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Noch einmal zum Februarstreik 1941: Wer hat den Streik begonnen?

Vorwort

Wir präsentieren unsere Leserinnen und Leser mit Stolz einen kleinen Beitrag eines Augenzeuge und Teilnehmers am historischen Streik gegen die Judenverfolgung in den Niederlanden. Sein Name ist Maurice Ferares und in den Fußnoten, die seinen Beitrag begleiten, befinden sich mehr Informationen über ihn.

Das deutsche Militär war am 10. Mai 1940 gleichzeitig in die Niederlande, in Luxemburg und Belgien eingefallen (Codenamen Fall Gelb). Es kam aus seiner Sicht zu langsam voran und deswegen beschloss Generalfeldmarschall Georg von Küchler die Kapitulation der Niederlande mit allen Mitteln zu beschleunigen. Konkret bedeutete das das Bombardement der Stadt Rotterdam am 14. Mai 1940, das als Vorbild für spätere Flächenbombardements dienen sollte. Die ganze historische Innenstadt wurde den Erdboden gleichgemacht. Zwischen 650 und 900 Menschen verloren ihr Leben und mehr als 80.000 Menschen wurden obdachlos. Nach der Drohung, Utrecht zu bombardieren kapitulierten die Niederlande.

Am 26. November 1940 fingen die Studenten in Leiden an, massiv gegen die Maßnahme der Besatzungsbehörden zu protestieren, alle Professoren und Dozenten jüdischer Herkunft zu entlassen. Der Streik dauerte ein paar Tage. Daraufhin wurde die Universität geschlossen. Die allgemeine Unzufriedenheit der arbeitende Bevölkerung, die schon vor dem Krieg existierte, kam am 17. Februar 1941 zum Ausdruck. Der erste große Arbeiterkampf fand statt auf einer Werft in Amsterdam wo 2200 Arbeiter gegen den „Arbeitseinsatz“ oder „Pflichtarbeitsdienst“ streikten. Andere Gründe wogegen die Arbeiter sich wehrten waren die niedrigen Sozialversicherungsleistungen und die Arbeitsbedingungen sowie gegen Dienstverpflichtungen. Sie verhinderten dadurch, dass 100 von ihren Kollegen nach Hamburg transportiert wurden. Schon 1940 hatten die Arbeiter bewiesen, dass sie nicht in Deutschland arbeiten wollten, indem sie Einberufungen der Behörden massiv boykottierten.

Und so kam es am 25. und 26. Februar 1941 in verschiedenen niederländischen Städten zum Streik gegen die erste anti-jüdische Razzia (am 22. und 23. Februar). Dieser historisch bedeutsame Streik wurde bekannt als Februarstreik, der erste Streik gegen die Judenverfolgung. Die Kombination von sozialem Elend und grausamer Verfolgung der jüdischen Mitbürger trieb die Arbeiter Amsterdams und anderer Städte zum Gebrauch der einzigen Waffe in ihrem Besitz, des Streiks.

Marcel Souzain

PS: Maurice Ferares hat gewünscht, dass sein ursprünglicher Beitrag, publiziert auf niederländisch am 2. März 2016, durch einige Zitate der Marx-Lenin-Luxemburg-Front ergänzt wurde.


Von Maurice Ferares (2. März 2016)

Von einem Teilnehmer des historischen Februarstreiks in Amsterdam 1941

Es ist ausgezeichnet, dass der Februarstreik[1] jedes Jahr gefeiert wird. Doch in der jüngsten Zeit sind hier und da merkwürdige Behauptungen aufgestellt worden[2]. Deshalb hier ein paar Kommentare eines Streikteilnehmers[3].

Rücken wir einige Tatsachen zurecht: Der Streik brach spontan aus und wurde nicht von der illegalen Kommunistischen Partei organisiert. Außerdem war der erste Aufruf zum Streik bereits in der illegalen Zeitung “Spartacus” der Marx-Lenin-Luxemburg-Front (MLL-Front)[4] von Henk Sneevliet[5], Willem Dolleman[6] und Ab Menist[7] erschienen. Ende Januar 1941 verbreitete die MLL-Front den folgenden Aufruf: “Die feige schreckliche Jagd auf die jüdischen Mitbürger hat angefangen. Arbeiter, Angestellte, Menschen der Mittelschicht: Beteiligt euch an Proteststreiks gegen diese brutale Gewalt.”[8] Die MLL-Front war die illegale Nachfolgerin der Revolutionären Sozialistischen Arbeiterpartei (RSAP)[9]. Dieser Aufruf hatte keine Wirkung, aber vielleicht hat er dazu beigetragen den Boden etwas reifer zu machen für den späteren Streik im Februar. (Sneevliet, Dolleman und Menist, sowie die anderen Leitungsmitglieder der MLL-Front wurden von den Deutschen am 13. April 1942 erschossen[10]).

Der Streik begann am 25. Februar 1941 auf dem Noordermarkt, wo sich eine Reihe von Mitarbeitern der Stadtreinigung versammelt hatten. Piet Nak[11] und Jan Willem Kraan[12] hielten Reden. Diese beiden waren vor dem Krieg Mitglieder der Kommunistischen Partei Holland (CPH)[13], wie die CPN damals hieß.

Sie wurden beide verhaftet. Piet Nak überlebte die Konzentrationslager, William Kraan wurde im November 1942 von den Deutschen erschossen. Seine Statue steht an der Ecke der Willem Kraanstraat und der Vlugtlaan in Amsterdam.

Die Führung der CPH wurde durch den Streik in Verlegenheit gebracht. Tatsächlich hatten Hitler und Stalin im August 1939 einen Nichtangriffspakt geschlossen, wobei unter anderem Polen zwischen Deutschland und der UdSSR aufgeteilt wurde und die baltischen Länder Estland, Lettland, Litauen und große Teile Finnlands und Rumäniens als Einflussgebiet der UdSSR festgelegt wurden.

Trotz der deutschen Besetzung der Niederlande und ohne durch die Besatzer daran gehindert zu werden, verbreiteten die Mitglieder der Vereniging Vrienden der Sovjet-Unie [Bund der Freunde der Sowjetunion][14] die Zeitschrift "Rusland van Heden" [Russland heute] bis zum Angriff Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941.

Am Tag des Streiks legten zunächst die Arbeiter der Müllabfuhr die Arbeit nieder. Nicht die der Straßenbahnbediensteten. Später am Tag legten die Arbeiter anderer städtischer Dienstleistungsbetriebe (darunter die Straßenbahner) und auch aus der Privatwirtschaft die Arbeit nieder. Am Nachmittag, stoppte der Verfasser dieses Artikels mit einer Gruppe von Menschen in der Rijnstraat eine Straßenbahn und jagte Passagiere plus Fahrer der Straßenbahn auf die Straße.

Bei der Stadtreinigung geschah das etwa zur Mittagszeit. Kurz darauf, ebenfalls um die Mittagszeit hat der Verfasser dieses Artikels, zusammen mit einer Gruppe von Leuten, in der Rijnstraat eine Straßenbahn gestoppt und alle Fahrgäste und den Fahrer davongejagt.

Der Verfasser dieser Zeilen, damals Mitglied der illegalen CPH, hat das berühmte Flugblatt der CPH in dem das Wort STREIK dreimal hintereinander wiederholt wurde, maschinengeschrieben. Es ist wahrscheinlich, dass das Flugblatt an verschiedenen Orten in Amsterdam produziert wurde. Das gleiche geschah mit der illegalen Zeitung De Waarheid[15], die wir (mit-) produzierten. Mit wir, meine ich: den Bildhauer Huib van Lith[16] der die Texte in Cor Basarts[17] Atelier gebracht hat. Cor Basart war Maler und wohnte in der IJsselstraat. Zu dieser Zeit war der Streik bereits ausgebrochen. Cor zeichnete die Überschriften der Zeitung und der Flugblätter, wobei er manchmal von Cor van Teeseling[18] unterstützt wurde, einem Bildhauer, der später verhaftet und erschossen wurde.

Der Verfasser dieses Artikels tippte den Text der Artikel auf Schablonen. Der Druck erfolgte im Hause der Familie Dekker (eine Familie mit sechs Kindern und einem Vater, der lange Zeit ohne Arbeit war)[19] in der Noorderstraat. Von einer gut laufenden und umfassenden Organisation der CPH konnte nicht die Rede sein. Aus Sicherheitsgründen wurden nur sehr wenige Basismitglieder der Partei aus der Vorkriegszeit an der illegalen Arbeit beteiligt. Es ist den spontanen Aktionen von Basismitgliedern zu danken, dass die Führung der CPH oft in der Lage war, ihr Gesicht zu wahren, so wie es [auch] beim Februarstreik der Fall war. Niemand kann im Nachhinein das Verdienst für den Streik für sich beanspruchen. Es handelte sich um eine Aktion der gesamten Bevölkerung Amsterdams gegen die von den Nazi-Besatzern getroffenen antijüdischen Maßnahmen.


Die Fußnoten des Übersetzers

[1]Der Februarstreik war ein Generalstreik, der 2 Tage dauerte. Er fing in Amsterdam am 25. Februar 1941 an und breitete sich auf andere Teile des Landes aus (Zaandam, Haarlem, Utrecht, Hilversum, Velsen).
[2]Nicht nur in den Niederlanden wurden und werden falsche Informationen weit verbreitet, leider trifft das auch auf Wikipedia zu, wo man irreführende Informationen über den Streik finden kann (siehe Wikipedia-Artikel).
[3]Maurice Ferares wurde 1922 in Amsterdam geboren. Im Dezember 1940 trat er in die Kommunistische Partei ein. Unmittelbar nach dem Krieg erfolgte sein Eintritt in die niederländische Sektion der Vierten Internationale (RCP). Er ist der einzige Überlebende seiner Familie. Maurice Ferares ist noch immer politisch aktiv und schreibt auch Poesie.
[4]Die Marx-Lenin-Luxemburg-Front, manchmal auch als Dritte Front bekannt, wurde gegr&uum;ndet, nachdem die RSAP am 14. Mai 1940 für illegal erklärt wurde und existierte bis zur ersten Hälfte 1942. Die Nazis verhaftete die gesamte Führung im März 1942 und richtete sie allesamt am 13. April 1942 hin. Die Führung bestand aus Sneevliet, Dolleman und Menist.
[5]Henk Sneevliet (1883-1942): der wichtigste Führer der RSAP (https://de.wikipedia.org/wiki/Henk_Sneevliet)
[6]Willem Dolleman (1894-1942): Mitglied der kleinen "roten" Gewerkschaft Nationaal Arbeids-Secretariaat (NAS,), seit 1912 Mitglied der SDP (die sich in 1902 von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) abgespaltet hatte) und Vorläufer der CPH war. Er war Mitglied dieser Partei bis 1927. Mitbegründer des RSV (Revolutionär-Sozialistischer Verband) 1927, der Revolutionären Sozialistischen Partei im Jahre 1929 und der RSAP im Jahr 1935. In der MLL-Front, befürwortete er weiter Trotzkis Position zur Verteidigung der UdSSR.
[7]Ab Menist (1896-1942): eigentlich Abraham Menist, war aktiv in der "roten" Gewerkschaft Nationaal Arbeids-Secretariaat (NAS), war Mitglied des CPH‘s von 1920 bis 1927. Mitbegründer des RSV (Revolutionär-Sozialistischer Verband) 1927, der Revolutionären Sozialistischen Partei 1929. Ab Menist war ein wichtiger Führer der RSAP und wurde in den Stadtrat von Rotterdam und den Provinzrat Süd-Holland gewählt. Nach der Nazi-Invasion war er Herausgeber der illegalen Veröffentlichungen der MLL-Front und war bis zu seiner Verhaftung für die Organisationsstruktur verantwortlich.
[8]Dieser Aufruf erschien in Flyers und auf Aufkleber. Daneben wurde er auch abgedruckt in “Spartakus”.
[9]Revolutionair-Socialistische Arbeiderspartij (RSAP) (Revolutionär-Sozialistische Arbeiterpartei) resultierte 1935 aus einer Fusion der Revolutionär-Sozialistischen Partei und der Unabhängigen Sozialistischen Partei (OSP - Onafhankelijke Socialistische Partij). Die OSP wurde im März 1932 gegründet, nachdem der linke Flügel der sozialdemokratischen SDAP diese nach einem Kampf über ihre demokratischen Rechte verlassen hatte.
[10]Jedes Jahr gedenkt das Sneevliet Herdenkingscomité allen Führungsmitgliedern der RSAP zu der Zeit als sie ermordet wurden. (http://sneevlietherdenking.nl/, nur auf Niederländisch).
[11]Piet Nak (1906-1996): geboren in einer typischen Arbeiterfamilie in Amsterdam. In den dreißiger Jahren Eintritt in die CPN, Straßenreinigungsarbeiter. Nach dem Streik verhafteten ihn die Deutschen die nicht wussten, dass er einer seiner Initiatoren war und sie ließen ihn gehen. Er fuhr fort, die illegale Zeitung der CPN zu drucken und zu verteilen, wurde erneut verhaftet, aber schaffte es, seine Aktivitäten zu verbergen. Nach dem Krieg, mit einer permanenten Behinderung, ein Ergebnis der Befragung durch die Nazis, wurde er von der Stadtverwaltung entlassen und sah sich gezwungen, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu sichern, Magier zu werden. In 1958 wurde er, zusammen mit anderen Mitgliedern der sogenannten Brug-Gruppe (Brug, Brücke, war der Name ihre Zeitung) aus der CPN ausgeschlossen. Jahrelang wurden er und seine Genossen während der Gedenkfeier zum Streik durch die anwesenden CPN-Leute ausgepfiffen. Nak lehnte eine Instrumentalisierung des Streikes ab.
[12]Willem Kraan (1909-1942): Straßenarbeiter, Mitglied der CPN, wurde am 16. November 1941 verhaftet und am 19. November 1941 mit 32 anderen Gefangenen durch die Nazis ermordet.
[13]Die Kommunistische Partei Hollands, die unter diesem Namen international bekannt war, änderte ihren Namen in Kommunistische Partei der Niederlande auf einem Parteitag im Dezember 1935.
[14]Die Vereniging Nederland-UdSSR nannte sich zuerst Vereniging Vrienden der Sovjet-Unie (VVSU) bis zur zweiten Hälfte des Jahres 1941. Sie wurde 1931 gegründet, 1941 verboten und 1947 wieder aufgebaut.
[15]De Waarheid (Die Wahrheit); illegale Zeitung der CPN, die erste Nummer erschien im November 1940 und denunzierte den Krieg als einen interimperialistischen Krieg. Während des Krieges wurde sie weiter publiziert. Die erste legale Nummer erschien in Mai 1945. Die letzte Ausgabe erschien im April 1990, ein paar Monate nach dem die CPN sich selber aufgelöst hatte.
[16]Huib van Lith (1909—1977): Bildhauer und Medailleur, half dem Widerstand und versteckte mehrere seiner jüdischen Freunde.
[17]Cor Basart (1925—1991): Maler und Grafiker, half bei der technischen Vorbereitung der illegalen CPN Presse.
[18]Cor van Teeseling (1915—1942): Künstler, Anfang 1941 Mitglied der CPN, half bei der Produktion ihrer illegalen Presse. Er wurde im August 1941 verhaftet und am 19. November 1942, zusammen mit 32 anderen Gefangenen, unter ihnen auch Willem Kraan, von den Nazis erschossen.
[19]Die Familie Dekker war eine Arbeiterfamilie aus Amsterdam, die dem Widerstand half.