancen habe, auch deshalb erfolgreich zu sein, weil der Faschismus sogar die Existenz der sozialdemokratischen Organisationen selbst bedrohte. Diese Taktik hatte daher mit dem politischen Charakter bzw. der “Natur” der Sozialdemokratie (der ist und bleibt strikt bürgerlich) nicht das geringste zu tun. Ausschlaggebend war, daß sich die Sozialdemokratie und die Zentristen immer noch ganz real auf Teile der Arbeiterklasse stützten und vorgaben, deren Interessen zu vertreten.

3. Warum konnte sich die SPD dennoch halten? Trotzkis Analyse

Ihr behauptet, es spreche für ein völliges Unverständnis des Reformismus, wenn man nicht versteht, daß die Führungsrolle des Reformismus als politisch bürgerlicher Strömung der Arbeiterbewegung darauf beruht, daß er seine den Interessen des Proletariats schädliche Rolle nur spielen kann, indem er Reformen durchsetzt, die tatsächlich die Lebensverhältnisse des Proletariats verbessern[5].

Es ist richtig, daß die Sozialdemokratie das Vertrauen der von ihr geführten Teile der Arbeiterklasse ursprünglich erworben hatte, weil sie eng mit dem Kampf für bessere Lebensverhältnisse des Proletariats verbunden war. Sie hat dieses Vertrauen aber weder nach 1914 während des Krieges noch in den zwanziger oder dreißiger Jahren auf einen Schlag aufgebraucht. Selbst in den krisenhaften zwanziger Jahren halfen ihr konjunkturelle Aufschwünge der Wirtschaft, die Massen auf ein besseres Morgen innerhalb des Kapitalismus zu vertrösten. Und selbst als sie mit ihrer Politik die Interessen der Arbeiterklasse offen verriet, verlor sie ihren Masseneinfluß nicht so ohne weiteres.

Würdet Ihr sagen, daß die Verbürgerlichung der Sozialdemokratie es Marxisten erlaubt, den Einfluß der Sozialdemokratie vor allem in Zeiten der kapitalistischen Stagnation und Krise besser zu bekämpfen, hätten wir hier keine Differenz. Dann wäre nämlich der Weg dafür frei, die Krise der sozialdemokratischen Führungsrolle konkret in ihrem realen Verlauf zu analysieren. Stattdessen stellt ihr die apodiktische These auf, daß die Rolle der Sozialdemokratie in der Arbeiterbewegung, ihr Verhältnis zur Arbeiterklasse, “grundsätzlich” an Reformen gebunden ist. Basta. Und wenn sie, wie in den zwanziger Jahren oder in den achtziger Jahren jahrelang keine Reformen mehr durchsetzt oder gar frühere Reformen rückgängig macht? Dann wird sie von Euch nicht mehr als formeller Teil der Arbeiterbewegung anerkannt. Aber was ändert Eure Theorie an den realen klassenpolitischen Verhältnissen in der Arbeiterbewegung? Schlicht nichts. Das einzige, was sich ändert, ist Eure eigene politische Taktik. Diese abstrakte und bloß begriffsanalytische Herangehensweise leidet aber daran, daß sie gezwungen ist, der Sozialdemokratie einen Kampf für Reformen auch in Zeiten zu bescheinigen, in denen es diese Art Reformismus praktisch nicht gegeben hat. Wir halten das für gefährlich, weil diese Haltung die revolutionäre kommunistische Basis empfänglich für die Anpassung an neuentstehende linkssozialdemokratische Strömungen machen könnte.

Trotzki hatte für die Aufrechterhaltung des sozialdemokratischen Einflusses bis 1933 eine ganz andere Erklärung als die, daß die SPD sich durch Reformen gegen kommunistische Kritik immun gemacht hatte. Er wollte eine Taktik, die Antworten auf jede Variante sozialdemokratischer Politik parat hatte und warnte vor jedem Schematismus. Er war dementsprechend der Ansicht, daß revolutionäre Kommunisten die Pflicht haben, sich durch eine flexible Taktik, die der Einheitsfront, in die Krise der sozialdemokratischen Führungsrolle einzumischen. Lassen wir Trotzki selbst zu Wort kommen. Gegen den taktischen Schematismus, der wegen der offen reaktionären Politik der Sozialdemokratie mit diesen Reformisten keinerlei Absprachen mehr für zulässig hielt, schrieb er:

Die Wirkung der Radikalisierung der Massen auf die Reformisten ähnelt ganz und gar der Wirkung, die die Entwicklung der bürgerlichen Revolution auf die Liberalen hatte. In den ersten Etappen der Massenbewegung gehen die Reformisten nach links, weil sie hoffen, auf diese Weise die Führung zu behalten. Geht die Bewegung aber über den Rahmen von Reformen hinaus und fordert sie von den Führern den direkten Bruch mit der Bourgeoisie, dann ändern die Reformisten in ihrer Mehrheit abrupt den Ton und verwandeln sich aus ängstlichen Mitläufern der Masse in Streikbrecher, Feinde und offene Verräter. Ein gewisser Teil der Reformisten, durchaus nicht nur die besten Elemente, wird dabei ins Lager der Revolution gestoßen. Eine episodische Abmachung mit den Reformisten -in dem Augenblick, in dem sie sich unter dem Druck der Gesamtsituation gezwungen sehen, einen Schritt oder einen halben Schritt nach vorn zu machen, kann unvermeidlich sein. Das setzt aber voraus, daß die Kommunisten bereit sind, in dem Augenblick unerbittlich mit den Reformisten zu brechen, in dem diese einen Sprung zurück machen. Die Reformisten sind nicht deshalb Verräter, weil sie in jedem Augenblick und mit jeder ihrer Handlung direkte Aufträge der Bourgeoisie erfüllen. Wäre dem so, dann hätten die Reformisten keinerlei Einfluß auf die Arbeiter und die Bourgeoisie brauchte sie nicht. Gerade um für den Verrat an den Arbeitern im entscheidenden Augenblick die nötige Autorität zu haben, sind die Opportunisten gezwungen, in der Zeit davor die Führung des Kampfes der Arbeiter zu übernehmen. Und das gilt besonders für den Beginn eines Prozesses der Radikalisierung der Massen. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit der Einheitsfront-Taktik, bei der wir, um die Massen in größerem Umfang zusammenzuschließen, zu praktischen Absprachen mit ihren reformistischen Führern gezwungen sind.

Man muß die historische Funktion der Sozialdemokratie im Ganzen sehen, will man sie Schritt für Schritt aus all’ ihren Positionen verdrängen. Von einem solchen Verständnis kann bei der gegenwärtigen Führung keine Rede sein. Sie kennt nur zwei Methoden: Entweder trabt sie, im Stil der Brandlerianer, hinter der Sozialdemokratie her (1926-1928), oder sie identifiziert die Sozialdemokratie mit dem Faschismus und ersetzt die revolutionäre Politik durch kraftloses Geschimpfe. Das Resultat dieses Hin und her in den vergangenen sechs Jahren ist die Stärkung der Sozialdemokratie und die Schwächung des Kommunismus. Die mechanistischen Direktiven des 10. Plenums können die ohnehin verfahrene Situation nur noch verschlimmern.

Nur ein hoffnungsloser Einfaltspinsel kann sich die Dinge so vorstellen, daß sich dank der wunderwirkenden Kraft der »dritten Periode« die Arbeiterklasse insgesamt von der Sozialdemokratie abwendet und die gesamte reformistische Bürokratie ins Lager des Faschismus stößt. Nein, der Prozeß wird komplizierter und widersprüchlicher verlaufen. Die wachsende Unzufriedenheit mit der sozialdemokratischen Regierung in Deutschland und den Labour-Leuten in England, der Übergang von vereinzelten und verstreuten Streiks zu einer Massenbewegung u.s.w. wird (wenn all’ das tatsächlich eintritt) zur unvermeidlichen Folge haben -und alle Molotows sollten sich das hinter die Ohren schreiben! -, daß sehr große Teile des reformistischen Lagers nach links gehen, ähnlich wie die inneren Prozesse In der UdSSR zu einer Linkswende des zentristischen Lagers geführt haben. dem Molotow selbst angehört.

Die Sozialdemokraten und die Amsterdamer werden, mit Ausnahme der bewußtesten Elemente des rechten Flügels (vom Typus Thomas, Hermann Müller, Renaudel, Jouhaux u.a.), wenn die entsprechenden Umstände gegeben sInd, gezwungen .sein: im Aufbruch der Massen die Führung zu; übernehmen - selbstverständlich zu. dem Zweck, die Bewegung in Schranken zu halten oder den Arbeitern In den Rücken zu fallen, falls sie eine gewisse Schwelle überschreiten. Obgleich wir das von vornherein wissen und die Avantgarde offen davor warnen, wird es in Zukunft noch zehn, hundert, tausend Gelegenheiten geben, bei denen Kommunisten auf praktische Absprachen mit den Reformisten nicht nur nicht verzichten können, sondern selbst die Initiative dazu ergreifen müssen, um, ohne die Führung aus der Hand zu geben, mit den Reformisten in dem Augenblick zu brechen, in dem sie sich aus schwankenden Bundesgenossen in offene Verräter verwandeln. Diese Politik ist vor allem gegenüber der linken Sozialdemokratie unvermeidlich, die bei einer wirklichen Radikalisierung der Massen gezwungen ist, dem rechten Flügel entschlossener entgegenzutreten - bis zu einer Spaltung. Diese Perspektive widerspricht nicht im geringsten Tatsache, daß die Spitze der linken Sozialdemokratie meist aus den verderbtesten und gefährlichsten Agenten der Bourgeoisie besteht.

Wie kann man auf praktische Absprachen mit den Reformisten verzichten, wenn diese zum Beispiel Streiks führen? Wenn solche Fälle zur Zeit selten sind, dann deshalb, weil die Streikbewegung selbst noch sehr schwach ist und die Reformisten sie ignorieren und sabotieren können. Werden aber große Massen in den Kampf einbezogen, dann sind Absprachen für beide Seiten unausweichlich. Ebensowenig darf man sich im Kampf gegen den Faschismus den Weg zu praktischen Abmachungen mit Reformisten versperren -nicht nur mit der sozialdemokratischen Masse, sondern in vielen Fällen auch mit ihren Führern, höchstwahrscheinlich einem Teil dieser Führer. Das kann nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland bald schon erforderlich sein. Die Direktive des Plenums entspringt einfach der Psychologie zu Tode erschrockener Opportunisten. Die Stalins, Molotows und sonstigen gestrigen Bundesgenossen von °Tschiang Kaischek, Wang Jingwei, Purcell, Cook, Fimmen, LaFollette, Radic werden natürlich darüber zetern, daß die Linke Opposition für einen Block mit der Zweiten Internationale eintritt. Ihr Geschrei wird sie nicht hindern, sofort eine Vierte Periode oder das zweite Stadium der Dritten zu proklamieren, sobald eine wirkliche Linkswende der Arbeiterklasse die Bürokraten neuerlich überrumpelt; und alle Molotows werden dann mindestens »mit beiden Füßen« in eine Epoche der opportunistischen Experimente nach Art des Anglo-Russischen Komitees und der Arbeiter- und Bauern-Guomindang eintreten.”[6]

Diese Ausführungen Trotzkis verweisen auf eine weitere methodische Schwäche Eurer ontologisch geprägten Argumentation: Anstatt die konkrete sozialdemokratische bzw. reformistische Politik im Zusammenhang mit der tatsächlichen kapitalistischen Entwicklung, den sich entwickelnden Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen und den Verteilungsspielräumen der Bourgeoisie zu stellen, fixiert Ihr Euren Blickwinkel auf die “Natur” bzw. das “Wesen” der Sozialdemokratie und leitet daraus in abstrakter Weise Eure Taktik ab. Diese wird dabei zur fest betonierten Einbahnstraße, d.h. es gibt keinen Weg zurück. Trotzki erklärt demgegenüber, daß auch bei den schlimmsten Sozialverrätern künftige (begrenzte) Linksschwenks nicht ausgeschlossen werden können — ohne daß diese Führer deshalb aufhören, Verräter zu sein. Er schließt daraus, daß Revolutionäre nicht auf das reichhaltige Arsenal der Einheitsfrontpolitik verzichten können.

Hierfür zwei Beispiele: Die französische Sozialdemokratie hatte sich während der Vierten Republik mit ihrer kapitalistischen Politik sehr weitgehend entzaubert und fragmentiert. Dennoch gelang ihr unter Mitterrand in den siebziger Jahren ein Wiederaufstieg. Es gelang ihr, die Radikalisierung der späten sechziger und der siebziger Jahre mit Hilfe von Reformversprechen und Einheitsillusionen zu kanalisieren und die KPF zu überflügeln. Als Mitterrand und die Union de la Gauche Anfang der achtziger Jahre die Präsidentenwahl gewann, tanzten die Massen auf den Straßen. Die ersten Reformen seiner Regierung stießen sofort auf den Widerstand der Bourgeoisie, die angesichts der ökonomischen Stagnation keinen Raum für Konzessionen an die Arbeiterklasse mehr sah. Mitterrand, die Sozialdemokratie und die Stalinisten kapitulierten umgehend. Mit einem gewandelten Charakter des Reformismus hatte das nichts zu tun. Nichts anderes war zu erwarten gewesen. Dennoch war besonders der Lambertismus darauf nicht vorbereitet, sondern geriet seinerseits in die Krise, was seiner zuvor verfolgten Politik ein schlechtes Zeugnis ausstellt.

In Deutschland, wo die SPD bereits 1959 in ihrem Godesberger Programm sowohl dem Sozialismus endgültig abschwor als auch die Existenz der Arbeiterklasse leugnete und sich zu einer “Volkspartei” erklärte, also nach Euren heutigen Kriterien längst keine bürgerliche Arbeiterpartei mehr war, strafte sie Eure Theorie Lügen. Auch hier reagierte sie ungeachtet ihrer von Euch attestierten “Natur” auf den Radikalisierungsprozeß, der Mitte der sechziger Jahre einsetzte. Sie gewann 1969 mit Hilfe von Reformversprechen (“mehr Demokratie wagen”, akzentuierter “Friedens- bzw. Entspannungspolitik”, Rentenreform, Reform des Bildungssystems etc.) die Wahlen. Auch diese Reformpolitik stieß sehr bald auf den energischen Widerstand der Bourgeoisie. 1973 kapitulierte die SPD. Willy Brandt mußte als Bundeskanzler gehen, Helmut Schmidt betrieb dann die Geschäfte des Kapitals. Es begann in der BRD die Periode der Konterreformen. Die SPD begann zu kriseln. Schließlich, nachdem die extreme Linke der siebziger Jahre im sektiererischen Sumpf stecken blieb, entstanden “Die Grünen” — damals als linke Alternative zur SPD. Für das Kapital hatte die Regierung Helmut Schmidt 1982 ihre Aufgabe erledigt. Es folgte Helmut Kohl, der die damalige SPD-Politik bruchlos fortsetzte.

Die SPD brauchte 16 Jahre, bis sie mit Hilfe seichtester Reformversprechen 1998 wieder den Bundeskanzler stellen konnte. Nach sechs Wochen, in denen sie sanfte Reförmchen angekündigt hatte, kapitulierte die SPD vor dem verbalen Widerstand des deutschen Kapitals. Oskar Lafontaine ging, Schröder knüpfte nahtlos an die Politik Kohls an. Alles wie zuvor gehabt.

Angemerkt sei noch, daß die SPD hier seit einigen Monaten versucht, ihren weiteren Niedergangsprozeß aufzuhalten, indem sie die Einführung eines Mindestlohnes fordert, was hier angesichts des rasanten Verarmungsprozesses in der deutschen Arbeiterklasse ein wichtiges Thema ist. Sollte eine revolutionäre Organisation, die über ein Mindestmaß an Einfluß verfügt, dies taktisch berücksichtigen oder nicht? Die Frage stellen, heißt, sie zu beantworten.[7]

4. Links oder Rechts? Ist diese Unterscheidung heute überholt?

Uns ist aufgefallen, daß Ihr häufig — ähnlich wie die Groupe Bolchevik — mit Vehemenz bestreitet, daß es zwischen “links” und “rechts” noch einen politisch relevanten Unterschied gibt. Ihr verweist dazu auf die offenkundige Tatsache, daß es zwischen der Praxis der Regierungen der PS und der UMP (der Partei Chiracs und Sarkozys) keinen nennenswerten Unterschied gibt. Diese Aussage ist nicht falsch. Aber damit ist auf taktischer Ebene beileibe noch nicht alles gesagt.

Seit dem Fall der Arbeiterstaaten (seien sie nun bürokratisch degeneriert oder von Anfang an deformiert gewesen) führt die imperialistische Bourgeoisie eine ideologische Offensive. Sie behauptet nicht nur, daß der Kommunismus “tot” ist, sondern im Zusammenhang damit auch, daß es keine Klassen mehr gibt, daß nur noch diffuse und nichtantagonistische gesellschaftliche Gruppen existieren, daß Unterscheidungen wie die zwischen “rechts” und “links” überholt sind. Wenn diese Unterscheidungen dennoch weltweit ein zähes Leben haben, so zeigt das an, daß an ihnen dennoch etwas mehr dran ist als die bürgerliche Propaganda glauben machen will.

Die bürgerliche Propaganda findet sich in nicht unerheblichem Maße auch in den neueren Theorien der verräterischen Führungen der Arbeiterbewegung, die darum bemüht sind, jedem populären ideologischen Ausdruck des Klassengegensatzes den Garaus zu machen. Auch, wenn gegen diese Termini zu recht eingewandt werden kann, daß sie nicht präzise genug sind, so darf man nicht übersehen, daß die gegen sie gerichteten Angriffe der bürgerlichen Ideologen doch ein Widerschein des grundlegenden Klassengegensatzes zwischen Bourgeoisie und Proletariat sind.

Die aktuellen Führungen der Arbeiterbewegung wiederholen ständig diese Litanei. In Deutschland ist “Die Linke” dabei am eifrigsten. Das ist ihr Beitrag zum Kampf gegen die Entwicklung von Klassenbewußtsein. Sie wollen jede Spur von Klassenbewußtsein auslöschen, dieses noch unter das jetzige Niveau drücken, Konfusion, Desorientierung und Demoralisierung verbreiten. Jedes Individuum soll vereinzelt werden, sich angesichts der bürgerlichen Offensive ohnmächtig fühlen und sich den Verhältnissen, die es allein nicht ändern kann, kampflos unterwerfen.

Es kommt nicht von ungefähr, daß diese ideologische Offensive hand in Hand mit den unaufhörlichen Angriffen gegen früher erreichte soziale Errungenschaften geht. Wenn es nicht mehr um “links” oder “rechts” geht, kann jeder Akteur auf der politischen Bühne so tun als ob es nur noch um das Gemeinwohl geht, zu dem im Namen der Nation, des Ganzen etc. jeder seinen Beitrag zu leisten hat.

Wir revolutionären Marxisten sollten dieser bürgerlichen Offensive auf diesem ideologischen Terrain nicht in die Hände spielen. Natürlich muß die reaktionäre Politik der Sozialdemokratie offensiv denunziert werden. Das darf jedoch nicht ausschließen, daß Marxisten jeden kleinen Linksschwenk, jede Konzession der Sozialdemokraten an die Interessen und Stimmungen der Massen im Rahmen unserer Möglichkeiten taktisch aufzugreifen. Dazu gehört auch, in jeder Frage jede Gelegenheit zu nutzen, den Klassengegensatz bewußt zu machen, ihn zu vertiefen und auch, in jedem Lohnabhängigen einen Klassenstolz zu fördern.

5. Weitere Gedanken zur Rezeptionsgeschichte der Einheitsfrontpolitik in der trotzkistischen Bewegung: Entrismus und Anpassung an den Reformismus

a) Scheitern der Komintern und Krise der Einheitsfrontpolitik

Das Scheitern der Komintern als revolutionärer Organisation des Weltproletariats bewirkte auch eine Vertiefung der Krise kommunistischer Taktik gegenüber dem Reformismus. Einheitsfrontpolitik gegenüber der Sozialdemokratie setzt in entfalteter Form wenigstens die Existenz einer signifikanten revolutionären Minderheitsströmung im Proletariat voraus.

Nachdem die Kommunistische Internationale zum willfährigen Instrument der sowjetischen Bürokratie geworden war, gingen ihre Sektionen bald nach 1933 zur ebenfalls reformistischen Volksfrontpolitik über, verteidigten den Status quo und im Interesse dieser Politik in aller Regel die bürgerliche Ordnung, wenngleich meist ohne direkte Bindung an die eigene Bourgeoisie. Mit der Volksfrontpolitik brach die Komintern endgültig mit dem Anspruch, die Einheit der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie zu organisieren. Stattdessen wurde im Namen des Antifaschismus oder der antimonopolistischen Demokratie die Einheit mit Teilen der Bourgeoisie gepredigt. Die strikte Unterordnung der Politik der Kommunistischen Parteien unter die Bedürfnisse der sowjetischen Außenpolitik und ihre Bürokratisierung sorgte dafür, daß sich neue Radikalisierungsprozesse in einer Reihe von Ländern nicht mehr in einem Wachstum der stalinisierten Kommunistischen Parteien ausdrückten, sondern in der Neuentstehung linkssozialdemokratischer und zentristischer Strömungen in den sozialdemokratischen Parteien.

b) Die Marginalisierung der revolutionären Marxisten

Die marginalisierte Position der revolutionären Kaderkerne der sich neuformierenden trotzkistischen Bewegung erzwang unter diesen Umständen nicht nur die Suche nach neuen Ansätzen für die Politik der Arbeitereinheitsfront, sondern fokussierte das Interesse revolutionärer Politik auf die Beeinflussung der Radikalisierungsprozesse innerhalb der reformistischen Parteien. So richtig und notwendig dies war, begünstigte diese Politik zugleich auch zentristische und opportunistische Abweichungen bei der Anwendung der Grundsätze der Einheitsfrontpolitik: Wer Entrismus in einer reformistischen Partei macht, muß dort seine strategische Orientierung notwendig auf dem organisatorischen Boden der reformistischen Partei formulieren.

Die damit zwangsläufig verbundene Aufgabe eines Teils der organisatorischen Unabhängigkeit gefährdete zwangsläufig auch die politische Unabhängigkeit der kleinen entristischen Gruppen. Das war ein Risiko, das sie umständehalber eingehen mußten, wenn sie schnell wachsen wollten. Je länger deren Parteiaufbaumanöver dauerten, desto mehr tendierten aber manche unter ihnen dazu, ihre Anpassung an zentristische Kräfte[8] in den reformistischen Parteien dadurch zu theoretisieren, daß sie diesen einen “Doppelcharakter” zubilligten — sowohl bürgerlich als auch proletarisch. Ein solches Konzept war eindeutig revisionistisch. Es fußt theoretisch auf einem vulgär-dialektischen Mißverständnis des Begriffs “bürgerliche” bzw. “reformistische Arbeiterpartei”.

Zu den vielen Mißverständnissen und Mythen, die in der trotzkistischen Bewegung gepflegt werden, gehört, daß Trotzki wegen dieses angeblichen Doppelcharakters des Reformismus den Entrismus in diesen Parteien für möglich gehalten hat. Dem ist nicht so. In seinem Brief an das Internationale Sekretariat vom 10.06.1935 schrieb er:

“Die SFIO ist nicht nur keine revolutionäre Partei; sie ist nicht einmal eine proletarische Partei. Sie ist kleinbürgerlich, und zwar nicht nur im Hinblick auf ihre Politik sondern auch bezüglich ihrer sozialen Zusammensetzung. Diese Partei bot uns einige Möglichkeiten und es war richtig, die erkannt und ausgenutzt zu haben. Aber diese Möglichkeiten sind begrenzt. (…) Aber die Arbeiter befinden sich in erster Linie außerhalb der SP in der KP, den Gewerkschaftsorgani-sationen oder sie sind unorganisiert.”

Selbstredend ist Trotzkis Auffassung, daß es dennoch möglich und in bestimmten historischen Situationen notwendig war, in und mit dieser Partei zu arbeiten, mit ihr gegebenenfalls Bündnisse, Einheitsfronten etc zu schließen, schwerlich mit Euren “Kriterien” zur Bestimmung der Natur dieser Parteien zu vereinbaren, mit denen ihr das vollständig bürgerliche Wesen der SP belegt, um gerade diese Taktiken ein für alle mal auszuschließen.

Allerdings war sich Trotzki auch der Gefahren dieser taktischen Wendungen bewußt. Er zog daraus den Schluß, der Begrenztheit der durch diese Politik eröffneten Möglichkeiten Rechnung zu tragen und betonte die Notwendigkeit, diese Manöver zu beenden, sobald diese Möglichkeiten ausgeschöpft waren.

c) Führungskrise der trotzkistischen Bewegung nach dem Weltkrieg

Nach dem 2. Weltkrieg begünstigte die Führungskrise der trotzkistischen Weltbewegung im Zuge des Kalten Krieges nicht nur die Anpassung an Titoismus, Maoismus und sowjetischen Stalinismus , sondern - vor allem in der Phase des imperialistischen Booms - auch die Anpassung an die Sozialdemokratie. Auf der Strecke blieb die wichtigste Komponente der Einheitsfrontpolitik, die Wahrung der politischen Unabhängigkeit der Revolutionäre.

d) Pablos Zentrismus in der Frage der Arbeiter- und Bauernregierung 1946

Symptomatisch und womöglich bahnbrechend hierfür ist der Artikel Michel Pablos aus dem Jahre 1946 über die Übergangslosung der Arbeiter- und Bauernregierung, der dieser Anpassung wohl maßgeblich den Weg bereitete: Pablo ging in seinem Artikel davon aus, daß diese Losung als Übergangsforderung überall dort konkretisiert werden muß, wo die Revolutionäre noch schwach sind und die Lage dadurch charakterisiert ist, daß die Massen noch ihren traditionellen Führungen folgen. Dort sei die Losung z.B. im Sinne einer Aufforderung an KP und SP sowie CGT zu verwenden, mit der Bourgeoisie zu brechen und sich, gestützt auf die Arbeitermassen, an die Durchsetzung von Arbeiterinteressen zu machen. Die revolutionären Kader hätten dabei ein revolutionäres Übergangsprogramm zu propagieren, das diese Interessen zum Ausdruck bringt:

“Wir sagen: ‚Eine echte Arbeiterregierung, die tatsächlich mit der Bourgeoisie gebrochen hat, wird beginnen, dieses Programm in die Tat umzusetzen’; und wir werden unermüdlich Propaganda um die Übergangsforderungen machen, die dieses Programm bilden und die für die Massen allein konkretisieren können, was es tatsächlich heißt, mit der Bourgeoisie zu brechen. (…) Die Forderung, die an die traditionellen Parteien gerichtet wird: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, übernehmt die Macht’, sollte nicht nur von der Propaganda um Übergangsforderungen begleitet werden, die das Programm einer ‚Arbeiterregierung’ bilden, sondern auch von einer Propaganda entsprechend dem folgenden Gedanken: Eine Regierung dieser Art ist nur möglich, wenn der Rahmen der bürgerlichen Demokratie überschritten wird, die Massen zur revolutionären Aktion zusammengefaßt werden, daß diese in Organisationen zusammengefaßt werden, die die Anwendung des Klassenprogramms möglich machen (…) Es ist nicht ausgeschlossen, daß eine ‚Arbeiterregierung’ unter außergewöhnlichen Bedingungen auftauchen kann, die aus parlamentarischen Kombinationen hervorgeht….”[9]

Trotz aller Einschränkungen und Konzessionen, die von Pablo an die kommunistische Orthodoxie nebenher gemacht werden, führt kein Weg an der Feststellung vorbei, daß Pablo hier die Position vertritt, daß es für die kleinen revolutionären Organisationen gelte, durch die Propaganda Druck auf die traditionellen Führungen zu mobilisieren, damit diese wiederum mit der Bourgeoisie und ihren politischen Forderungen brechen.

Das geht schon an sich in Richtung Reformierung der traditionellen Führungen und damit in Richtung Liquidation des Konzepts des Neuaufbaus einer revolutionären Weltpartei. Es fehlt das Wesentliche, nämlich die offen ausgesprochene Kritik an diesen Führungen, daß diese nicht mit der Bourgeoisie brechen wollen, daß sie die Mobilisierung der Massen für revolutionäre Ziele grundsätzlich sabotieren, daß sie sich in aller Regel nur deshalb an die Spitze von punktuellen Massenmobilisierungen stellen, um diese um so besser abwürgen zu können und daß deshalb der Aufbau revolutionärer kommunistischer Parteien letztlich die Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen proletarischen Kampf ist.

Trotzki betont deshalb im Übergangsprogramm:

“Die Hauptanklage, welche die IV. Internationale gegen die traditionellen Organisationen des Proletariats erhebt, besteht darin, daß sie sich nicht von dem politischen Halbkadaver der Bourgeoisie trennen wollen.”[10]

Die Position Pablos, die für fast die gesamte trotzkistische Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg prägend werden sollte, hätte also mit Sicherheit nicht den Beifall Trotzkis gefunden:

“Druck von außen kann eine Partei zu einem Schritt anspornen, den sie aus eigener Initiative nicht tun würde; aber er ist nicht imstande, eine Partei, die sich unmittelbar auf nicht-revolutionäre und antirevolutionäre Elemente stützt, revolutionären Charakter zu verleihen. (…) Wir müssen ihnen helfen, endgültig sich zu kompromittieren gegenüber jenen Schichten, die das Medium zwischen den Kadetten und den Volksmassen bilden.[11] (…)

Im Gegensatz zur Linie Trotzkis wurden von Pablo faktisch Illusionen in die Reformierbarkeit des Reformismus selbst geschürt. Das Konzept einer revolutionären Einheitsfront wird so verballhornt zu zentristischer Illusionsmacherei. Der Wunsch nach Einheit wird dazu mißbraucht, den Massen zu suggerieren, sie könnten, wenn sie ihre Führer nur genügend unter Druck setzen, diese zu Revolutionären machen. Das war schon 1946 eine Totalrevision nicht nur der Einheitsfrontpolitik sondern der marxistischen Analyse des Reformismus — im Namen einer nicht-sektiererischen Herangehensweise an den Reformismus; denn bei ungünstigem Kräfteverhältnis zwischen (marginalen) Revolutionären und übermächtigen Reformisten gibt es keine Aussicht auf eine echte Arbeiterregierung. Das Konzept kann dann auch nicht sinnvoll konkretisiert werden.

e) 1. Exkurs: Zum belgischen Generalstreik 1960/61 und zur Politik Ernest Mandels

1952/53, in der Zeit nach dem Dritten Weltkongreß der Vierten Internationale, entschloß sich diese bekanntlich zu einem Entrismus sui generis (d.h. einer eigener Art). Es handelte sich um einen tiefen und auf Dauer angelegten Entrismus. Die Mitglieder wurden von ihrer eigenen Führung sogar “ermuntert”, ihrer trotzkistischen Vergangenheit offiziell abzuschwören, wenn sich diese als ein Hindernis für den Eintritt in stalinistische Parteien erwies. Die durch die brutale Repression der deutschen Besatzungsmacht während des Krieges politisch und numerisch geschwächte belgische Sektion stürzte sich unter der Führung von Ernest Mandel mit Leib und Seele in die belgische Sozialistische Partei, die die belgische Arbeiterbewegung dominierte. Die Kommunistische Partei Belgiens, die Dank ihrer Rolle im Widerstand zu einer großen Partei geworden war, hatte für ihre Teilnahme an den Regierungen des “nationalen Wiederaufbaus” in der Nachkriegszeit bereits einen hohen Preis zahlen müssen. Sie war wieder so klein wie in der Vorkriegszeit.

Der Streik der Bergarbeiter in der Borinage Anfang 1959 war für die entristische Gruppe Mandels der erste große Test. Damals traten bereits der Opportunismus und der Mangel an politischem Mut deutlich zu Tage, der diese politische Strömung kennzeichnet. Diese Charakterzüge sollten in der Folgezeit noch deutlicher hervortreten und eine verheerende Rolle im historischen Generalstreik des Winters 1960-1961 spielen (der Generalstreik begann am 20.12.1960 und sollte bis zum 21.01.1961 dauern).

Mandel war die unbestrittene politische Führungsfigur der Zeitung “La Gauche” (“Die Linke”), die er 1956 gegründet hatte. Ihr Pendant in niederländischer Sprache, “Links”, gegründet 1958, spielte vergleichsweise eine deutlich geringere Rolle. Seine Strömung übte auch in der Jugendorganisation der Sozialdemokratie, der Jeune Garde Socialiste/ Socialistische Jonge Wacht (JGS/SJW) einen starken Einfluß aus.

Aus historischen Gründen hatte die Arbeiterbewegung in Belgien im französischsprachigen Teil des Landes, in Wallonien, bis Ende der sechziger Jahre ein viel größeres Gewicht als in Flandern, wo neben einigen Industriestädten ein starker landwirtschaftlicher Sektor erhalten geblieben war.

1960 mußte sich die belgische Bourgeoisie gleichzeitig mit den Problemen auseinandersetzen, die die Unabhängigkeit des Kongo mit sich brachte wie mit ihrer stagnierenden Konkurrenzfähigkeit auf dem europäischen Markt. Sie entschloß sich dazu, die belgische Wirtschaft auf dem Rücken der Arbeiter zu redynamisieren. Die Regierung brachte einen Gesetzentwurf ins Parlament ein, der in die Sozialgeschichte des Landes als “Sondergesetz” eingehen sollte. Um dieses Projekt durchzusetzen, zählte die Bourgeoisie auf die Komplizenschaft der bürokratischen Apparate der Arbeiterbewegung. Sie hatte ihre Rechnung jedoch ohne die spontane Kampfbereitschaft der Arbeiter und Arbeiterinnen gemacht, die in dieser Hinsicht auf eine lange Reihe von Erfahrungen zurückblickte.

Fünf Tage vor Weihnachten 1960, das war nicht gerade die übliche Zeit, einen Generalstreik zu beginnen, verließen die Arbeiterinnen und Arbeiter Lüttichs ihre Betriebe. Dabei gab es keine zentrale Führung oder verabredete Losung. Ihnen folgte kurz darauf der Rest der Arbeiterklasse in Wallonien und in den großen Industriezentren Flanderns. Das Land war vollständig paralysiert. Die Regierung entschloß sich, die in Westdeutschland stationierten Truppen zu Hilfe zu rufen, damit diese gemeinsam mit der Gendarmerie die bürgerliche Ordnung aufrechterhalten sollten.

In Massendemonstration wurde schlicht und ergreifend die Rücknahme des “Sondergesetzes” und der Rücktritt der damaligen Regierung Eyskens gefordert. Neben den Appellen zum Generalstreik wurde von Tag zu Tag der Ruf nach einem “Marsch auf Brüssel” immer lauter. Er wurde zur zweiten zentralen Achse der Bewegung. In der Geschichte der belgischen Arbeiterbewegung war die Losung “Marsch auf Brüssel” nicht einfach als ein Sonntagsspaziergang oder als schlichte Demonstration in der Hauptstadt gemeint. Mit ihr hatte die im Kampf befindliche Arbeiterklasse immer ihre Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, in der Hauptstadt ihre Kräfte mit denen der Bourgeoisie und ihrem Staat zu messen. Der Ruf bringt den Wunsch der Arbeiterklasse zum Ausdruck, die Geschäfte des Landes in die eigenen Hände zu nehmen. Mit anderen Worten: Die Losung hat einen Inhalt, der die Bereitschaft der Arbeiterklasse anzeigt, den Kampf um die Macht aufzunehmen.

Am 24. Dezember 1960 schlugen Mandel und La Gauche das folgende Programm für den Streik vor:

“Die Arbeiter weigern sich, anstelle der Steuerbetrüger Steuern zu zahlen. Alle in den Streik, in allen Branchen und allen Regionen, bis zur Rücknahme des kapitalistischen “Sondergesetzes”. Stattdessen müssen die Arbeiter sozialistische Lösungen erzwingen: Senkung der Rüstungsausgaben um 10 Milliarden Franken; holt Euch die zehn Milliarden hinterzogenen Steuern durch eine sofortige radikale Steuerreform; Kontrolle aller Holdings; nationaler Gesundheitsdienst: Kostenfreie medizinische Behandlung und Medikamente; Verstaatlichung des Energiesektors; Wirtschaftsplanung zur Sicherung der Vollbeschäftigung; Schaffung einer rein öffentlichen, nationalen Investitionsgesellschaft mit einem Sofortinvestitionsfonds von fünf Milliarden Franken.” Dieses Programm wird von keinem Vorschlag begleitet, wie und mit welchen Mitteln es verwirklicht werden kann. Wie jeder Leser ohne weiteres feststellen kann, handelt es sich nicht um ein sozialistisches Programm.”

Tatsächlich sind alle diese Forderungen durchaus kompatibel mit der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems. Anderswo hatten einige europäische Länder mehrere dieser Maßnahmen schon einmal realisiert (England, Schweden etc.) Im Gegensatz zu den Behauptungen Mandels handelte es sich auch keineswegs um ein System von Übergangsforderungen, sondern um das Programm des Allgemeinen Belgischen Arbeiterverbandes (FGTB/ABVV), das 1946, gleich nach dem 2. Weltkrieg, von dieser sozialistischen Gewerkschaft beschlossen und auf deren beiden außerordentlichen Gewerkschaftskongressen von 1954 und 1956 bestätigt worden war.

Man erinnere sich: Nach den bis dahin ungekannten Greueln des Weltkrieges hielten es die offiziellen Organisationen der Arbeiterbewegung fast alle für nötig, zur Rettung der kapitalistischen Herrschaft in Worten und auf dem Papier die Notwendigkeit des Sozialismus anzuerkennen und gewisse Kapitalisten, die sich durch die Kollaboration mit den Deutschen völlig diskreditiert hatten zu enteignen. Die Praxis sah natürlich anders aus. André Renard und seine Strömung, die ihre ersten Schritte unter dem Besatzungsregime der Nazis gemacht hatten, mußten dann feststellen, daß die Sozialdemokratie, als sich der Kapitalismus erst einmal wieder gefestigt hatte, unaufhörlich nach rechts abdriftete. Als Reaktion darauf griffen sie die alten FGTB-Ziele wieder auf und machten sie zum Vehikel ihres Kampfes gegen den rechten Flügel der Sozialdemokratie (man vergleiche hierzu die Broschüre “Vers le socialisme par l’action” (Durch Aktion zum Sozialismus), die 1958 erschien und größtenteils von Ernest Mandel verfaßt wurde).

Jede Massenbewegung, sei sie nun spontan oder nicht, benötigt eine entschlossene politische Führung und klare und korrekte politische Perspektiven. Das Bedürfnis danach wächst in dem Maße, wie sich die Massenbewegung ausbreitet und vertieft. Die Rolle der Revolutionäre ist unter anderen die, Ziele anzubieten, die über die taktischen Erwägungen des Augenblicks hinausweisen und nicht die, sich nur über das hohe Maß an Spontaneität zu freuen, das die Arbeiterinnen und Arbeiter an den Tag legen. Es kommt entscheidend darauf an, alles zu zun, um das Bewußtseinsniveau der Klasse zu heben und so die Grundlage für die Schaffung einer neuen Führung der Arbeiterbewegung zu legen. Jede Massenbewegung stößt unweigerlich auf das Problem der Krise der historischen Führung der Arbeiterbewegung. Der einzige Weg diese Probleme positiv zu lösen, besteht darin, ein Programm von Übergangsforderungen vorzuschlagen, das es der Arbeiterklasse ermöglicht klar die Machtfrage aufzuwerfen. Man kann Revolutionären nicht vorwerfen, es nicht geschafft zu haben, diese Aufgabe vollständig zu verwirklichen. Was man aber zum Vorwurf machen kann, ist, wenn nicht alles ihr Mögliche getan wird, dieses Ziel zu erreichen.

Diejenigen Bürokraten, die, wie André Renard, das Vertrauen der Arbeiter noch nicht verloren hatten, taten alles, um die Bewegung zu kanalisieren, ihr revolutionäres Potential zu ersticken, den Rückzug vorzubereiten, um schnell wieder zur Alltagsroutine der Bürokraten zurückkehren zu können. Sie handelte so nicht deshalb, weil sie böswillig waren, sondern weil es ihnen über die Tagesinteressen hinaus an jeglicher politischer Vision mangelte.

1960/1961 befand sich die entristische Gruppe um Mandel in einer ausgezeichneten Position, um zumindest teilweise das Problem des Aufbaus einer alternativen Führung zu lösen. Leider war sie der Aufgabe nicht gewachsen und verpaßte diese Gelegenheit.

Aus der Sicht von La Gauche ging es darum, eine Strömung innerhalb der Sozialdemokratie zu entwickeln und nicht um den Kampf für den Aufbau eines disziplinierten und entschlossenen marxistischen Kerns, der es wagt zum gegebenen Zeitpunkt kühne Initiativen zu ergreifen. Das heißt nicht, daß Mandel nicht auch zum Generalstreik und zum Marsch auf Brüssel aufgerufen hätte.

Nein. Aber im entscheidenden Augenblick hat er vor den Apparaten kapituliert und später hat er versucht die Spuren dieses Versagens zu verwischen. Seine Gruppe hat diese Losungen und andere Forderungen nicht genutzt, um die Bildung von Streikkomitees auf örtlicher, regionaler und nationaler Ebene vorzuschlagen, die eine von den Bürokraten der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie unabhängige Politik hätten verfolgen können. Es wurde kein nationaler Kongreß örtlicher Streikkomitees propagiert. Die Frage einer Arbeiterregierung wurde nicht unablässig aufgeworfen. Nein, Mandel und die Seinen haben es vorgezogen, die Herausbildung einer Basisströmung zu forcieren, deren Aufgabe ihrer Ansicht nach darin bestand, die alten Führer weiter nach links zu drücken. Sie verstanden darunter die Aufgabe, diese zur Übernahme der von La Gauche aufgestellten Forderungen zu bewegen.

Am weitesten sind die Pablo-Mandelianer auf diesem Weg schon VOR dem Streik gegangen. In der Ausgabe der La Gauche vom 17.12.1960 versuchten sie sich an einer (wenn auch falsch formulierten) Übergangsforderung. Sie forderten eine Arbeiterregierung, die sich auf die Gewerkschaften stützen sollte, d.h. auf die sozialistische FGTB und den Christlichen Gewerkschaftsverband CSC/ACV, die beide als Streikbrecher agierten. Diese Arbeiterregierung sollte die folgenden Ziele umsetzen: Aufgabe des Sondergesetzes und die Durchsetzung einer Reihe von Strukturreformen. Für Mandel stand dies nicht im Gegensatz zu einer Regierung, die sich auf eine neue parlamentarische Mehrheit stützen würde. Weil die belgische Sozialdemokratie keine parlamentarische Mehrheit hatte, sollte es genügen,

“daß die christ-demokratischen Abgeordneten (Anm d. Red.: jene, die direkt mit den christlichen Gewerkschaften verbunden sind) auf die Stimme ihrer eigenen Wähler hören, daß sich unter dem Druck des Streiks auf der Grundlage der Ziele ihrer eigenen Mandate eine neue parlamentarische Mehrheit herausbildet…”[12]

Mandel brachte hier ganz eindeutig eine Regierung, die aus einer Massenmobilisierung hervorgeht mit einer Regierung durcheinander, die das Ergebnis einer parlamentarischen Koalition ist.

Seit Anfang Januar schlug Renard vor, alle Werkzeuge fallen zu lassen, d.h. die Hochöfen sich selbst zu überlassen. Mit anderen Worten: Er rief die Arbeiter auf, selbst ihre Arbeitsplätze zu zerstören. Das klingt vielleicht sehr radikal, aber es handelte sich um einen reaktionären Vorschlag. La Gauche hat sich dieser Losung von Renard zu keinem Zeitpunkt widersetzt. Ganz im Gegenteil! Hinzu kommt, daß die Renardisten, die von Mandel weiter als Zentristen bezeichnet wurden, diese Losung zur Speerspitze ihrer Offensive gegen den Marsch auf Brüssel machten. Als dann die Renardisten unter dem Beifall der Stalinisten die Bewegung spalteten, indem sie nationalistische Thesen entwickelten (was nicht nur auf nichts anderes hinauslief als die Forderung nach “Sozialismus” in einem halben Land, sondern auch die flämischen Arbeiter für die Übel des Kapitalismus in Wallonien verantwortlich machte), hatten die Pseudo-Trotzkisten der La Gauche nicht nur immer noch nicht den politischen Mut gefunden, mit den nicht-mandelistischen Redakteuren der La Gauche zu brechen, die die Renardisten unterstützten sondern auch nicht, mit Renard selbst den Bruch zu vollziehen. Das sollte Konsequenzen haben.

Ab der Ausgabe vom 14. Januar 1961 hat La Gauche die Forderung nach einem Marsch auf Brüssel nicht mehr erwähnt. Angesichts der Vorwürfe der konterrevolutionären Apparate, sich unverantwortlich und provokatorisch zu verhalten, antwortete Jacques Yerna, der nicht der Mandel-Gruppe angehörte, im Namen von La Gauche den Kritikern:

“Die Auffassung, die in der “Welt der Arbeit” (Anm. d. Red.: dem Organ des Lütticher Regionalverbands der Sozialistischen Partei Belgiens) und “La Wallonie” (Anm.d.Red.: der Gewerkschaftsseite der FGTB - unter dem Einfluß der Renardisten in dieser Tageszeitung) veröffentlicht wurde, läßt uns nicht gleichgültig. Uns wird vorgeworfen, die Losung des Marschs auf Brüssel ausgegeben zu haben, obwohl die Führer der Bewegung (Anm. d. Red.: gemeint ist die Sozialdemokratie) diese einhellig abgelehnt haben. (…) Da wir heute feststellen, daß die Führer diese Losung nicht aufgenommen haben, stellen wir das in Rechnung. Wir erinnern aber daran, daß uns bei Erscheinen der letzten Ausgabe in der vorigen Woche von dieser Seite noch keinerlei Stellungnahme in dieser Sache bekannt war.” [13]

Nachdem er sich an die Seite von Renard & Co. gestellt hatte, blieb Mandel nichts anderes übrig, als konsequenterweise den renardistischen Führern Flankenschutz von links zu geben, als diese am 21. Januar die letzten Streikenden in Lüttich dazu aufriefen, wieder ihre Arbeit aufzunehmen und dabei versprachen, den Kampf auf anderer Ebene fortzusetzen.

1964 bewies der Apparat der PSB/BSP auf seine Weise seine Dankbarkeit gegenüber La Gauche, indem er deren Mitarbeiter ausschloß. Die flämische Schwesterzeitung “links” und eine Reihe von Leuten im Umfeld der La Gauche wandten sich von Mandel ab und blieben in der Sozialdemokratie, wo sie weiter konstruktive Haus- und Hofopposition spielten.

Wir kommen nicht umhin festzustellen, daß sich weder La Gauche, noch Mandel, noch seine Organisation zu dem Zeitpunkt als mögliche Ersatzführung präsentiert haben, als die Arbeiterklasse eine solche benötigte. Schlimmer, aus Angst vor dem Ausschluß aus der Sozialdemokratie und vor einer Isolierung vom sogenannten linken Flügel des FGTB haben sie dem Druck der Apparate nachgegeben. Das waren die bitteren Früchte des “tiefen Entrismus”.

Wir müssen feststellen, daß Mandel & Co. vor der belgischen Arbeiteröffentlichkeit niemals Lehren aus der Niederlage des Generalstreiks gezogen haben, um es der Arbeiterklasse bzw. wenigstens ihrer Vorhut zu ermöglichen, dieselben Fehler künftig zu vermeiden. Erst recht nicht haben vor dieser ihr eigenes Verhalten kritisch aufgearbeitet.

Wir wollen nichtsdestotrotz nicht verschweigen, daß Mandel es unter seinem Pseudonym Pierre Gousset geschafft hat, sich selbst zu kritisieren. Leider waren diese Perlen seiner Weisheit vor allem an eine ausländische Öffentlichkeit gerichtet, d.h. vor allem an seine französischen Anhänger, die sich angesichts der von Mandel betriebenen Politik natürlich Fragen stellten. Gousset kritisierte daher die Fehler und Winkelzüge seines anderen, belgischen “Ich” aus “marxistischer” Sicht. Sein weiteres alias, Ernest Germain, erblickte erst nach dem belgischen Generalstreik das Licht der Welt. Diese Doppelzüngigkeit einer sich trotzkistisch nennenden politischen Strömung, die man aber nur als revisionistisch qualifizieren kann, wird unsere Leser nicht überraschen. Ebenso wie die katholische Kirche hält der Pablo-Mandelismus sowohl zur rechten wie zur linken schöne Worte bereit.

f) 2. Exkurs: Anpassungstendenzen der westdeutschen Trotzkisten während ihres Integrationsentrismus in der SPD — die Kritik von D. Wilhelmi

Das integrationsentristische Konzept Pablos wurde von allen Strömungen der krisengeschüttelten Vierten Internationale (also auch vom Internationalen Komitee nach 1953) wenigstens zeitweise zumindest in einigen Ländern verfolgt. Angesichts der eindeutigen Kritik Trotzkis schon an kleinsten Ansätzen zu diesem Konzept schon in den dreißiger Jahren wurde es fast nirgendwo theoretisiert: Der offene Zentrismus meidet jede Theorie. Eine Ausnahme bietet der deutsche Trotzkismus:

Dieter Wilhelmi arbeitete den deutschen Integrationsentrismus, dessen Theorie und Praxis auch für die nach 1968 eingetretene Generation von Mitgliedern des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale im Dunkel der ungeschriebenen Geschichte blieb, bereits 1980 kritisch auf[14]:

“Damals stellte Michel Pablo die These auf, die stalinistischen Apparate würden bei andauerndem "kalten Krieg" angesichts eines schnell herannahenden dritten Weltkrieges, die ihnen angemessene, rechtsopportunistische Politik aufgeben und den nach Beginn des "kalten Krieges" begonnenen "Linksschwenk" vertiefen müssen. Im Stalinismus müßten daher "zentristische Tendenzen" die Oberhand gewinnen und schließlich, wie in Jugoslawien und China, eine revolutionäre Orientierung einschlagen. Selbst die Verwandlung des Charakters der stalinistischen Parteien insgesamt wurde nicht ausgeschlossen! Die Trotzkisten sollten durch ihre Arbeit in diesen Tendenzen deren Entwicklung beschleunigen. (VgI. Georg Jungclas, Referatmanuskript, in: "Die Taktik des Entrismus", Dokumentation, Hrsg. GIM, Gruppe Köln, ohne Jahrgang).

Die hier angedeutete Möglichkeit einer Selbstreform des Stalinismus konnte nur zu liquidatorischen Schlußfolgerungen führen - und sie führte dazu!

Trotzki hatte im Übergangsprogramm zwar angedeutet, daß kleinbürgerliche Führungen (einschließlich der Stalinisten) unter besonderen geschichtlichen Bedingungen noch beim Sturz des Kapitalismus an der Spitze der Massen stehen könnten. Er hatte aber betont, daß diese ihren Charakter nicht verändern könnten und unmittelbar zum Hindernis für die weitere Entfaltung der permanenten Revolution werden müßten (national-bürokratische Politik, Unterdrückung der Arbeiterklasse etc.). Die Aufgaben der proletarischen Weltrevolution, die Vertiefung des revolutionären Prozesses selbst (Rätedemokratie etc.) erforderte daher in jedem Fall die Existenz einer unabhängigen, trotzkistischen Partei als Sektion der IV. lnternationale.

Die Revision des trotzkistischen Programms durch Pablo und die von ihm angewandten organisatorischen Methoden bewirkten 1952-53 die Spaltung der IV. lnternationale, die 1963 teilweise rückgängig gemacht wurde.

Die Wiedervereinigung des größten Teils der trotzkistischen Bewegung fand ,jedoch nicht auf der Basis einer grundlegenden Debatte um die politischen Fragen statt, die Anfang der 50er Jahre Ursache der Spaltung gewesen waren. Lediglich die These einer eventuell möglichen Selbstreform des Stalinismus war fallen gelassen worden. Damit wurde auch die Notwendigkeit der politischen Revolution gegen .die Bürokratie in den degenerierten und deformierten Arbeiterstaaten bestätigt.

Die mangelnde Klärung der alten Differenzen zeigte sich gleich mehrfach: Mit Beginn der chinesischen Kulturrevolution, die vor allem ein innerbürokratischer Konflikt war und wo die verschiedenen bürokratischen Fraktionen eine plebiszitäre Massenbasis suchten, zeigten sich massive Illusionen in Teile der Bürokratie. Die Mao-Fraktion wurde "kritisch" unterstützt. Nur die LTF und vorher die SWP und die Führung der heutigen PST Argentiniens verteidigten die trotzkistische Position, daß alle Fraktionen der Bürokratie konterrevolutionär sind. Die Entwicklung gab ihnen nur allzu schnell recht. Auch die Mao-Fraktion innerhalb der KP Chinas setzte sofort Militär gegen Rote Garden ein, die nicht mehr unter bürokratischer Kontrolle standen. Revolutionäre Jugendliche wurden aufs Land verbannt -offiziell, um ausgerechnet dort "proletarisches Bewußtsein" zu erlernen.

Die Illusionen in den Mao-Stalinismus zeitigten verheerende Folgen. Besonders in Westeuropa fand ein massiver Anpassungsprozeß an maostalinistische Gruppierungen statt. In Italien führte das Ende der 60er Jahre zum Verlust großer Teile der italienischen Sektion, die den "schleichenden Mai" nur im Zustand der organisatorischen und politischen Paralyse erlebte. Generell wurde nicht begriffen, daß die konterrevolutionäre Politik des Stalinismus seit je her zwei Gesichter hat: ein erzopportunistisches und ein ultralinkes, sektiererisches, das unter scheinrevolutionären Phrasen versucht, revolutionäre Massenbewegungen durch Spaltungsmanöver in die Sackgasse zu führenl

Die Mehrheit des VS ließ sich durch keine noch so klaren Tatsachen beirren. Sie schrieb den Sieg der vietnamesischen Massen unentwegt der stalinistischen Führung zu, obwohl die Massen diesen Kampf zunächst ohne die Stalinisten begonnen hatten und ihn auch gegen den erklärten Willen der stalinistischen Führung zu Ende führten. Diese wurde selbst überrascht, als das Thieu-Regime in wenigen Tagen verjagt wurde. Die Illusionen in den Stalinismus scheinrevolutionärer Prägung sollten auch in Portugal dazu führen, daß an Stelle einer revolutionären Einheitsfrontpolitik eine Anpassungspolitik an die spalterischen Manöver der KP betrieben wurde. Die jungen portugiesischen Genossen wurden dabei direkt von VS(IMT)-Emissären angeleitet. So konnte die Sozialdemokratie in Portugal völlig ungehindert durch die Trotzkisten die Massenbewegung in die Bahnen des Parlamentarismus leiten. Inzwischen hat die SWP-Führung vor diesen Illusionen kapituliert, die von deren früheren Führung massiv bekämpft wurden, im Rahmen der Leninistisch-Trotzkistischen Fraktion. In Kuba und Afghanistan schreibt sie der Bürokratie selbst eine revolutionäre Rolle zu.

"Entrismus" und Zentrismus

Der "Entrismus", die Arbeit in den stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien wurde bei der Teilvereinigung der trotzkistischen Bewegung im Jahre 1963 "ausgeklammert", d.h. weder diskutiert noch in Frage gestellt. Tatsächlich handelte es sich dabei nicht lediglich um "taktische" oder "strategische" Fragen des Parteiaufbaus. Die strategische Perspektive des "Entrismus sui generis", in Westdeutschland "Integrationsentrismus" genannt, beruhte auf wesentlichen Revisionen des trotzkistischen Programms. Revisionen, die bis heute in der GIM nicht überwunden worden sind.

Nach wie vor wurde auf eine Spaltung der Apparate in der Arbeiterbewegung gesetzt, wurde erwartet, daß auch die sozialdemokratischen Massenparteien einen Linksschwenk vornehmen würden, der eine Differenzierung im Apparat mit sich bringen würde.

Das Ganze wurde zunächst dadurch rechtfertigt und verschleiert, daß lediglich von reformistischen oder zentristischen Massenbewegungen gesprochen wurde. Diese "Massenbewegungen" sollten sich innerhalb der traditionellen Parteien der Arbeiterbewegung herausbilden.

Schon hier die Methode, nicht zwischen der zu revolutionären Zielen drängenden Basis und deren Führungen zu unterscheiden. Diese Führungen sollten gedrängt werden, ihrerseits die Rolle der revolutionären Führung zu spielen.

"Die marxistisch-revolutionären Kräfte, die in diesen sozialdemokratischen oder reformistischen Organisationen wirken, arbeiten mit, diese Tendenzen zu stärken, indem sie ihnen Selbstvertrauen einflößen und sie in Richtung des notwendigen Kampfes zur Schaffung rein sozialistischer oder kommunistischer Regierungen - je nach den konkreten Kräfteverhältnissen innerhalb der Arbeiterbewegung jedes einzelnen Landes drängen." (Resolution des Vierten Weltkongresses des Internationalen Sekretariats der IV. Internationale).

Die Aufgabe war also, Teile des Apparats, Opportunisten und Zentristen, dazu zu bringen, die Rolle einer revolutionären Führung auszufüllen. Die IV. lnternationale sollte zur "pressure group" innerhalb dieser Führungen reduziert werden. In einem Brief der Leitung der deutschen Sektion heißt es 1953 ganz unzweideutig:

"Du würdest staunen, wenn Du wüßtest, wie viele ehemalige linke SAP-Leute oder Genossen, die erst in den letzten Jahren mit der KP gebrochen haben, heute im DGB und in der SPD mittlere und höhere Funktionen bekleiden, ja z.T. höchste Stellen besetzt haben. Natürlich ist ein Teil dieser Leute heute korrumpiert und zu Renegaten herabgesunken. Die Mehrheit von ihnen hat ihre Nabelschnur nicht zerschnitten und sich ihr proletarisches Bewußtsein erhalten. Unsere Kritik an der Politik des Parteivorstandes und unsere Praxis des Ringens um "die Massen in der Partei" entspricht ihren eigenen Gedanken, und sie sind sehr schnell aufnahmebereit für unsere Ideen und unsere Arbeit".

Heute kann man nur staunen, welche Illusionen in Zentristen und Opportunisten gesetzt wurden. Die Praxis hat eindeutig gezeigt, daß diese Kräfte niemals eine fortschrittliche Rolle für die Entwicklung des Klassenkampfs spielen. Der totale Mißerfolg des Integrationsentrismus legt davon beredtes Zeugnis ab. Zentristen spielen nur eine Rolle: Die Massen im Rahmen des Kapitalismus zu halten oder sie wieder in diesen Rahmen zurückzuführen.

Im Bericht eines Genossen an den vierten Weltkongreß des "Internationalen Sekretariats" heißt es sogar, daß "die Unmöglichkeit, selbst reformistische Ziele mittels parlamentarischer oder Verhandlungstaktik zu erreichen,. die reformistischen Führer auf den Weg des Kampfes (drängt)".

So wird aus der Tatsache, daß reformistische Politik in der Epoche des Imperialismus der Boden entzogen ist, nicht etwa der Schluß gezogen, daß das einen aussichtsreichen Kampf' für revolutionäre Politik ermöglicht (d.h. f'ür den Aufbau der revolutionären Partei und gegen die reformistische Führung -so Trotzki in seinem Artikel "Die Gewerkschaften in der Epoche des Monopolkapitals"). Nein, den "linken" Reformisten wird die Führung des Kampfes ausdrücklich zugewiesen. So wurde der Trotzkismus im Namen des Trotzkismus bekämpft. Im oben erwähnten Referat des Genossen Jungclas wurde diese Perspektive.rückwirkend zusammengefaßt:

"Der Radikalisierungsprozeß... wird die Radikalisierung in die SPD hineintragen, dort eine Differenzierung zwischen Massen und Partei und innerhalb des Apparates selbst hervorrufen, welche die Voraussetzung schafft für die Bildung eines allgemeinen linken Flügels, der von den breiten Massen als die um die Führung von Partei und Gewerkschaft kämpfende Kraft anerkannt wird. Durch ein politisch korrektes aktives zielbewußtes Mitwirken an diesem Prozeß von seiner Vorstufe aus, kann der.Kader (Anm. der Red.: gemeint ist der trotzkistische Kader) ein wichtiger Teil dieses linken FlügeIs werden und in seinem Rahmen mit der tatsächlichen Vorhut der Klasse verwachsen...".

Ein Teil des Apparats, sein "linker" 'Teil, soll Voraussetzung für die Bildung eines linken Flügels sein, der um de Führung von Partei und Gewerkschaften kämpft. Die Trotzkisten sollen sich in die zentristische Führung integrieren, sich in die linke Fraktion der Apparate integrieren und mit diesem um die Führung kämpfen.

Trotzkisten kämpfen jedoch nicht mit dem Apparat. Sie kämpfen grundsätzlich mit der Arbeiterklasse gegen alle Apparate in der Arbeiterbewegung, mögen sich Teile davon auch noch so fortschrittlich gebärden. Die Mobilisierung der Arbeiterklasse zur Durchsetzung ihrer Forderungen, ein siegreicher Kampf ist mit den Apparaten nicht möglich, auch nicht mit dessen reformistischen oder zentristischen Teilen.

Die Existenz der Apparate, die von der Verwaltung der Arbeiterklasse leben, ist mit einer mobilisierten und kämpfenden Arbeiterklasse unvereinbar. Deshalb gibt es zwischen Marxisten und Zentristen auch keine "friedliche Koexistenz".

Die Methode, die hinter dem "Entrismus sui generis" stand, ist nicht überwunden worden. Diese Methode beinhaltet fundamentale Revisionen des trotzkistischen Programms, deren Beibehaltung einen Parteiaufbau ins Reich der Utopie verweisen würde.

Zu diesen Revisionen gehört zunächst die Revision der marxistischen Analyse des Charakters des Stalinismus und der Sozialdemokratie. Diese strategische Orientierung führte notwendig zu einer Anpassung an zentristische Positionen. Doch es blieb nicht bei dieser Anpassung: Axiom dieser Politik war der Verzicht auf den Parteiaufbau, d.h. auf den Aufbau einer revolutionären Partei. Stattdessen sollten Zentristen, "linke" Teile des Apparats die Massen führen. Trotzkisten hatten in diesem Rahmen, bei dieser Zielprojektion lediglich Beraterfunktion für die wirkliche, zentristische Führung. Sie sollten bestenfalls Geburtshelfer zentristischer Parteien spielen.

So richtig es ist, die tatsächliche Führung aufzufordern, den Kampf zu organisieren, so wichtig ist es, daß die Marxisten, die Massen darauf hinweisen, daß sie jederzeit mit einem Verrat dieser Führungen rechnen müssen, daß sie sich deshalb selbst gegen diese Führungen organisieren müssen, daß diese Führungen, wenn überhaupt, nur unter dem Druck ihrer Basis handeln -und das auch noch unzureichend, zögernd und jederzeit bereit zu faulen Kompromissen. Derartige Führungen können für kämpferische Arbeiter, Jugendliche und Frauen keine Perspektiven bieten. Deshalb ist eine revolutionäre Partei notwendig, unmittelbar. Einheitsfrontpolitik und offener Kampf für den Parteiaufbau gehören zusammen. Sie sind nicht auseinanderzureißenl

Das wurde gerade im Integrationsentrismus zur Grundlage jeder Praxis. Mit dem Erfolg, daß sowohl Einheitsfrontpolitik wie Parteiaufbau nicht mehr stattfand.

Heute versuchen die Propagandisten der "Sozialistischen Alternative" die "Linke" davon zu überzeugen, gegenüber der Sozialdemokratie eine weniger sektiererische Haltung einzunehmen. "Die Linke" - oder neuerdings der "reformatorische Block" - soll eine richtige Politik machen, während die Trotzkisten selbst darauf verzichten und die Obersektierer in der eigenen Organisation die Mehrheit haben.

Zuvor sollte die "revolutionäre Linke" durch Aktionseinheiten zusammengeschweißt werden, um die Massen an den Apparaten vorbei in die revolutionäre Aktion hineinzureißen.

So verschieden die Orientierungen auch gewesen sein mögen und es im Einzelnen sind: Eine Methode hat sich nicht verändert. Es wird nach Kräften gesucht, die an Stelle der Marxisten die Massen führen sollen. Parteiaufbau findet nicht statt. Anpassung ist und bleibt die Parole.

Die Revision der Einheitsfronttaktik

Die Anpassung an Zentristen, Sektierer und Ultralinke hat jedoch noch einen anderen Aspekt: sie ist grundsätzlich immer mit einer Absage an Einheitsfrontpolitik verbunden, der zentralen Methode zur Eroberung von Masseneinfluß und zum Aufbau der revolutionären Partei!

"Die Taktik der Einheitsfront bedeutet das Vorangehen der kommunistischen Avantgarde in den täglichen Kämpfen der breitesten Arbeitermassen um ihre notwendigsten Lebensinteressen. In diesem Kampfe sind die Kommunisten sogar bereit, mit den verräterischen Führern der Sozialdemokratie und der Amsterdamer (Anm. d. Red.: kurzlebiger Versuch einer Arbeiterinternationale) zu unterhandeln." (Thesen zur Taktik der KI vom Vierten Weltkongreß der KI).

Einheitsfrontpolitik heißt danach Organisierung des Kampfes der Massen gegen die Bourgeoisie, auch um den Preis, mit Reformisten und Zentristen zusammenzuar-beiten, wenn das Voraussetzung für einen gemeinsamen Kampf ist.

Grundlage der Praxis der Kommunisten können nur die formulierten Bedürfnisse und Interessen der Arbeiterklasse und der Unterdrückten Klassen sein. Nichts anderes. Auf dieser Basis muß u.U. Druck auf die traditionellen Führungen der Massen organisiert werden. Selbst, wenn die Zentristen einzelne Forderungen der Massen aufgreifen, müssen Marxisten davor warnen, diesen Führungen zu vertrauen. Die Geschichte beweist, daß Zentristen ebenso wie die Reformisten die Forderungen der Massen nur aufgreifen, um die Massen besser verraten zu können: "Nicht weniger kraß (als die Reformisten) zeigen sich die zentristischen Parteien und Gruppen der 2 1/2-Internationale als die Parteien der , Konterrevolution...". (Thesen des IV. Weltkongresses der KI). Diese Kräfte zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie "den Geist der Unentschiedenheit in der Arbeiterklasse kultivieren". Das ist der Grund, weshalb die Marxisten "die Arbeitermassen von vornherein auf die Möglichkeit des Verrats seitens der nichtkommunistischen Parteien in einem nachfolgenden Stadium des Kampfes" vorbereiten müssen, um befähigt zu sein, "den Kampf eventuell selbständig weiterzuführen" (Thesen, ebenda).

"Als Hauptbedingungen, die für die kommunistischen Parteien aller Länder gleich und unbedingt ultimativ sind, hält. dle Exekutive .. .die absolute Selbständigkeit und die vollständige Unabhängigkeit der kommunistischen Partei, die dieses oder jenes Abkommen ... trifft, ... während die Kommunisten sich den Prinzipien der Aktion fügen, sollen sie dabei unbedingt das Recht und die Möglichkeit wahren, nicht nur vor und nach der Aktion, sondern, wenn nötig, auch während der Aktion offen ihre Meinung über die Politik aller Organisationen der Arbeiterklasse zu äußern. Ein Aufgeben dieser Bedingung ist unter allen Umständen unzulässig." (Leitsätze zur Einheitsfront, IV. Weltkongreß der KI).

Im vorigen Abschnitt ist bereits gezeigt worden, daß der "Entrismus sui generis" von vornherein Verzicht auf proletarische Klasseneinheit bedeutete. Entscheidend war nicht die unabhängige Klassenaktion, sondern Zusammenarbeit mit den Zentristen und Teilen der Apparate der Arbeiterbewegung. Kehrseite dieser Perspektive war der Verzicht … auf die Kritik der Halbheiten des Zentrismus:

“Aus diesen ganzen Darlegungen geht deutlich hervor, warum wir heute jede prinzipielle Auseinandersetzung innerhalb der SPD als nutzlos und gefährlich ansehen." (Brief der Leitung der deutschen Sektion aus dem Jahre 1953).

Einheitsfrontpolitik konnte daher gar nicht mehr praktiziert werden. Sie mußte revidiert werden, den Bedürfnissen der Integration in die Sozialdemokratie entsprechend deformiert werden.

Bei den Integrationsentristen hieß es:

"Indem wir die Massen erziehen, die Reformisten beim Wort zu nehmen und den Kampf um Reform und Tageslosungen bis zum Ende und über die begrenzten Ziele des Reformismus hinaustreiben, entwickeln wir die klassenmäßige Bewegung..." (Referat gehalten vor dem vierten WK des Int. Sekretariats der IV. Internationale, Juli 1954).

Hier fehlt nicht nur die Kritik am Reformismus und Zentrismus. Darüberhinaus wird der Ansatz der Einheitsfrontpolitik aufgegeben: die Interessen und Bedürfnisse der Arbeiterklasse.

Einheitsfrontpolitik heißt, die Massen auf der Grundlage ihrer Bedürfnisse, ihrer Interessen und Forderungen zu mobilisieren. Die Reformisten und Zentristen setzen zwar dort an, formulieren aber schon die Forderungen so, daß die Kämpfe wieder integriert werden. Die Reformisten und Zentristen vertreten daher nicht die Interessen der Arbeiterklasse, sondern die Interessen der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung.

Marxisten fordern sie nicht auf, ihr reformistisches oder zentristisches Programm zu verwirklichen. Wenn sie die Massen erziehen, dann dahingehend, daß diese Kräfte unweigerlich verraten werden! Sie fordern die Führungen der Massen auf, die Forderungen der Massen zu erfüllen. Nicht, weil die Führungen diese Forderungen zu ihren eigenen machen. Im Gegenteil. Reformisten und Zentristen betreiben gerade eine Politik, die die Erfüllung der Forderungen todsicher verhindert. Sie fordern die Führungen dazu auf:, weil sie das Vertrauen der Massen besitzen.

Die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Einheitsfrontpolitik auch gegenüber diesen Führern ergibt sich also nicht aus deren radikaler Rhetorik, sondern aus ihrem besonderen Verhältnis zur Arbeiterklasse. Anderenfalls macht man die Anwendung der Einheitsfrontpolitik vom Wortradikalismus der Agenturen der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung abhängig.

Aber genau das war die wesentliche Praxis der Integrationsentristen:

"Die SPD ist keine sozialistische Partei. ... Es ist darum von seiten der Linken sinnlos, innerhalb und außerhalb der Partei (soweit außerhalb noch ernsthafte Kräfte vorhanden sind) zu versuchen, mit der konkreten Kritik an der Politik der SPD an diesem Punkt anzusetzen. Von einer nichtsozialistischen Partei kann man keine sozialistische Politik verlangen, so wenig wie man von ihr ein sozialistisches Programm verlangen kann. ... Aus diesem Grunde ist es falsch zu glauben, notwendig sei eine Taktik, die auf die Entlarvung der SPD, besonders ihrer Führung, in den Augen der Arbeitermassen abzielt." (E.Gerbel, "die .internationale", 2.Jhrg. Nr.1, Jänner-März 1957, 5.18-19).

1957 war konsequenterweise die letzte Bundestagswahl, wo zur Wahl der SPD aufgerufen wurde; denn nach Godesberg gab es nach dieser Auffassung keine Basis mehr für die Anwendung der Einheitsfrontpolitik auf der Wahlebene:

"Das Godesberger Programm ist eine Absage an die letzten Reste sozialdemokratischen Denkens. Anstelle der alten reformistischen Vorstellung, "über Reformen und Demokratie zum Sozialismus" zu kommen, ist das uneingeschränkte Bekenntnis zur bürgerlichen Demokratie selbst getreten."

So beschreibt G. Jungclas in seinem oben erwähnten Referat den Stellenwert des Godesberger Programms.

Er meinte, es sei "eigentlich schon seit 1914 ein Axiom für die revolutionären Marxisten" gewesen, daß die SPD unreformierbar ist. — “Eigentlich” ja, aber nicht für die Revisionisten auf Pablos Spuren.”

Soweit Dieter Wilhelmi über die deutschen Integrationsentristen. Wir haben ihn so ausführlich zitiert, weil seine Kritik auch deutlich macht, wie nah die sektiererische Ablehnung der verbürgerlichten Sozialdemokratie und opportunistische Tendenzen gegenüber sich nach links bewegenden Reformisten und Zentristen liegen können. Sie finden sich oft genug bei denselben Leuten.

In seiner damals geäußerten Kritik fehlte aber, daß der Integrationsentrismus bzw. der Entrismus sui generis bei Pablo bereits 1946 theoretisch angelegt worden war. Es fehlte, daß diese Art revisionistischer Politik auch im Internationalen Komitee der IV. Internationale verbreitet war und von der trotzkistischen Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg in den Gewerkschaften praktiziert wurde. Letzteres gilt z.B. für den Lambertismus in der Gewerkschaft Force Ouvrière. Bezeichnend auch, daß die deutschen Lambertisten, die immer noch in der SPD arbeiten, dies mit der Generalorientierung tun, die SPD aufzufordern, wieder sozialdemokratisch-reformistische Politik zu betreiben.

6. Zwei Arten der “kritischen Wahlunterstützung” von Reformisten

Bei Wahlen haben Marxisten dabei die Pflicht, die Anhänger der Reformisten vor dem zu erwartenden Verrat ihrer Führer zu warnen — wobei sie zu deren Wahl aufrufen können, damit diese die Gelegenheit haben, sich selbst zu demaskieren. Sie können dies gleichzeitig verbinden mit allgemeiner revolutionärer Propaganda und konkreten punktuellen Mobilisierungen um akute Probleme der Arbeiterklasse. Sind die Illusionen der Massen in solchen Situationen immer noch stark, besonders in den Fragen, wo es um die akuten Probleme der Massen geht, bleiben die Revolutionäre zunächst noch notwendig isoliert. Ihre Stunde kommt erst, wenn die Reformisten in Zeiten akuter Krise die Richtigkeit der Warnungen beweisen. Die Revolutionäre haben dann die Überlegenheit ihrer Einschätzung demonstriert. Das kann den Massen helfen, sich künftig an ihnen zu orientieren

Wir sind der Ansicht, daß dies genau die taktische Haltung ist, die Lenin in seiner Schrift “Der linke Radikalismus, Kinderkrankheit des Kommunismus” den britischen Kommunisten anempfohlen hat.

Wesentlich klarer und unmißverständlicher in taktischer Sicht hatte Trotzki diese “Stricktaktik” bereits 1907 formuliert — unter den Bedingungen des zaristischen Rußland angewandt auf die von ihm als im bürgerlichen Sinne als antirevolutionär eingeschätzten Kadetten. Hierzu Trotzki, dessen Text wir ausführlich zitieren, weil er weitgehend unbekannt ist:

“Die sozialistische Propaganda geht aus von der Entlarvung jeder politischen Ideologie, die offen oder stillschweigend die Unverletzlichkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse anerkennt. Und der Liberalismus, auch der konsequenteste, ist eine solche Ideologie. (…) Unsere <Zusammenarbeit>, unsere Konkurrenz, unsere polemischen Scharmützel mit dem Liberalismus entwickeln sich auf der tiefer gelegenen Ebene des Kampfes um die Demokratie. Das bestimmt die konkrete Phase der historischen Entwicklung. In Frankreich, wo der konsequenteste Liberalismus, (…) am Ruder der Republik steht, dreht sich der gesamte tägliche Kampf unserer Partei mit den Parteien der Bourgeoisie um die Frage Kapitalismus oder Kollektivismus?”[15]

Das Problem, vor dem wir heute stehen, sind reformistische Parteien, die ehemalige Arbeiterparteien im politischen Sinne sind und/oder sich auf eine organisatorische Kontinuität zu echten Arbeiterparteien verweisen können, aber sich zu komplett bürgerlichen Parteien gemausert haben. Diese Parteien, in Deutschland die SPD und “Die Linke”, gebärden sich als einerseits als antikommunistisch und andererseits als Parteien einer kapitalistischen Moderne, die die unmittelbaren Interessen der (lohnabhängigen) Massen besser vertreten als die traditionellen Parteien der Bourgeoisie oder gar “linke Sektierer”. Mit ihrem Bekenntnis zu Sozialreformen im Kapitalismus gelingt es ihnen — in unterschiedlichem Ausmaß erfolgreich, sich wenigstens bei Wahlen, aber auch in den Gewerkschaften, auf große Teile der Arbeiterklasse zu stützen.

Für Sozialisten gilt es, einerseits deren bürgerlichen Modernisierungsideologien entgegenzutreten und sozialistische Perspektiven aufzuzeigen, andererseits der großen Masse der Lohnabhängigen dabei zu helfen, sich von den Restillusionen in die Reformisten zu befreien. Trotzkis Ratschläge zur Bekämpfung des russischen Liberalismus können dabei nach unserer Ansicht fruchtbar gemacht werden:

“Was bedeutet: den Liberalismus <nutzen>? Was heißt: ihn <anspornen>? Was heißt: den Liberalismus unterstützen, soweit er gegen die Reaktion gewendet ist, und ihn bekämpfen, soweit er danach trachtet, das Volk an der Hälfte des Wegs zurückzuhalten?”[16]

Er bilanziert dann zunächst, die Politik der deutschen Sozialdemokratie gegen dem Liberalismus:

“Die Sozialdemokratie unterstützt den Liberalismus und <spornt ihn an> -und zwar durchaus nicht mit seinem eigenen Einverständnis. Bei dieser Tätigkeit nehmen die Fälle direkter und unmittelbarer Unterstützung der Liberalen (Stimmabgabe für sie bei Wahlen, Abdruck ihrer Aufrufe, auch wenn bei ihnen selbst der Mut dazu nicht ausreicht) einen untergeordneten und völlig unwichtigen Platz in der allgemeinen Ökonomie unserer Beziehungen ein. Ihrem Wesen nach bildet die Unterstützung) die wir dem Liberalismus leisten, die Kehrseite unseres Kampfes mit ihm. Indem wir den Liberalismus kritisieren, indem wir ihn vor dem Angesicht der Bevölkerung, auf die er einwirken will, entlarven, zwingen wir ihn, vorwärts zu schreiten. Aus den Verpflichtungen, die der Liberalismus gegenüber dem Volke eingeht, machen wir eine .logische Kette von Konsequenzen; diese Kette werfen wir ihm als Schlinge um den Hals und zerren ihn zu sich selbst. Wenn er sich zu widersetzen beginnt, zieht sich die Schlinge um seinen Hals ein wenig zusammen und schafft ihm Unbequemlichkeit. Freiwillig-unfreiwillig, häufig mit unterdrückten Verwünschungen, geht er vorwärts. Bei jedem Schritt versucht er, uns anzuhalten, redet uns zu, eine Atempause einzulegen, beschuldigt uns der Direktheit, Taktlosigkeit, Vergewaltigung und sagt sich von uns los. [4] Da jedoch Richtung und Tempo unserer Bewegung durch die politische Entwicklung der Volksrnassen und nicht durch das Selbstverständnis des Liberalismus bestimmt sind, vergrößern wir unseren Druck beständig in dem Maß, in dem die Massen vorwärts schreiten, und so zwingen wir den Liberalismus, die Marschroute einzuschlagen und voll zu Ende zu gehen, die seine soziale Qualität zuläßt. Und wenn er schließlich seine <Grenze> erreicht und verharrt, zieht sich die Schlinge unerbittlich um seinen Hals zusammen - und auf der Straße der Geschichte bleibt eine Leiche zurück. So verwandelte die <Unterstützung> der deutschen Sozialdemokratie den deutschen Liberalismus in eine Leiche.”[17]

Zur Rolle der Marxisten im und gegenüber dem Krisenprozeß des russischen Liberalismus schrieb er:

“Wie muß das Verhalten der Sozialdemokratie sein, die selbst als Teilelement in diesem Chaos erscheint, ihrerseits jedoch bewußt auf seine weitere Kristallisierung einwirken kann? Vor allem ist ausdrücklich festzuhalten: Die Sozialdemokratie kann sich in keiner Weise die Aufgabe stellen, irgendeine der bestehenden oppositionellen Gruppen zu fixieren und zu festigen — im Gegenteil; der wichtigste Dienst, den sie der Sache der Demokratie erweisen kann, besteht in der beharrlichen und erbarmungslos mißtrauischen Kritik aller liberalen Parteien unter dem Blickwinkel eines konsequenten Demokratismus.”[18]

Bezogen auf die Lage heute ziehen wir für uns daraus den Schluß, daß wir aufgrund der Kräfteverhältnisse gezwungen sind, in der Agitation immer wieder hervorzuheben, daß die Politik der Reformisten selbst die elementarsten Bedürfnisse des Proletariats mit Füßen tritt. Auch ohne akut vorrevolutionäre Lage müßte das Fortschritte im Parteiaufbau ermöglichen. Wir gestehen hier offen, daß wir auf diesem Gebiet das Stadium einer kleinen Propagandagruppe noch nicht ausreichend hinter uns gelassen haben. In der Praxis müssen wir uns erst noch auf die Höhe der von Trotzki skizzierten Perspektiven arbeiten:

“Jede neue revolutionäre Situation fordert von uns, daß wir sie ausnützen - erstens für die selbständige Organisation des Proletariats und zweitens für die Hereinnahme breiter demokratischer Massen in die unmittelbare revolutionäre Auseinandersetzung.

Jeder unserer Schritte, der uns diesem zweiten Ziele näherbringt, stellt genau die Unterstützung dar, die wir der bürgerlichen Demokratie als politisch-sozialer Kraft erweisen; jeder solche Schritt macht es uns aber möglich, zu diesen oder jenen oppositionellen Organisationen in unterschiedlichste Beziehungen zu treten, Organisationen, die das augenblickliche Entwicklungsniveau der demokratischen Massen widerspiegeln. Das können die Kadetten - eine dieser momentan existierenden Organisationen - nicht verstehen, wir jedoch dürfen es niemals vergessen.

Eine kraftlose Duma, die dem bewaffneten Absolutismus gegenübersteht, schafft eine revolutionäre Situation, d. h. einen Widerspruch, der auf <konstitutionellem> Wege nicht mehr aufhebbar ist. Und wenn ich zu der Schlußfolgerung gelange, daß man in die Duma einen Kadetten schicken muß, so vor allem deshalb, um ihn zu kompromittieren. Wenn ich die sozialdemokratischen Wähler oder Wahlmänner aufrufe, für einen Kadetten zu stimmen, so keineswegs deshalb, weil ich dächte, einen Zettel mit dem Namen des Herren Petrunkevic in einem Holzkasten zu versenken, hieße direkt und unmittelbar die Demokratie unterstützen. 0h neinI Im angeführten Fall unterstütze ich die Demokratie dadurch, daß ich ihre morgigen Führer in eine revolutionäre Situation stelle und sie damit kompromittiere. Die rückständige bürgerliche Demokratie, die mich durch ihr Übergewicht gezwungen hat, für den Kadetten zu stimmen, stoße ich durch diese <Unterstützung> vorwärts; den Kadetten jedoch unterstütze ich; wie der Strick den Gehenkten unterstützt.”[19]

Auf den damals schon erhobenen Einwand, damit würden ja sogar nichtproletarische Kandidaten unterstützt, antwortete Trotzki:

“Man kann mir sagen, das möge so sein, und im Grunde laufe es auch darauf hinaus. Meine Überlegungen hätten jedoch keinerlei selbständige Kraft; ein Faktum bleibe ein Faktum. Ich stimmte für die Kadetten, folglich unterstützte ich die Kadetten.

Natürlich bleibt ein Faktum immer ein Faktum, würde ich antworten. Aber was ist im gegebenen Fall das entscheidende Faktum? Der in die Holzurne gesteckte Stimmzettel oder die revolutionär-sozialistische Agitation, die wir während der Wahlen entwickeln und in der wir ein und denselben Ton durchhalten, ob wir nun selbst gegen einen kadetischen Kandidaten antreten oder ob wir einen Kadetten gegen einen Oktobristen unterstützen?

Die Frage, die in unserer Partei noch heftiger diskutiert wird - nämlich auf welcher Stufe unseres babylonischen Wahlturms es gestattet sei, nichtproletarische Kandidaten zu unterstützen -, hat ohne Zweifel ernsthaftes Gewicht; nichtsdestoweniger wage ich zu behaupten, daß es sich dabei um ein Problem ganz und gar zweitrangiger Bedeutung handelt. Den ersten Rang nimmt die Frage nach der politischen Idee ein, die unsere Agitation strukturiert und unseren Aktionen einheitlichen Sinn verleiht, ob wir nun die Bevölkerung aufrufen, für den Genossen Plechanov zu stimmen, ob wir die Wähler auffordern, den kadetischen Wahlmännern ihre Stimmen zu geben, oder ob wir unseren Wahlmännern empfehlen, dem Herrn Miljukov zu helfen, die Schwelle zur Reichsduma zu überschreiten.

Manche Genossen messen meiner Meinung nach der Frage, auf welcher Stufe des Wahlablaufs es Wahlübereinkommen geben wird, eine unverhältnismäßig große Bedeutung zu.

(…) In Europa kommen Wahlübereinkommen gewöhnlich beim zweiten Wahlgang zustande; diese Reihenfolge bringt viele Vorteile, über die im mich hier nicht weiter auslassen werde. Ich mache die Genossen jedoch darauf aufmerksam, daß sich die Wahlen zum zweiten Wahlgang keineswegs so wie die Wahlen in der zweiten Phase abseits von der Masse oder hoch über der Masse abspielen; an den Wahlen zum zweiten Wahlgang nimmt der gleiche Massenwähler teil wie bei den allgemeinen Wahlen - und dieser einfache Menschentypus hat viele Hindernisse zu überwinden: Sieben Tage zuvor gab er auf Grund intensivster Agitation durch die Partei seine Stimme dem Sozialdemokraten gegen den Liberalen; heute; eine Woche später, soll er auf Appell desselben Sozialdemokraten seine Stimme dem Liberalen geben. Und wenn sein Kopf mit diesem Widerspruch bis zum Zeitpunkt des zweiten Wahlgangs fertig wird, so verstehe ich nicht, weshalb er gegenüber der gleichen Kombination bei den allgemeinen Wahlen in Verwirrung geraten sollte. Man kann Mutmaßungen mit mehr oder minder hohem Wahrscheinlichkeitsgrad darüber anstellen, ob und in welchem Umfang Übereinkommen mit den Kadetten in der ersten Phase der Wahlen notwendig sein werden; die Möglichkeit solcher Übereinkommen selbst prinzipiell verneinen, das kann man jedoch nicht. Überhaupt wäre der Gedanke seltsam, daß in dieser speziellen Sphäre, in der Fragen der Wahltechnik eine entscheidende Rolle spielen, irgendwelche absoluten, indiskutablen Prinzipien existieren sollten; die in allen Fällen unser Verhalten zu bestimmen hätten. Könnte eine zwar sehr ernstzunehmende, aber doch rein technische Schwierigkeit wie etwa das Nichtvorhandensein zweiter Wahlgänge für uns das politische Ziel aufheben, das wir mit Übereinkommen zu erreichen trachten? Natürlich nicht.

Ich wiederhole: Entscheidende Bedeutung für unsere politische Selbständigkeit hat weniger das taktische Wahlverhalten für sich als viel- mehr die diesbezügliche Methode, die all unserer Agitation ihre Schärfe gibt.

Lassen wir uns von einer Abstraktion leiten - wie etwa von der These, daß wir durch Unterstützung der Kadetten die <Reaktion isolieren> würden -, dann müßten uns Übereinkommen mit den Kadetten in mehr oder minder starkem Maße in Verteidiger der Kadettenpartei gegenüber der Bevölkerung verwandeln. An erster Stelle müßte dann für uns die Überlegung stehen, daß neben uns Sozialdemokraten noch andere Möglichkeiten bestünden, daß außer uns noch andere Parteien existierten, die für die Freiheit kämpfen, daß die Kadetten eine progressive Partei seien, daß sie sich für <Land und Freiheit> einsetzen usw. usf.

Wenn wir jedoch auf dem Standpunkt stehen, zur Isolierung und Zermalmung der Reaktion sei es unter anderem notwendig, im Bewußtsein der Bevölkerung politische Vorurteile zu zerstören; welche die Kadetten zu festigen bemüht sind, und dieses Ziel werde am besten dadurch erreicht, daß wir den Kadetten zu der Lage verhelfen, um die sie sich so bemühen und welche Qualitäten erfordert, die sie derzeit nicht einmal in ihren Träumen besitzen, dann bleiben wir ihre erbarmungslosen politischen Entlarver - sowohl auf der Ebene, auf der wir unmittelbar mit ihnen konkurrieren, als auch da, wo wir für sie stimmen werden.

Freilich sind die Kadetten eine progressive Partei, sicherlich ist Herr Petrunkevic unvergleichlich <besser> als Herr Puriskevic oder auch Herr Guckov, und natürlich setzen die Kadetten sich für <Land und Freiheit> ein. Wir Sozialdemokraten jedoch müssen den Kadetten die Möglichkeit geben, selbst all diese <unbestreitbaren Wahrheiten> zu beweisen: Sie sind daran hinreichend interessiert, und sie haben dazu einen gewaltigen Apparat an legalen Zeitungen und eine entsprechende Menge von Rednern, die über einen ganzen Katalog von Würden und Verdiensten der kadetischen Partei verfügen. In diese liberale Agitation müssen wir unser sozialdemokratisches Korrektiv einbringen: Sicherlich, so werden wir sagen, ist der Herr Petrunkevic besser als der Herr Puriskevic «das kleinere übel»; der Kern des Problems ist jedoch, daß die Taktik des Herrn Petrunkevic nicht geeignet ist, euch, Bürger, vor der Regierungsdiktatur des Herrn Puriskevic zu bewahren. Natürlich treten die Kadetten für <Land und Freiheit> ein, ihre politische Hegemonie jedoch wird dem Volk weder das eine noch das andere bringen. Ihr allerdings, Bürger Wähler und Bürger Wahlmänner, teilt diese unsere Ansicht in eurer Mehrzahl nicht. Ihr fordert, daß wir euch mit unseren Stimmen helfen, die Schwarzhundertleute zu erdrücken und den Herrn Petrunkevic in die Duma zu entsenden. Wir werden das auch tun, denn wenn der Herr Puriskevic in die Duma gelangt, wird er euch euren Glauben an Herrn Petrunkevic unversehrt bewahren helfen., und in eurem Bewußtsein wird alle Verantwortung auf uns fallen. Das wollen wir nicht: Wir kommen euch entgegen; wir stimmen für euren Kandidaten, um euch zu zeigen, daß ihr auf der falschen Bahn seid.

So werden wir auf den Wahlversammlungen sprechen. Und wenn unsere Motive für die Bürger, die ohnehin für die Kadetten zu stimmen willens sind, vorläufig noch bedeutungslos sein mögen, so werden sie für die sozialdemokratisch gestimmten Wähler, wenn wir sie veranlassen, für einen Abgeordneten zu stimmen, über den sie politisch bereits hinausgewachsen sind, absolut nicht bedeutungslos sein.

(…) Wie weiter oben gesagt, würden wir mit der ersten Argumentationsweise als Verteidiger der Kadetten auftreten, mit der zweiten - als ihr Entlarver..[20]

Zusammenfassend stellt Trotzki fest:

“Auf eine kurze Formel gebracht, könnte die Agitation in der ersten Argumentationsweise folgendermaßen vor sich gehen: obwohl der Kandidat NN als Kadet tausend Fehler aufweist, hat er mit all diesen Fehlern sowohl als oppositioneller Politiker wie auch als Streiter für <Land und Freiheit> die Qualitäten, das Volk in der Reichsduma zu vertreten.

Die zweite Formel wäre: Obwohl der Kandidat NN als Kadet tausend Qualitäten hat, [18] ist er trotz all dieser Qualitäten völlig unbrauchbar für den Kampf um <Land und Freiheit> - und um euch das zu beweisen, helfen wir euch, ihn in die Reichsduma zu entsenden.

In diesem Unterschied liegt eine ganze Welt politischer Agitation.”[21]

Bezogen auf die zwischen uns geführte Diskussion sind wir der Ansicht, daß der von Trotzki formulierte Ansatz für die Bekämpfung des Liberalismus in der demokratischen Revolution Rußlands Pate gestanden hat, bei der Theoretisierung der Erfahrungen der russischen Revolution in Sachen Einheitsfrontpolitik. Er wurde bezüglich des Liberalismus bis zum Auseinanderjagen der konstituierenden Versammlung Rußlands im Jahre 1918 fortgesetzt und bezüglich der Sozialrevolutionäre (die Trotzki ebenfalls zum Lager des Liberalismus zählte, sogar noch danach). Mit der Februarrevolution wurde diese taktische Herangehensweise auch auf das menschewistische Spektrum angewandt.

Wir sehen keinen überzeugenden Grund, diese hervorragende Methodik, den Einfluß bürgerlich-reformerischer Parteien auf das Proletariat zu bekämpfen, im Falle der modernen sozialdemokratischen und neosozialdemokratischer Parteien aufzugeben. Dies nicht zuletzt deshalb, weil wir den Eindruck haben, daß Eure Ablehnung der Anwendung der Einheitsfronttaktik einer taktischen Schule gilt, die mit dem bolschewistischen Verständnis dieser Politik und mit der Position Trotzkis nur sehr oberflächlich betrachtet etwas zu tun hat.

7. Kritik Eurer “Kriterien zur Definition einer bürgerlichen Arbeiterpartei”

Wir haben in den bisherigen Ausführungen bereits durchscheinen lassen, daß wir die Herleitung Eurer Position zur Sozialdemokratie für methodisch bedenklich halten. Wir möchten dies anhand der von Euch entwickelten “Kriterien zur Definition einer Arbeiterpartei” näher darlegen.

Zunächst ist festzuhalten, daß hier bereits Eure Terminologie einen methodischen Gegensatz zum dialektischen und historischen Marxismus andeutet: Der Marxismus analysiert die Entstehung und Entwicklung einer Partei als historischen Prozeß. Die betreffende Partei wird als organisatorischer und politischer Ausdruck von Klasseninteressen gefaßt und insofern ihre Stellung zu den Grund- und gegebenenfalls Zwischenklassen der Gesellschaft als sich entwickelnder Komplex von gesellschaftlichen Verhältnissen erfaßt. Verändert eine Partei (wie die Parteien der II. Internationale generell) ihren Klassencharakter, kommt es darauf an zu analysieren, wie dieser qualitative Bruch durch welche quantitativen Veränderungen wann zustandekam.

Ihr geht hingegen einer historisch-materialistischen Analyse aus dem Wege und definiert stattdessen, anhand von Euch festgelegter “Kriterien”, was eine “bürgerliche Arbeiterpartei” sein soll. Damit geht Ihr nicht nur der Frage aus dem Weg, wie und vor allem wann der qualitative Wandel erfolgte, sondern macht den Weg frei für völlig beliebige voluntaristische Feststellungen. Nunmehr könnt Ihr nämlich unter Hinweis auf die banale Tatsache, daß die sich die reformistischen Parteien laufend verändern, nach subjektivem Belieben jede Veränderung zum Anlaß nehmen, eine neue Qualität zu behaupten. Damit steht Ihr nicht allein, wie an mehreren Beispielen jüngerer Debatten noch gezeigt werden soll. Doch zurück zu Euren Kriterien:

a) Das Programm

Als erstes, und “entscheidendes” Kriterium benennt Ihr das “grundlegende politische Programm” einer Partei. Ausdrücklich grenzt ihr dieses “grundlegende politische Programm” von umstandsgebundenen Wahlprogrammen ab und betont, gemeint sei die “historische Tradition”, in die sich eine Partei stellt. Nur dieses Programm bestimme eine Partei als “Arbeiterpartei oder als eine “reformistische”. In der Auseinandersetzung mit Kritikern schreibt ihr sogar, daß es auf das offizielle Programm einer Partei ankomme.

Diese Auffassung ist nicht die der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Engels z.B. schrieb in einem Brief an August Bebel: “Im allgemeinen kommt es weniger auf das offizielle Programm einer Partei an, als auf das, was sie tut.”[22] Entsprechend hieß es bei Marx im Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie, daß man das, was ein Individuum oder sogar eine ganze Epoche ist, nicht nach dem beurteilt, wie es bzw. sie sich selbst einschätzt, sondern durch die Analyse ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse[23]. Auf diese Aussage verwies bereits Trotzki: “Die Sozialdemokratie wäre höchst naiv, wollte sie ihre Perspektiven auf den offiziellen Erklärungen anderer Parteien aufbauen. Wir bewahren die klassischen Worte unseres alten Marx sehr wohl im Gedächtnis, daß man das Wesen einer Partei so wenig nach ihren Deklarationen beurteilen könne, wie den Charakter eines Menschen danach, was er sich selbst dünkt.[24] Legt man diesen Maßstab an, hat man natürlich keine Schwierigkeit festzustellen, daß heute sowohl die Politik der französischen als auch die Politik der deutschen Sozialdemokratie grundlegend bürgerlich sind. In den Ausführungen zur Erläuterung dieses Kriteriums verzichtet ihr bezeichnenderweise auf eine historische Analyse. Diese würde unweigerlich klar machen, daß die sozialdemokratischen Parteien schon seit 1914 eine durchgehend bürgerliche Politik betreiben. Was also rechtfertigt Eure Position, zu behaupten, ein weiterer qualitativer Wandel sei im Jahre 1980 erfolgt? Wenn wir davon ausgehen, daß die bürgerliche Sozialdemokratie nach 1914 die Antithese zur proletarischen Sozialdemokratie vor 1914 war, was soll dann nach 1980 gewesen sein?

Anstelle einer methodisch nachvollziehbaren Antwort flüchtet ihr in die Weiten der Empirie.

b) Die Regierungspraxis

Hier kommt Euer zweites “Kriterium” ins Spiel, die “Regierungspraxis”: Ihr stellt im Kern ganz richtig fest, daß im 20. Jahrhundert jede reformistische Partei, die sich an einer Regierung beteiligte, eine “konterrevolutionäre oder antirevolutionäre Politik” betrieben hat. “Das sei die ihr anvertraute Mission im Rahmen bürgerlicher Staaten gewesen, wenn die traditionellen Parteien der Bourgeoisie allein nicht mehr dazu in der Lage waren, die Wut der proletarischen und Volksmassen zu kanalisieren.” Weil das in dieser Absolutheit nicht auf alle Fälle reformistischer Regierungsbeteiligung zutrifft, gesteht Ihr schließlich zu, daß die Bourgeoisien es in einer gewissen Anzahl von Fällen sogar auch ohne jeden Hauch einer revolutionärer Lage zuließen, daß die Sozialdemokraten die Regierungsmacht innehielten. Zunächst scheint es, als würdet Ihr dieses Zugeständnis relativieren, aber dann widerspricht dieses Zugeständnis bei näherem Hinsehen doch der ersten Aussage: “In allen diesen Fällen handelte es sich um einen kurzfristigen, mittelfristigen oder langfristigen historischen Kompromiß mit der Bourgeoisie.” Abgesehen davon, daß es sich in allen diesen Fällen seit 1950 um Regelfälle bürgerlicher Herrschaftsausübung handelte, ist hier für uns völlig unverständlich, worin darin ein “historischer Kompromiß” mit der Bourgeoisie gelegen haben soll?

Der Imperialismus befand sich bis in die siebziger Jahre hinein in einer Boomperiode; es herrschte zunehmend ein günstiges Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf den Arbeitsmärkten und im Austausch für die Wahrung des “sozialen Friedens” war die Bourgeoisie in der Lage und angesichts des Ost-West-Gegensatzes auch willens, der Arbeiterklasse Zugeständnisse zu machen. Da kamen die sozialdemokratischen Reformisten gerade recht, um der Arbeiterklasse die Illusion zu vermitteln, sie sei im Kapitalismus auf Dauer besser aufgehoben, als im Sozialismus.

Anstatt diese besondere historische Situation in Rechnung zu stellen, behauptet Ihr, es sei eine Art Existenzbedingung des Reformismus gewesen, in dieser Phase der kapitalistischen Entwicklung als Regierungsparteien die Errungenschaften der Arbeiterklasse nicht angegriffen zu haben: “nicht, weil sie Freunde des Proletariats waren, sondern, weil diese Errungenschaften die Bedingung ihrer eigenen Macht waren.” Diese These hat keinerlei Substanz.

Wenn sie überhaupt irgendeinen Sinn machen soll, dann den, in der Boomphase der Weltwirtschaft eine bewußte, gegen die Forderungen der Bourgeoisie gerichtete und einen Konflikt mit den Bourgeoisien in Kauf nehmende Politik des Reformismus zu suggerieren. Einen solchen Konflikt hat es aber nirgendwo gegeben. Die sozialdemokratischen Reformisten brauchten danach auch nirgendwo gezwungen zu werden, die Anforderungen des Kapitals an die bürgerliche Regierungspolitik in die Tat umzusetzen. Sie taten das ab Ende der siebziger Jahre von selbst und ganz freiwillig. Die Regierung der Union der Linken unter Mitterrand beugte sich Anfang der achtziger Jahre ohne viel Federlesens den Forderungen des Kapitals.

Ihr schreibt selbst, daß die sozialdemokratisch geführten Regierungen um das Jahr 1980 (in Deutschland seit 1974) überall dazu übergingen, diese Errungenschaften abzubauen und systematisch anzugreifen, weil sich die ökonomische Boomperiode der Nachkriegszeit erschöpft hatte. Dies führte bei Wahlen seit 1980 immer wieder zu einer gewissen Erosion der sozialdemokratischen Parteien, hinderte sie jedoch nicht daran, wenig später, wenn sich bürgerliche Regierungen dank derselben Art von Politik ebenso verschlissen hatten, dennoch wieder bürgerliche Regierungsgeschäfte zu führen. Sie erhält diese Möglichkeiten nicht deshalb, weil sie das ungebrochene Vertrauen der breiten Masse der Lohnabhängigen genießt, sondern in aller Regel deshalb, weil das Proletariat keine greifbare Alternative zum Reformismus der Sozialdemokratie sieht.

Ihr stellt die zentrale These auf, daß diese Entwicklung einen Wandel der Natur bzw., wie wir es ausdrücken würden, des Klassencharakters der Sozialdemokratie bedeutete. Die Folge sei auf breitester Ebene ein Bruch der Arbeiterklasse mit den reformistischen Parteien und, soweit Arbeiter weiter diese Parteien wählen würden, geschähe dies nicht, weil sie die Illusion hätten, die Reformisten würden eine Politik in ihrem Interesse betreiben. Sie würden nur das kleinere Übel wählen.

Ihr überseht dabei einige “Kleinigkeiten”. Erstens, daß die Wahl der Sozialdemokratie als “kleineres Übel” nur ein anderer Ausdruck dafür ist, daß nach wie vor erhebliche Teile der Arbeiterklasse die Illusion hegen, daß der sozialdemokratische Reformismus ihre Tagesinteressen innerhalb des kapitalistischen Systems wenigstens etwas besser vertritt sowohl als die klassisch bürgerlichen Parteien als auch besser als die revolutionären Marxisten. Zweitens zeigt dieser Umstand, daß nach wie vor große Teile der Arbeiterklasse sogar eine schlechte Interessenvertretung innerhalb des Kapitalismus für relevanter halten als den Kampf für eine revolutionäre bzw. sozialistische Perspektive. Die These, die Arbeiterklasse habe keine Illusionen in die Sozialdemokratie, erweist sich somit als reines Wunschdenken, um nicht zu sagen als schwerwiegender Realitätsverlust.

Was bei Euch bleibt, ist ein Spiel mit Worten bar jedes realen klassenpolitischen Inhalts, nämlich, daß eine Partei, die keine Reformen mehr durchführt und die Ergebnisse früherer Reformen zerstört, “notwendig aufhört, eine reformistische Partei zu sein”. Das Verhalten des realen Proletariats der imperialistischen Länder straft diese oberflächliche und formallogische Argumentation Lügen.

Schließlich kollidiert auch die These, daß das ganze in der Geschichte des Reformismus ein neues Phänomen sei, mit dem realen Geschichtsverlauf. Schon die reformistischen Parteien der Zwischenkriegszeit zogen es in der damaligen kapitalistischen Krise vor, Kapitalinteressen gegen Arbeiterinteressen zu vertreten. In Deutschland unterstützte die SPD z.B. das bonapartistische Notverordnungsregime Brüning, das drastischen Sozialabbau betrieb. Den Ausweg aus der Krise durch die Verwirklichung einer kämpfenden Einheitsfront mit den Kommunisten fürchteten sie mehr als den Faschismus. Teile der sozialdemokratischen Führung versuchten später sogar, sich mit den Nazis zu arrangieren.

In Eurer mit der Groupe Bolchevik geführten Diskussion, die ja leider wenig fruchtbar verlaufen ist, haltet ihr diesem Umstand entgegen, daß die SPD damals an diesen Maßnahmen nicht als Regierungspartei beteiligt gewesen ist und es wegen ihres Charakters bzw. ihrer Natur als reformistischer Arbeiterpartei auch nicht hat sein können. Ihr konstruiert daraus sogar das Hauptmotiv der Bourgeoisie, in dieser Krisenphase auf die Dienste der Sozialdemokratie zu verzichten.[25] Es habe der Einführung eines Präsidialregimes bedurft, um das tun zu können. Die SPD habe aber zuvor als Regierungspolitik Reformen im Interesse der Arbeiterklasse durchgesetzt.

Diese Behauptungen haben uns in Erstaunen versetzt:

Die einzige große Reform der zwanziger Jahre, der 8-Stunden-Tag als Normalarbeitstag, war ein Produkt der Novemberrevolution und somit ganz klar ein Erfolg aller Strömungen der Arbeiterbewegung. Dasselbe gilt für das Frauenwahlrecht. Kein ernstzunehmender Historiker verzeichnet diese Reformen als Erfolg speziell sozialdemokratischer Strategie und Politik. Mit einer einzigen Ausnahme sind übrigens alle großen Sozialreformen in Deutschland von den traditionellen bürgerlichen Parteien beschlossen worden — um der revolutionären Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen - und um die Kapitalverwertungsbedingungen bezüglich des variablen Kapitals zu verbessern (Krankenversicherung). Anders verhält es sich (nur teilweise) mit der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die 1968 gemeinsam von der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD verabschiedet wurde.

Die Weimarer Republik sah präsidiale Notverordnungen übrigens institutionell vor. Es handelte sich nicht um einen Bruch wie beim Übergang von der Vierten zur Fünften Republik wie in Frankreich. Auch Eure These, daß die SPD durch ihre “Natur” gezwungen war, auf eine offen verräterische Politik zu verzichten, ist angesichts ihrer damaligen Haltung während der Weltwirtschaftskrise und gegenüber dem Faschismus nicht mit der Realität in Übereinklang zu bringen. Die “Natur” ihrer Parteien hat die sozialdemokratischen Führer noch an keinem Verrat gehindert. Daran ändert auch nichts, daß Reformisten in solchen Krisensituationen zu versprechen pflegen, daß sie später, in besseren Zeiten, ihre Politik wieder ändern werden. Für Eure These, daß die Bourgeoisie aus diesem Grund und, weil sie einen Bruch der Masse der Arbeiterklasse mit der SPD befürchtete, auf die Dienste der SPD verzichtete, gibt es keinerlei historische Belege. Zunächst ist festzustellen, daß dies in den zwanziger und dreißiger Jahren keineswegs zum Verlust jeder proletarischen Massenbasis der SPD führte - genausowenig wie in den achtziger Jahren. Außerdem unterstellt Ihr der deutschen Bourgeoisie damit insgesamt ein kollektives Bewußtsein für ihr Handeln, das bisher noch kein Historiker (ohne eine einzige Ausnahme) auch nur bei einem einzigen Zusammenschluß von Kapitalisten entdeckt hat. Ganz nebenbei mißachtet Ihr auch ohne Not die bisher unübertroffene Analyse Trotzkis.

In “Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats” schrieb Trotzki 1932: “Die Sozialdemokratie ist ungeachtet ihres Arbeiterbestandes eine vollständig bürgerliche Partei, unter >normalen< Bedingungen vom Standpunkt der bürgerlichen Ziele sehr geschickt geführt, doch unter den Bedingungen der sozialen Krise zu nichts tauglich (…) Die Sozialdemokratie hat Stimmen und Mandate deshalb verloren, weil der Kapitalismus in der Krise sein wahres Antlitz enthüllte. <Die Krise hat die Partei des >Sozialismus< nicht gestärkt, sondern im Gegenteil geschwächt, so wie sie die Handelsumsätze, Bankenkassen, Hoovers und Fords Selbstvertrauen, die Einkünfte des Fürsten von Monaco usw. geschwächt hat. (…) Kann es einen unwiderlegbareren Beweis des bürgerlichen Charakters der Partei geben?”[26] Er rekurrierte damit auf dieselbe Art von sozialdemokratischer Praxis, die heute die Sozialdemokratie betreibt: Bürgerliche Politik bis zur Selbstzerstörung, möge man sie wie heute in Deutschland Neoliberalismus oder in Frankreich Liberalismus nennen. An anderer Stelle analysiert Trotzki, weshalb die SPD dennoch ihren Masseneinfluß halten konnte. Dazu unten mehr.

c) Die Sozialstruktur der Sozialdemokratie

Die von Euch aufgeführten empirischen Veränderungen der Sozialstruktur als drittes Kriterium zur Bestimmung dessen, was eine bürgerliche Arbeiterpartei ist, sind für uns interessant, weil sie sich auf uns sonst nicht so leicht zugängliche Daten der französischen Sozialdemokratie stützen. Ähnliche Veränderungen haben auch in der deutschen und anderen Sozialdemokratien in imperialistischen Ländern stattgefunden. Im Hinblick auf die Analyse der Natur bzw. des Klassencharakters der Sozialdemokratie sind sie aus trotzkistischer Sicht, wie die eben aufgeführte Trotzki-Aussage, der die Klassennatur des Reformismus “ungeachtet ihres Arbeiterbestandes” bestimmt, zeigt, irrelevant. Sie belegen, daß der Verbürgerlichungsprozeß der Sozialdemokratie je nach Land in nur wenig unterschiedlichen Tempi weitergeht. Nicht mehr, nicht weniger. Eine Gefahr besteht jedoch darin, diese nach Kriterien der bürgerlichen Sozialforschung bzw. der Parteiensoziologie erhobenen Daten mißzuverstehen, die mit nichtmarxistischen Kategorien arbeiten (der Arbeiterbegriff dieser Studien hat z.B. mit dem Marxschen Begriff der Arbeiterklasse nichts zu tun).

Schlußfolgerung:

Diese vorgenannten Feststellungen Trotzkis verweisen auf zwei von Euch gemachte, aber inhaltlich verbundene Fehler: Erstens ist Eure Reformismustheorie falsch. Ihr unterstellt ihm bis 1980 faktisch eine Art klassenpolitischen Zwittercharakter, den er bei der Komintern zu Lenins Lebzeiten und auch in der Theorie Trotzkis niemals hatte.

Die Sozialdemokratien sind als Arbeiterparteien entstanden, als Ausdruck der organisatorischen und politischen Unabhängigkeit des Proletariats. Seit 1914 sind sie politisch vollständig bürgerliche Parteien, die sich wenigstens auf Teile der Arbeiterklasse stützen. Als Organisationen symbolisieren sie noch die Notwendigkeit einer unabhängigen Politik der Arbeiterklasse, wie auch die Labour Parteien. Nur insofern stellen sie ein fortschrittliches Moment im Klassenkampf dar. Jede Theorie, die von einem Zwitter- oder Doppelcharakter des Reformismus ausgeht, war ein revisionistischer Reflex des Nachkriegsbooms des Imperialismus in der trotzkistischen Bewegung[27]. Angesichts der Entwicklung der sozialdemokratischen Politik seit den siebziger Jahren wurde diese zentristische Theorie (nicht nur des Lambertismus sondern auch des Pablismus und der Grant-Tendenz) immer unhaltbarer.

Der zweite Fehler besteht darin, aus der Natur des sozialdemokratischen Reformismus zwingend feststehende Taktiken gegenüber der Sozialdemokratie ableiten zu wollen. Zwar ergibt sich daraus die Notwendigkeit, gegenüber der Sozialdemokratie die Grundsätze der Einheitsfrontpolitik anzuwenden. Diese sind jedoch wesentlich flexibler und wesentlich weniger schematisch als es die zentristischen Traditionen der verschiedenen Strömungen der trotzkistischen Nachkriegsbewegung vermuten lassen. Unseres Erachtens nach verlangen diese Grundsätze weder, unabhängig von Zeit und Raum zur Einheit aufzurufen, noch dazu, bei Wahlen reformistische Kandidaten bzw. Parteien zu unterstützen etc. etc. Die jeweilige Entscheidung muß auf der Grundlage konkreter Analysen der Klassenkampfsituation, der Möglichkeiten der Revolutionäre etc. getroffen werden.

Wir haben den Eindruck, daß Ihr Eure neue Theorie der Sozialdemokratie entwickelt habt, um ein für alle mal eine Rückkehr zu alten lambertistischen Taktiken gegenüber der Sozialdemokratie auszuschließen. Der Preis, den Ihr dafür zahlt, ist hoch: Ihr könnt das nur tun, indem Ihr den taktischen Schematismus des Lambertismus bis 1980 von jeder Kritik ausnehmt und den Schematismus als solchen perpetuiert. Mit dieser Herangehensweise steht ihr nicht allein. Das Komitee für eine Arbeiterinternationale (KAI/CWI) ist methodisch ebenso vorgegangen. Bei ihm wurde der vorgebliche qualitative Wandel des Reformismus auf das Jahr 1992 datiert. In der Gruppe Internationale Marxisten, der früheren deutschen Sektion des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale, datierte eine entsprechende Strömung den Wandel der deutschen Sozialdemokratie auf das Jahr 1959, als diese aufhörte sich zum Endziel des Sozialismus zu bekennen. Teile derselben Strömung, inzwischen als Revolutionär-Sozialistischer Bund organisiert, proklamieren inzwischen einen weiteren qualitativen Bruchpunkt im Jahr 1995[28]. Diesmal vom “Sozialliberalismus” zum “Neoliberalismus” (wo da die klassenpolitisch neue Qualität liegt, erklärt sie nicht). Diese Beispiele unterstreichen unsere These, daß es sich hier um ein methodisches Vorgehen handelt, das den historischen Materialismus durch Empirismus ersetzt und so zu völlig beliebigen Ergebnissen kommt.

05.05.2008


[1]Groupe Communiste Révolutionnaire Internationaliste — Gruppe Revolutionärer Internationalistischen Kommunisten. Die Gruppe CRI hat sich mittlerweile der neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) angeschlossen.
[2]Aus der Grant/Wood Tendenz sind in Deutschland die SAV und “Der Funke” hervorgegangen, der ausschließlich in der “Linken” arbeitet.
[3]“Il était juste, notamment, d’appeler à ce qu’ils s’unissent sur la base d’un programme ouvrier et meme d’appeler tactiquement à voter pour eux malgré leur programme réformiste quand il s’agissait d’infliger une défaite aux partis directement représentatifs de la bourgeoisie.”
[4]Gemeint ist eine Art Mindestprogramm als Voraussetzung für den Eintritt von Kommunisten in eine Koalitionsregierung von Arbeiterparteien.
[5]“…incomprehension du fait que le réformisme, courant politique bourgeoise dirigeant le mouvement ouvrier ne peut >nuire aux interest du proletariat<, c’est-à dire de la revolution…qu’au prix de l’obtention de réformes ameliorant réellement les conditions de vie immédiates du proletariat.
[6]Leo Trotzki: Die >dritte Periode< der Fehler der Komintern, 08.01.1930, in: Schriften 3, Linke Opposition und IV. Internationale, Bd. 3.3, S. 215 ff (257-260)
[7] Selbst die Partei “Die Linke” tut dies. Auf parlamentarischer Ebene nicht einmal ungeschickt. So hat sie den Text eines Gesetzentwurfs zum Mindestlohn, für den die SPD Unterschriften gesammelt hat, im Parlament zur Abstimmung gestellt. Um ihre Große Koalition mit der bürgerlichen CDU zu retten, war die SPD gezwungen, gegen ihren eigenen Gesetzentwurf zu stimmen! Allerdings hat die “Die Linke” daraus keine offensive Massenkampagne gemacht, sondern, wie üblich, alles dem Echo ihrer Presseerklärungen in den bürgerlichen Medien überlassen.
[8]Die von Erwin Wolf (unter dem Namen Nicole Braun) in der Broschüre “Die Massenzeitung” zusammengefaßte Diskussion Trotzkis mit den französischen Trotzkisten während der Zeit des Entrismus in der SFIO illustriert diese Tendenzen mit außerordentlicher Klarheit.
[9]Michel Pablo: Über die Arbeiter- und Bauernregierung. Mai 1946, einzige Veröffentlichung in deutscher Sprache in: Internationales Sozialistisches Forum Nrn. 3-4, Köln, Juni 1980, S. 36 ff (51f)
[10]Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale, Essen 1970, S. 26
[11]Leo Trotzki: Zur Verteidigung der Partei, In Schriften zur revolutionären Organisation, Hamburg 1970, S135 ff (139f)
[12]La Gauche vom 24.12.1960
[13]La Gauche, 14.01.1961
[14]Dieter Wilhelmi: GIM-Kritik, in: Internationales Sozialistisches Forum, Jhg. 1 (1980), S. 53 ff (86-03).
[15]Leo Trotzki: Zur Verteidigung der Partei, In Schriften zur revolutionären Organisation, Hamburg 1970, S135 ff (149)
[16]ebenda, S. 150
[17]Ebenda, S. 151
[18]Ebenda, S. 152
[19]Ebenda, S. 159
[20]Ebenda, S. 159-162
[21]Ebenda, S.163
[22]Engels: Brief an August Bebel vom 18. März 1875, in: Friedrich Engels, Briefe an Bebel, Berlin 1958, S.19
[23]Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie.Vorwort; in: MEW Bd. 13, S.9
[24]Leo Trotzki: Zur Verteidigung der Partei, in: Schriften zur revolutionären Organisation, Hamburg 1970, S. 135 ff (165)
[25]“Que la social-démocratie, pour éviter la mobilisaion des masses, joue un rôle contre-révolutionnaire et soutienne dans les faits, voire parfois explicitement, un gouvernement bourgeois, c’est evident. Mais, (…) la social-démocatie a justement été > exclue du gouvernement après l’instauration du regime presidential <. Or il faut se demander pourquoi: pourquoi la bourgeoisie a-t-elle justement considerée que, si elle pouvait compter sur le soutien de la social-démocratie dans la lutte de classe (pour briser la revolution et canaliser la classe ouvrière) elle ne pouvait en revanche plus la metre au pouvoir quand il s’agit de briser les acquis sociaux? — Précisement, parce que la bourgeoisie savait très bien que cela conduirait a une transformation de la nature meme du SPD, donc à une rupturemassive de la classe ouvrière socialiste avec lui, et par la meme, à la perte de cette soupape de sûreté fondamentale que constituait la social-démocratie”; dans: Que cherche le Groupe Bolchevik?, chapitre a) Sur la question des parties ouvriers-bourgeois aujurd’hui.
[26]S.79
[27]Ein geradezu idealtypisches Beispiel hierfür liefert der RSB in Deutschland: “Jede reformistisch-sozialistische Partei ist eine bürgerliche Partei, weil sie letztendlich die kapitalistische Ordnung einer sozialistischen Revolution vorzieht. Sie hat einen Doppelcharakter, insofern sie an ihren sozialistischen Zielen festhält und/oder ArbeiterInnen klassenmäßig organisiert”, in: “Die SPD- eine bürgerliche Partei”, Avanti, 01.03.2000. Nichts illustriert besser die Unsinnigkeit dieser Theorie als der Umstand, daß die marxistische Einschätzung der gesellschaftlichen Rolle der sozialdemokratischen Parteien damit von deren Parteitagsbeschlüssen abhängig gemacht wird…, bzw. davon, ob noch eine Arbeitersportbewegung und andere sozialdemokratische Vereine existieren.
[28]Vgl. http://www.rsb4.de/index.php?option=com_content&task=view&id=934&ltemid=9

Querverweise: