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Brexit - ein Gespenst geht um in Europa

Die vorherrschenden Teile der nationalen herrschenden Klassen der EU-europäischen Staaten sind sich einig: Sie wollen, daß Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt. Das gilt für das kontinentale wie das britisch-insulare Europa. Natürlich wissen sie alle, daß ein Austritt Großbritanniens aus der EU allein nicht das Ende der politischen und militärischen Zusammenarbeit oder gar der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den verbleibenden EU-Mächten und Großbritannien bedeuten würde. Aber wenn die vorherrschenden Mächte in der EU angesichts der virulenten Krise des Euro und der EU insgesamt keine Serie weiterer Austritte riskieren wollen, müssen sie gegen ein Land, das die EU verläßt, wirtschaftlich deutlich spürbare Maßnahmen ergreifen.

Das würde die ohnehin stagnierenden internationalen Märkte beeinträchtigen und zu Unruhe, weiteren Krisenerscheinungen und Erschütterungen führen. International operierende Konzerne mit Sitzen außerhalb der EU und Filialen in Großbritannien müßten um den freien Zugang zum europäischen Markt fürchten. Hinzu kommt, daß sich das Gewicht der EU im Kräftespiel der Weltpolitik verringern würde. Gleichzeitig würde der US-Imperialismus seinen wichtigsten Einflußagenten innerhalb der EU-Institutionen verlieren.

Die konservativen und extrem rechten Anführer der Brexit-Kampagne werden im Falle ihres Sieges schnell ihre Vorstellung aufgeben müssen, daß die Befreiung des Vereinigten Königreichs von vorgeblicher Brüsseler Vormundschaft und Diktaten zu einer Wiederherstellung einstiger britischer Größe, neuer wirtschaftlicher Blüte und zum Ende der Zuwanderung von Arbeitskräften führt. Die Stagnationskrise der internationalen Wirtschaft setzt sowohl Kontinentaleuropa wie Großbritannien die Rahmenbedingungen für die Weiterführung der kapitalistischen Politik — einschließlich zunehmender Migrationsströme von Proletariern, die sich bessere Lebensbedingungen erhoffen. Letztere werden durch vom Imperialismus geführte und geschürte Kriege noch verschärft.

Abhilfe könnte nur ein neuer Boom der imperialistisch verfaßten Weltwirtschaft schaffen. Aber der läßt sich weder durch die Vertiefung bzw. Ausweitung neoliberaler Politik noch durch eine neo-keynesianische Wende herbeiführen. In welcher Form auch immer, die Herrschenden aller kapitalistischen Länder werden den Klassenkampf von oben fortsetzen und so versuchen, die Profitraten ihres Kapitals zu steigern. Dazu gehört auch, durch die Zuwanderung weiterer Arbeitskräfte, den Konkurrenzdruck innerhalb der Arbeiterklasse im eigenen Land zu steigern. Gelingt dies nicht, emigriert das Kapital. Die kapitalhörige extreme Rechte wird daher auf Dauer nur die Aggressivität des Rassismus steigern, nicht aber die Migration nennenswert einschränken.

Was geht das Referendum über den Brexit die Arbeiterklasse an?

Für die Burgfriedenspolitiker, die Satten und Zufriedenen, für die Linken, die an die imperialistische Interessengemeinschaft von Kapital und Arbeit glauben und der Illusion anhängen, sie könnten den Kapitalismus krisenlos gestalten, sind das alles Argumente gegen den Brexit. Für Marxisten nicht. Die Tatsache, daß die Arbeiterklasse unabhängig davon, wie das britische Referendum über den Brexit ausfällt, überall mit weiteren neoliberalen Angriffen auf ihre Existenzbedingungen rechnen muß, ist noch lange kein Grund, der Debatte um den Austritt Großbritanniens aus der EU gleichgültig gegenüberzustehen.

Die Arbeiterklasse in Großbritannien hat gute Gründe, FÜR DEN BREXIT zu stimmen:

  1. Die herrschenden Klassen Großbritanniens und Kontinentaleuropas werden politisch und wirtschaftlich geschwächt;
  2. das United Kingdom geriete durch die Belebung schottischer Unabhängigkeitsbestrebungen in eine schwere Krise;
  3. die vorherrschende bürgerlich-monarchistische Partei, die Konservativen, dürfte ebenso in eine tiefe Krise gestürzt werden. Cameron wäre am Ende. Selbst eine Spaltung wäre möglich;
  4. auch die Dauerkrise der Labour Party würde vertieft. Der rechte Flügel würde zwar Corbyns Passivität in der Frage nach dem Brexit für eine Niederlage verantwortlich machen und die Messer gegen die Parteilinke wetzen, aber er verlöre die Eckpunkte seiner bisherigen Politik. Die Parteilinke stünde vor der Herausforderung, Corbyns Halbheiten zu überwinden und eine klare linke Politik zu entwickeln.

Die Europäische Union ist keine Staatenföderation und schon gar kein Bundesstaat oder gar ein supranationaler Staat einer Vielzahl von Nationen. Sie ist eine Bündnisstruktur von 28 souveränen kapitalistischen Staaten. Diese verwaltet auf der Grundlage freiwillig ausgehandelter Verträge Teile der Souveränität der Mitgliedsstaaten. Sie kann aber von den Mitgliedsstaaten jederzeit durch die Ausübung des Vetorechts gestoppt und durch Austritt verlassen werden. Der scheinbar supranationale Charakter der EU ist den herrschenden europäischen Klassen und ihren Regierungen willkommen, weil letztere für die Arbeiterklasse schmerzhafte Entscheidungen, denen sie in Brüssel zugestimmt haben, den innerstaatlichen Debatten entziehen kann. Dieses Spiel hat in der Vergangenheit gut funktioniert, aber auch zur Vertrauenskrise in die EU bzw. zur Europaskepsis beigetragen. Ein Brexit würde den Klassenkampf in Großbritannien offener und durchsichtiger machen.

Weil der Klassenkampf sowohl innerhalb der EU als auch außerhalb seiner Form nach innerstaatlich ist und bleibt, ist ein Brexit kein historischer Rückschritt, der die Entwicklung der international vergesellschaften Produktivkräfte zurückschraubt. Die Vertreter dieser Auffassung, so die britische Organisation Workers Power, haben den Charakter der EU nicht verstanden.

Last but not least wird sich eine europäische sozialistische Revolution nicht linear und gleichzeitig in allen Ländern der Europäischen Union entwickeln. Eine starke revolutionäre Bewegung in einem Land wird die Arbeiterklasse in anderen Ländern natürlich ermutigen, ebenfalls in Kämpfe einzutreten. Dennoch wird die internationale Revolution eine Kette nationaler Revolutionen sein, für die es keinen festen Zeitplan gibt. Wer glaubt, es sei Voraussetzung eines Kampfes um die Macht im eigenen Staat, daß dieser Kampf gleichzeitig in 27 weiteren Ländern mit unterschiedlicher Geschichte, unterschiedlicher Kultur und anderen Traditionen stattfindet, ist ein Phantast und wird niemals eine Revolution machen.

Was meint die britische Linke?

Die britische Arbeiterbewegung spielt in der Auseinandersetzung um den Brexit nur eine Nebenrolle. Erhebliche Teile der Arbeiterklasse halten die Frage nach dem Brexit für eine Angelegenheit miteinander konkurrierende Strömungen der Konservativen Partei und der Rechten. Der rechte Flügel der Labour Party unterstützt den Verbleib Großbritanniens in der EU. Corbyn, vom linken Flügel verehrt und in den siebziger Jahren gegen eine Integration ins kapitalistische Europa hat sich ohne Begeisterung gegen den Brexit ausgesprochen. Die meisten der der Klassenzusammenarbeit verschriebenen Gewerkschaftsführungen und der Gewerkschaftsdachverband (TUC) lehnen den Brexit ebenfalls ab. Eine Minderheit, der linke Flügel der Gewerkschaftsbewegung, will den Brexit.

Bei der Labourlinken sowie der extremen Linken findet sich eine Vielzahl von Positionen.

Auch hier finden sich aber Unterstützer eines Verbleibs in der EU. Da wird auf einen der Gründungsmythen der EU verwiesen, wonach die EU innereuropäische Kriege verhindere. Übersehen wird dabei, daß die Hauptmächte der EU nach dem Zerfall Jugoslawiens einen Krieg gegen Serbien geführt haben. Übersehen wird, daß die europäischen Verträge die EU-Staaten zu größeren Rüstungsanstrengungen und zur vertieften militärischen Zusammenarbeit verpflichten. Übersehen wird, daß sich nach 1990 mehr europäische Staaten an Kriegen außerhalb Europas beteiligt haben als es seinerzeit die größten Pessimisten vorhergesehen haben. Schließlich verweist die aktuell aufgebaute militärische Drohkulisse gegen Rußland darauf, daß ein stärker geeinigtes kapitalistisches Europa die Gefahr eines großen Krieges in Europa nicht verringert sondern erheblich vergrößert.

Natürlich finden sich auch Kräfte, die die EU erst demokratisieren und danach für eine breite soziale Reformoffensive umgestalten wollen. Das verheißt auch Corbyn. Syriza in Griechenland hat bewiesen, wie realistisch diese Perspektive ist. Aber letztlich hat auch Cameron selbst bewiesen, daß ein Wandel der EU durch die Neuverhandlung der europäischen Verträge keine relevanten Veränderungen der EU herbeiführt. Und das Argument, man müsse Teil der EU sein, um sich mit der kontinentalen Arbeiterbewegung internationalistisch verbünden zu können, ist einfach nur armselig.

Ein beachtlicher Teil der britischen Linken starrt wie gebannt auf die extreme Rechte (UKIP), die die Brexit-Kampagne dominiert und läßt sich dadurch in seiner Haltung massiv beeinflussen. Die Gruppe Socialist Resistance, die Schwesterorganisation von RSB und ISL, ängstigt sich so sehr davor, mit der extremen Rechten in einen Topf geworfen zu werden, daß sie den Brexit gleich ganz ablehnen. Workers Power, die britische Schwesterorganisation der Gruppe Arbeitermacht, erklärt sowohl die EU-Freunde wie die Brexit-Kampagne für reaktionär und konzentriert sich auf eine Kampagne gegen die Austeritätspolitik. Damit meldet sich die Organisation aus dem Brennpunkt der britischen Innenpolitik ab. Die Kommunistische Partei Großbritanniens erklärt von vornherein, es handle sich um einen internen Streit der Reaktion und ruft zum Boykott des Referendums auf — als ob die Arbeiterklasse die Politik der eigenen Bourgeoisie nichts angehe. Das Sektierertum läßt grüßen.

Die Socialist Party in England und Wales, Schwesterorganisation der deutschen SAV, und die Socialist Workers Party, verbunden mit Marx 21, sprechen sich für den Brexit aus. Beide bemühen sich um eigene, linke Brexit- Kampagnen, wobei die Socialist Party vor allem den Kampf gegen die Austeritätspolitik in den Vordergrund zu stellen scheint, die SWP dagegen den Kampf für eine internationalistische Einwanderungspolitik. Damit vertreten die beiden stärksten Organisationen der extremen Linken eine im Wesentlichen fortschrittliche Position.

Aus marxistischer Sicht ist eine klare Haltung zum Brexit unumgänglich. Dabei versteht es sich von selbst, daß klassenbewußte Kräfte eine politisch eigenständige Kampagne für den Austritt aus der EU führen müssen. Eine gemeinsame Propaganda mit den rassistischen Rechtspopulisten der UKIP und mit den nationalistischen Konservativen kann es nicht geben. Weder mit der EU noch mit den britischen Nationalisten hat die Arbeiterklasse Aussicht auf eine blühende Zukunft. Die gemeinsamen Aufrufe linker Gewerkschafter für den Brexit sind ein Anfang. Die Arbeiterklasse muß auf die eigene Stärke vertrauen und für eine britische Räterepublik in einem Europa sozialistischer Räterepubliken kämpfen.

Dieter Elken, 11.06.2016