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Deutschland nach den Wahlen:

Wie weiter mit der Diktatur der Bourgeoisie?

70 Prozent der Deutschen sind gegen den Afghanistankrieg, aber der Bundestag mit Ausnahme der Linken denkt nicht daran, die Teilnahme am Aggressionskrieg der NATO zu beenden. Die große Mehrheit der Bevölkerung lehnte und lehnt die sog. Agenda 2010 und mit ihr Hartz IV ab. Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sieht den Rentenbeginn mit 67 Jahren als das, was er ist, als Diebstahl von zwei Jahresrenten. Die Große Koalition focht das nicht an. Bürgerliche Demokratie ist, was der herrschenden Klasse nützt. Der Wille und die Meinungen der Bevölkerung sind unwichtig. Die Wähler mögen massenhaft zu Hause bleiben oder auch wählen, was sie wollen — das bürgerlich-parlamentarische System sorgt dafür, daß die Interessen der Arbeiterklasse in entscheidenden Fragen nicht zur Geltung kommen, jedenfalls auf parlamentarisch-staatlicher Ebene. Eben dies entlarvt die parlamentarische Demokratie als eine Form der Diktatur der Bourgeoisie.

Die offiziell zitierten Ergebnisse der Parlamentswahlen, die nur unter dem Gesichtswinkel der Sitzverteilung, also des Kräfteverhältnisses zwischen den Parlamentsfraktionen, formuliert werden, verschleiern die wirklichen Verhältnisse zwischen den Klassen. Sie verschleiern, daß die Parteien der Großen Koalition nur noch 39,66 % der Wahlberechtigten für sich mobilisieren konnten. Die jetzt in den Startlöchern sitzende schwarz-gelbe Koalition repräsentiert nur 33,75 % des deutschen Wahlvolks. Rechnete man die nicht wahlberechtigten Arbeitsimmigranten hinzu, die für das Kräfteverhältnis zwischen den klassen von erheblicher Bedeutung sind, repräsentierten Merkel, Westerwelle und Compagnie nicht einmal 30 % der Bevölkerung. Dennoch geht alle Welt von einem großartigen Sieg der Traditionsparteien des Kapitals und damit einem politischen Rechtsruck aus. Dieser Eindruck fußt auf dem Desinteresse an einer Beschäftigung mit den Motiven der Nichtwähler und der fehlenden Analyse ihrer Unzufriedenheit. Diese gehen in aller Regel nicht wählen, weil sie glauben, “die da oben machen ohnehin, was sie wollen”. Und die Wählerinnen und Wähler werden von den bürgerlichen Parteien systematisch getäuscht. Von breiter Zustimmung zur realen bürgerlichen Politik kann daher keine Rede sein.

Völlig abwegig ist es dennoch nicht, von einem Rechtsruck auszugehen.

Die Forderungen der Kapitalvertreter lassen an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig

Die deutsche Bourgeoisie nutzt die Erschütterung der Hauptakteure der parlamentarischen Bühne, um in bekannt dreister Manier ihre Forderungen an die neue Regierung Merkel-Westerwelle anzumelden. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Heinrich Driftmann, halluziniert: “Die Wähler haben ein deutliches Votum für eine mutige Reformpolitik abgegeben.” Er fordert ein “klares Programm für Wachstum”. Und: “Wir setzen darauf, dass die neue Bundesregierung insbesondere ihre steuerpolitischen Zusagen aus den Wahlprogrammen schnell in die Tat umsetzt." Zweiter Kernpunkt :”Eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes” sowie die Senkung der Staatsausgaben. Der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt forderte entsprechend im Hamburger Abendblatt “ausgabensenkende Strukturreformen in allen Zweigen der Sozialversicherung”. Die Abgabenbelastung für die Unternehmen müsse angesichts der andauernden Krise gesenkt werden. “Es ist zu befürchten, dass die Banken in den kommenden Monaten noch weniger Spielraum für die Vergabe neuer Kredite sehen, weil die Kreditrisiken steigen”. Er hält daher gleichzeitig weitere massive Staatseingriffe zugunsten des Kapitals für unausweichlich.

In den Unionsparteien finden diese Forderungen durchaus Gehör. Ihr Wirtschaftsflügel will Schluß machen mit der vorgeblichen Sozialdemokratisierung der Union und fordert naßforsch den Übergang zu einer noch reaktionäreren Politik. Eine solche Neuorientierung könnte ihre rechte, zur FDP offene Flanke durchaus stabilisieren. Aber dies ginge angesichts der anhaltenden Krise auf Kosten von weiteren Verlusten bei ihrem Arbeitnehmerflügel. Den können auch die Unionsparteien nur bei der Stange halten, solange dieser daran glaubt, er sei im Kapitalismus und bei fürsorglichen Kapitalisten am besten aufgehoben. Eine unverschleiert offene bürgerliche Politik ohne soziale Feigenblätter wird wie jüngst bei der CSU in Bayern zu massiven Stimmenverlusten und dem Verlust des Mythos “Volkspartei” führen. Dieser Faktor bremst den Offensivdrang des Wirtschaftsflügels. Die Teile der Union, die in besonderem Maße auf die Unterstützung von Teilen der Lohnabhängigen angewiesen sind, werden sich einer völlig blindwütigen Offensive zugunsten des Kapitals widersetzen. Das wird Merkel zögern lassen.

Die Stärke der Bourgeoisie ist die Schwäche der Arbeiterbewegung

Wenn die Sprecher der deutschen Bourgeoisie und ihre wichtigsten Vertreter sich heute trauen, “eine mutige Reformpolitik” zu fordern — gemeint und inzwischen kaum noch mißverstanden ist mit diesem Terminologiemißbrauch die Forderung nach der Zerstörung aller noch bestehenden sozialstaatlichen Reste - dann ist die wirkliche Ursache für diesen “Mut” nicht die Stärke des bürgerlichen Lagers, sondern die Schwäche der Arbeiterbewegung.

Skurrilerweise haben die ideologischen Fernwirkungen des Nachkriegsbooms der imperialistischen Wirtschaft und der Zusammenbruch der staatsbürokratischen Arbeiterstaaten, allen voran der der UdSSR und der DDR, in fast allen traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung aber auch z.B. bei den Grünen dafür gesorgt, daß der Kapitalismus als beste aller denkbaren Welten gilt. Damit einher ging der Irrglaube, den Kapitalismus krisenfrei halten zu können. Der Kapitalismus wurde sich schön gewünscht, damit sich die Funktionäre dieser Organisationen sich in ihm um so besser einrichten konnten. Reformistischer Realitätsverlust wurde als Realpolitik gefeiert. Dementsprechend wird in der BRD von Sozialdemokraten, Gewerkschaftsführern seit Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und von den Grünen spätestens seit ihrer Beteiligung an der Regierung Schröder 1998 behauptet, die Arbeiterklasse müsse Opfer bringen, damit es allen, Lohnabhängigen und Kapitalisten, wieder besser ginge. Den Unternehmern ging es dadurch tatsächlich besser, der Arbeiterklasse nicht. Ganz im Gegenteil. Die gestiegenen Profite des Kapitals konnten angesichts der Überproduktion von Kapital nur spekulativ angelegt werden. Der Weg in die 2008 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise war geebnet.

Die deutsche Sozialdemokratie hat für diese Art Politik schon bei den Wahlen 1982 eine Quittung erhalten und landete für 16 Jahre in der Opposition. Nach 1998 ging sie unter Schröder den gleichen Weg. Ihre Politik gegen die Interessen ihrer eigenen Wählerbasis kostete sie seitdem die Hälfte ihrer vormaligen Wählerinnen und Wähler. Müntefering und der rechte SPD-Apparat erwiesen sich als Totengräber der SPD. Keine Wahlniederlage war groß genug, diese Apparatschiks zum Nachdenken über die offenkundigen Ursachen ihres Niedergangs zu bringen —war dieser Kurs schließlich doch so lange gut gegangen. Jetzt ist die SPD so ausgeblutet, daß mehr als fraglich ist, ob sie selbst in der Opposition zu gemäßigt reformistischen Positionen zurückzukehren imstande ist. Sie ist nicht einmal in der Lage, die Hauptverantwortlichen für ihre Niederlagenpolitik in die Wüste zu schicken. Glaubwürdiges Ersatzpersonal hat sie nicht. Diejenigen, die wie Wowereit, Gabriel oder Scholz jetzt einen Kurswechsel der SPD fordern, haben selbst jahrelang eine neoliberale Politik betrieben.

Die Gewerkschaftsführungen bieten in dieser Lage ein Bild des Jammers. Statt jetzt endlich den Fehdehandschuh zu greifen, den ihr die Bourgeoisie schon seit mehr als 25 Jahren um die Ohren haut, fällt einem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer nicht mehr ein, als an Merkel zu appellieren, die Arbeitnehmerrechte nicht anzutasten. IG-Metall-Chef Berthold Huber bescheinigt Merkel Fairness gegenüber den Arbeitnehmern und hofft, daß Kanzlerin Merkel in dem Bündnis mit den Liberalen ihren "fairen Kurs gegenüber Arbeitnehmern und Gewerkschaften" weiterverfolgt. "Sonst gibt es hin und wieder Ärger und Krawall", sagte Huber im ZDF. Am Vorabend der Wahl hatte Huber betont: “Deutschland ist immer dann gut gefahren, wenn Kooperation und nicht Konfrontation die Politik beherrschten.” So kann man auch zum Ausdruck bringen, daß man nicht im Traum daran denkt, der zu erwartenden Kapitaloffensive ernsthaft entgegen zu treten.

Der Wahlerfolg der Linken kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es der Linken nicht gelungen ist, vom Vertrauensverlust der Sozialdemokratie massiv zu profitieren. Die Sozialdemokratie verlor vor allem an die Nichtwähler. Das dürfte auch mit dem Umstand zu tun haben, daß die Linke kein von der Regierungspolitik grundlegend unterschiedenes alternatives politisches Konzept anbot. Letztlich versprach sie nur, mit ein wenig mehr Staatsinterventionismus die Krise des Kapitalismus besser verwalten zu können. Entscheidend dürfte jedoch sein, daß die Linke keine ausreichenden Anstrengungen unternahm, praktischen, außerparlamentarischen Widerstand gegen die Regierungspolitik zu leisten. Dazu paßt, daß die Linke bisher jeden Konflikt mit DGB-Funktionären wie Sommer und Huber meidet. Effektiver außerparlamentarischer Widerstand aber ist ohne Auseinandersetzungen um den Kurs der Gewerkschaften nicht zu haben.

Die Führung der Linken denkt aber auch jetzt nicht daran, ihren Kurs zu ändern. Sie suggeriert, sie könne den Kapitalismus besser verwalten und die Krise durch eine soziale Politik überwinden. Sie strebt in die Regierungen, wenn auch vorerst nur auf Landesebene. Die verbalen Annäherungsversuche der SPD werden von der Führung der Linken aufgegriffen, um die Vision eines neuen, rot-rot-grünen Reformbündnisses an die Wand zu malen, das bis zum Jahr 2013 aber bestenfalls parlamentarische Schaumschlägerei betreiben wird. Bündnisse mit einer scheinreformierten Sozialdemokratie können aber nichts anderes zustandebringen, als das Berliner Regierungsbündnis mit seiner grauenhaften bürgerlichen Politik. Der rechte Flügel der Linkspartei deutet schon jetzt durch seine Bereitschaft, die NATO-Politik (Afghanistan) zu akzeptieren, an, daß er sich für größere Aufgaben, sprich: Regierungsverantwortung, bereithält.

Widerstand jetzt!

Die Arbeiterklasse steht somit vor der paradoxen Situation, daß sie erkennbar unzufrieden ist mit der herrschenden Politik. Aber ihre Organisationen verhindern bislang jeden Ansatz zu effektivem Widerstand, sei es durch politische Desorientierung, sei es durch Untätigkeit, sei es durch die Sabotage von Mobilisierungen durch den DGB-Apparat, durch fehlende Solidarität oder durch das Fehlen eines organisierenden Zentrums. Wenn es nach den parlamentsfixierten Reformisten geht, soll die Arbeiterklasse das Jahr 2013 abwarten, um einen neuerlichen Regierungswechsel herbeizuführen. Widerstand gegen die angekündigten politischen Schweinereien der schwarz-gelben Koalition ist aber nicht erst 2013, sondern schon jetzt erforderlich.

Der kleinen und zersplitterten radikalen Linken bleibt in dieser Lage keine andere Perspektive, als über punktuelle außerparlamentarische Kampagnen und Bündnisse die Linke (und auch die Gewerkschaftsführungen) in die Pflicht zu nehmen und dem sozialen Widerstand eine Plattform zu verschaffen — als Schritt zur Einflußnahme auf die Veränderung der Kräfteverhältnisse. Auf diesem Weg suchen wir Mitstreiter und Unterstützer.

Für die Marxistische Initiative gilt, was wir schon vor der Wahl vorschlugen:

Notwendig ist eine gemeinsame außerparlamentarische Kampagne aller Linken für die folgenden Ziele:

  • Für einen gesetzlichen 10 Euro Mindestlohn jetzt
  • Weg mit Hartz IV
  • Für die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich
  • Für den sofortigen Abzug von Bundeswehr und NATO aus Afghanistan

Wir setzen uns dafür ein, dass überall da, wo Betroffene kämpfen wollen, breitestmögliche Aktionseinheiten für diese Ziele hergestellt werden. Wir sind gleichzeitig dafür, die reformistischen Organisationen und Parteien, in die Pflicht zu nehmen und sie in diese Aktionen hineinzuziehen. Das strategische Ziel muss sein, die Gewerkschaftsführungen zu zwingen, sich am Kampf zu beteiligen.

Marxistische Initiative, 9.10.2009

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